Die Neuerfindung des Fliegens

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"Man muss genau hinsehen", weiß auch Wolfgang Send, wissenschaftlicher Betreuer des SmartBird-Projektes. Send, bis 2009 als Aerodynamiker beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Göttingen, beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit der Physik des Vogelflugs. "Wer einen Vogel beim Fliegen beobachtet, sieht zunächst nur die Schlagbewegung der Flügel. Wenn man aber genau hinschaut, erkennt man auch eine Drehbewegung der Flügel. Diese Drehung bewirkt, dass der Auftrieb der schlagenden Flügel in einen Vortrieb umgewandelt wird", erklärt Send. Doch die "ziehende Wirkung" der schlagenden und sich drehenden Flügel ist bis heute wenig erforscht worden, weil die technische Umsetzung als zu kompliziert galt.

In den vergangenen Jahren interessierten sich neben Flug-Enthusiasten hauptsächlich Militärs für die Möglichkeiten, die biologisch inspirierte Flugapparate bieten könnten. Vor allem US-Forschungsgruppen arbeiten an elektronischen Fliegen und Vögeln. Im Frühjahr 2011 sorgte das Unternehmen Avinc mit der Veröffentlichung von Videos für Furore, die eine Art elektromechanischen Kolibri im Freiflug vor einer Halle zeigen. Technische Einzelheiten zum "Nano Hummingbird" sind jedoch nicht veröffentlicht – lediglich eine umfangreiche Patentschrift ist beim US-Patentamt einsehbar.

Immerhin: Aus der spärlichen wissenschaftlichen Literatur wusste Send, dass die Frage des Vogelflugs zumindest in der Theorie geklärt war: Bereits 1922 hatte der junge Physiker Walter Birnbaum die grundlegenden Gleichungen in seiner Dissertationsschrift "Das ebene Problem des schlagenden Flügels" aufgestellt. "Die Theorie ist natürlich relativ anspruchsvoll", schränkt Send ein. "Aber es steckt alles in den Gleichungen drin. In dem Moment, in dem ich die Tragfläche aktiv in der richtigen Art und Weise durch einen Aktuator verdrehe, bin ich in der Lage, den Wirkungsgrad drastisch zu erhöhen. Es geht im Kern also eigentlich nur darum, ein Fluggerät zu bauen, bei dem ich diese Torsion wirklich ansteuern kann."

Nur darum? Das Problem entpuppte sich in der Praxis als ausgesprochen hartnäckig. "Die Frage war doch: Muss das Umstellen vor- oder nachlaufen relativ zum Flügelschlag?", erzählt Markus Fischer, Projektleiter und Koordinator des SmartBird-Projektes. Um diese und andere Fragen zu beantworten, griff das SmartBird-Team auf historische Vorbilder zurück: Parallel zum künstlichen Vogel konstruierten sie eine Art Karussell, an dem der bereits flugfähige Kunstvogel befestigt wurde. Ausgestattet mit einer Vielzahl von Messinstrumenten, musste der Prototyp am Karussellarm mit seiner Schubkraft seinen Strömungswiderstand überwinden. Über Monate hinweg wurden die Parameter wie etwa der optimale Torsionswinkel und der Zeitpunkt der Drehung relativ zum Flügelschlag im "Rundlauf" optimiert.

Das Ergebnis kann sich im Wortsinn sehen lassen: Vorsichtig, fast zärtlich hebt Fischer den SmartBird über seinen Kopf, nickt dem neben ihm stehenden Rainer Mugrauer zu, gibt der nun flatternden Maschine einen kleinen Stoß und lässt sie los. Mugrauer, als Modellbauer zuständig für die Umsetzung der wissenschaftlichen Pläne, steuert den Vogel per Fernbedienung. Mit ihren zwei Metern Spannweite erreicht die Möwe beeindruckende Maße, dreht aber dennoch – bis auf ein leichtes Quietschen der Mechanik – nahezu lautlos ihre Kreise im sonnendurchfluteten Atrium des Festo-Hauptquartiers.

Um das zu erreichen, sind die Flügel des SmartBirds zweigeteilt: Sie bestehen aus Armflügeln mit einer Achsaufnahme am Rumpfaustritt und Handflügeln im äußeren Drittel. Der Ablauf des Schwingenflugs besteht aus zwei Bewegungen: Die Armflügel schlagen auf und ab, und dabei verdreht sich der Handflügel. Durch die Kombination dieser Bewegungen entwickelt der künstliche Vogel Auftrieb und Vortrieb zugleich: Der Armflügel erzeugt den Auftrieb, der Handflügel den Vortrieb.

Unter der silbern schimmernden Kunststoffhaut steckt ein filigranes elektromechanisches Innenleben: Ein Getriebe aus drei CFK-Zahnrädern im Zentrum der Maschine überträgt die Drehung des Elektromotors in die Schlagbewegung der Flügel. Die Torsion für den Vortrieb erzeugt ein kleiner Servomotor am Ende des Armflügels. Gesteuert wird der Vogel durch synchrone Gewichtsverlagerungen im Kopf und Rumpf sowie durch den Schwanz, der als Höhen- und Seitenruder fungiert.

Wer begreifen will, wie Festo dieses Projekt zum Erfolg gebracht hat, kommt an Markus Fischer nicht vorbei. Fischer, eigentlich Leiter der Abteilung Corporate Design bei Festo, ist zugleich der Chefkoordinator des "Bionic Learning Network" – einem Forschungsverbund von Festo mit wechselnden Hochschulen, Instituten und Entwicklungsfirmen. Dabei ist Fischer weder Ingenieur noch Naturwissenschaftler. Er hat vielmehr schlicht Werkzeugmacher gelernt und später Architektur studiert, bevor er bei Festo anfing. Fischer, der im korrekten dunklen Business-Anzug auftritt, mit weißem Hemd, geschmackvoller Krawatte und schmaler Brille, spricht ruhig, leise und bedächtig. Alles an ihm erscheint wohlgeordnet, seine Sätze fließen sorgsam und überlegt. Dass dieser Mann mit einem Entwicklerteam leidenschaftlich über konstruktive Details streitet, kann man sich kaum vorstellen.

Aber Fischer scheint einen unbestechlichen Blick für das Wesentliche zu haben. Davon zeugt nicht nur das durchgestylte Interieur der Festo-Zentrale, in der sogar die Bestuhlung im Atrium dem Corporate Design des Konzerns entspricht: Wie unabsichtlich hingetupft sind in den silbergrauen Stuhlreihen einzelne blaue Stühle verteilt. Für die Reduktion auf das Notwendige spricht auch die ungewöhnlich kurze Entwicklungszeit von weniger als zwei Jahren, die zwischen dem ersten Konzept und dem fertigen Modell des SmartBird liegen.