Die Rattenfänger aus dem Silicon Valley

Experten warnen: Mit ausgeklügelten psychologischen Tricks verwandeln soziale Netze insbesondere Teenager in sozial isolierte, einsame, depressive Smartphone-Abhängige. Ist tatsächlich eine ganze Generation in Gefahr?

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Inhaltsverzeichnis

Jean Twenge macht sich Sorgen. Die Psychologin von der San Diego State University erforscht seit mehr als 20 Jahren Unterschiede zwischen verschiedenen Generationen. Nun fürchtet sie um das Wohl einer ganzen Generation, die im wahrsten Sinne des Wortes dem Smartphone zum Opfer fallen könnte.

Ja, dem Smartphone. Nicht der wachsenden Gewalt auf amerikanischen Straßen, nicht dem zunehmenden Autoverkehr und auch nicht der Schmerzmittel-Epidemie, die gerade über die USA hinwegfegt, sondern dem Computer in ihrer Hosentasche. In einem Aufsatz, der im November 2017 in der Fachzeitschrift "Psychological Science" erschienen ist, zeichnet Twenge gemeinsam mit Kollegen der San Diego State University und der Florida State University ein dramatisches Bild: Zwischen 2010 und 2015 sei die Selbstmordrate von Mädchen zwischen 13 und 18 Jahren um 65 Prozent gestiegen.

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Die Zahl der Mädchen, die Symptome der Selbstmordgefährdung zeigen – über Selbsttötung nachdenken, sie konkret planen oder versucht haben, sich umzubringen – ist um 12 Prozent gestiegen. Gleichzeitig habe die Zeit, die Teenager zwischen 2010 und 2015 pro Tag in sozialen Netzen verbringen, rapide zugenommen. Diese Tatsache "könnte für den Zuwachs an Selbstmorden und depressiven Symptomen verantwortlich sein" schreiben die Autoren – vorsichtig – in dem Paper. Denn andere mögliche Ursachen wie die wirtschaftliche Lage und die Entwicklung der Arbeitslosigkeit zeigten keine zeitliche Korrelation.

Weniger diplomatisch war Twenge in ihrem kurz zuvor herausgegebenen Buch "iGen". Der Untertitel könnte kaum deutlicher sein: "Why Today's Super-Connected Kids Are Growing Up Less Rebellious, More Tolerant, Less Happy and Completely Unprepared for Adulthood – and What That Means for the Rest of Us" (im Mai kam eine deutsche Ausgabe). "Was geschah 2012, um solch dramatische Verhaltensänderungen herbeizuführen?", schreibt sie. "Es war nach der Großen Rezession, die offiziell von 2007 bis 2009 dauerte und einen starken Einfluss auf die Generation der Millennials hatte, die versuchen musste, ihren Platz in einer stotternden Wirtschaft zu finden. Aber es war genau der Moment, als der Anteil der Amerikaner, die ein Smartphone besaßen, 50 Prozent überstieg."

Die Generation der zwischen 1995 und 2012 geborenen Kinder, die "iGen", wuchs als erste komplett mit Smartphones und sozialen Netzen auf. Sie kennen kein Leben ohne diese Kommunikationsmittel. Doch obwohl diese Heranwachsenden Tag und Nacht mit Freunden digital verbunden sind, sieht Twenge eine "einsame, dislozierte Generation" heranwachsen. Teenager, die jeden Tag Social-Networking-Sites besuchen, aber ihre Freunde immer seltener persönlich sehen, stimmen in Umfragen immer öfter Aussagen zu wie: "Oft fühle ich mich einsam", "Ich fühle mich oft ausgeschlossen" und "Ich wünsche mir oft, dass ich mehr gute Freunde hätte". Wenn Twenge mit ihrer Diagnose recht hat, dann ist die Entwicklung in der Tat bedenklich. Denn das Gefühl, allein zu sein, ist nicht nur unangenehm, sondern auch ziemlich ungesund: Eine schlechte Qualität der sozialen Beziehungen erhöht die Wahrscheinlichkeit eines frühen Todes um 26 Prozent. Zu diesem Schluss kam John Cacioppo von der University of Chicago im Jahr 2010 nach einer Meta-Analyse von fast 150 Studien. Das Gesundheitsrisiko von Einsamkeit sei damit vergleichbar mit chronischer Fettleibigkeit oder Rauchen, so Cacioppo.

Robin Dunbar von der University of Oxford wundert der Zusammenhang nicht. Während des Kontakts mit anderen Menschen werden körpereigene Opioide ausgeschüttet, die normalerweise helfen, Schmerzen zu unterdrücken, aber auch euphorische Gefühle als Belohnung für bestimmte Verhaltensweisen auslösen – "was wiederum eine soziale Bindung erzeugt", sagt der Evolutionsbiologe. Dafür sei allerdings physischer Kontakt wichtig, zumindest für enge Beziehungen. "Hier verhalten wir uns immer noch weitgehend wie Affen", so Dunbar. Diese lausen sich gegenseitig. Menschen hätten zwar gelernt, diesen Effekt auch ohne Berührung zu erzeugen – über Lachen, Singen, Tanzen oder gemeinsamen Alkoholgenuss. "Verglichen mit Beziehungen auf der Basis von Berührungen sind sie jedoch zweitrangig", sagt Dunbar. "Man kann kein Gefühl von Vertrautheit herstellen, indem man nur Informationen austauscht." Soziale Netzwerke würden daher nur eine Illusion von Freundschaft erzeugen. "Enge Beziehungen", sagt Dunbar, "beruhen auf physischem Kontakt, auf der sprichwörtlichen Schulter, auf der man sich bei Bedarf ausweinen kann."

Umso erstaunlicher, dass Twenge in ihrem Paper von Jugendlichen berichtet, die täglich fünf oder mehr Stunden vor dem Bildschirm mit dem Konsum "neuer Medien" verbringen – obwohl sie eigentlich echten, physischen Kontakt bräuchten. 48 Prozent dieser Teenager, schreibt sie, zeigten Symptome von Selbstmordgefährdung. Bei den Teenagern, die im Schnitt eine Stunde pro Tag online sind, sind es immerhin noch 28 Prozent. "Wir können uns zwar nicht sicher sein, dass der vermehrte Gebrauch von Smartphones für diese Zunahme von psychologischen Problemen verantwortlich ist", sagt Twenge. "Aber das war die bei Weitem gravierendste Änderung im Leben von Teenagern zwischen 2010 und 2015."

Eine mögliche Erklärung für das paradoxe Verhalten liefert Dunbar: "Face-to-Face-Interaktion ist eine schwierige Sache, weil man immer das Risiko eingeht, zurückgewiesen zu werden." Wenn möglich, gehen Menschen ihr gern aus dem Weg. Und das Internet macht dies einfacher als je zuvor. "Das erklärt, warum die Generation, die mit dem Internet aufgewachsen ist, sich mit dieser Kommunikation wohler fühlt", glaubt Dunbar. Aber es gibt noch eine zweite Erklärung, und sie stammt ausgerechnet von den Schöpfern der Entwicklung selbst.

Eine wachsende Zahl von Aussteigern – ehemalige Investoren und Entwickler aus dem Silicon Valley – sagt: Es ist eine Sucht. Und soziale Netzwerke sind gewissermaßen die Dealer. Mit raffinierten psychologischen Tricks würden ihre Designer die Gehirne der User regelrecht "hacken" und die jugendlichen Nutzer geradezu abhängig machen.

Sean Parker etwa, Napster-Mitbegründer und als erster Präsident von Facebook maßgeblich am Erfolg des Netzwerks beteiligt, kritisierte auf einer Podiumsdiskussion Facebook als ein Produkt, das sich "die Verletzlichkeit der menschlichen Psyche zunutze macht" und von dem "nur Gott weiß, was es mit den Gehirnen unserer Kinder anstellt". Justin Rosenstein, Entwickler des "Like"-Knopfes von Facebook, verglich den Dienst öffentlich mit Heroin und empfahl den Gebrauch von sozialen Netzen durch technische Maßnahmen einzuschränken. Nir Eyal, der mit "Hooked" eines der wichtigsten Bücher über die grundlegenden Techniken des "Persuasion Design" geschrieben hat, warnte jüngst auf einer Tagung zum Thema davor, die Methode zu missbrauchen.

An der Spitze dieser Bewegung von Software-Häretikern stehen zwei ehemalige Google-Mitarbeiter: Tristan Harris und James Williams haben gemeinsam die Initiative "Time Well Spent" gegründet, um nicht nur zu kritisieren, sondern tatsächlich etwas zu ändern. Sie wissen um das Gegenargument, das jede Kritik an neuen Medien begleitet. "Wenn die einen sagen: Diese Technologie zerstört eine ganze Generation. Dann halten andere dagegen: Skeptiker haben das für jedes neue Medium behauptet – Bücher, Radio, Fernsehen – und nichts ist passiert", sagt Williams. Dennoch sind beide überzeugt, dass eine gesellschaftliche Diskussion darüber nötig ist, "welches Ausmaß an psychologischer Manipulation so akzeptabel ist, dass man darauf ein Geschäftsmodell begründen kann", so Harris.

Die Methoden der "psychologischen Manipulation", die Harris und seine Mitstreiter so heftig kritisieren, beruhen zu großen Teilen auf Erkenntnissen der behavioristischen Psychologie. Diese Schule wurde besonders in den USA in den 1950er-Jahren dominant. Ihre Vertreter weigerten sich, "unwissenschaftlich" über das Innenleben ihrer Forschungsobjekte – ganz gleich ob Mensch oder Tier – zu spekulieren. Sie wollten objektiv messen, wie Lebewesen auf bestimmte äußere Bedingungen reagieren. Der berühmteste unter ihnen – und gleichzeitig einer der radikalsten Vertreter dieser Schule – ist bis heute Burrhus Frederic Skinner von der Harvard University. Der Psychologe interessierte sich besonders für Konditionierung, also für das Lernen von bestimmten Verhaltensweisen unter den richtigen Bedingungen.

Michael Zeiler von der Emory University Atlanta, Georgia, führte 1971 ganz ähnliche Versuche mit Tauben durch. Dabei machte er eine spektakuläre Entdeckung: Die Tauben pickten öfter und länger auf den Futterknopf, wenn der Futtermechanismus nur in 50 bis 70 Prozent der Fälle Futter ausspuckte. Gab der Mechanismus nur in zehn Prozent der Fälle Futter, gaben die Tauben schnell entmutigt auf.

Dass dieses Prinzip der "Verhaltensänderung durch unmittelbare, variable Belohnungen" auch bei Menschen funktioniert, lässt sich zum Beispiel bei Glücksspielautomaten beobachten. Einige Experten halten den Mechanismus gar für suchtauslösend. "Es geht darum, in der richtigen Art und Weise mit dem Belohnungssystem des menschlichen Gehirns zu interagieren", sagt Ex-Google-Mitarbeiter Williams. "Es geht um den Kick der Überraschung. Wenn die Belohnung zufällig verteilt ist, bleiben wir länger dabei und wiederholen das auslösende Verhalten öfter." Der bekannte Mechanismus des "nach unten Ziehens" auf Smartphones, um die aktuellsten Inhalte von Twitter oder Facebook zu laden, funktioniere genau nach diesem Prinzip, erklärt er. "Für das Gehirn ist das so, als ob Sie an einem Glücksspielautomaten für Informationen sitzen."

Hinzu kommen ihm zufolge zahlreiche andere psychologische Mechanismen, die uns möglichst lange binden sollen. Bei den "Streaks" auf Instagram etwa posten User Bilder von Aktivitäten, die sie jeden Tag über einen langen Zeitraum durchhalten – jeden Tag fünf Meilen joggen zum Beispiel. Ihre Popularität beruht Williams zufolge auf einer Kombination von Gruppendruck und dem starken Bedürfnis von Menschen, sich konsistent zu verhalten, also einmal öffentlich abgegebene Verpflichtungen möglichst einzuhalten.