Die Wüste lädt

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Auch die Kontrollinstanz der autonomen Zukunft macht nicht viel her: ein zweistöckiges rotes Bürogebäude mit einem fensterlosen Besprechungsraum mit den üblichen Ledersesseln um einen überdimensionalen ovalen Tisch. Werden hier die Unterlagen als ausreichend angesehen, folgt ein paar Wochen später eine kurze Testfahrt. Bislang wurde noch kein Antrag abgewiesen. "Wo sie fahren, wie viel sie fahren, was sie genau testen – das ist einzig und allein Angelegenheit der Unternehmen", sagt Hurin.

Ganz anders in Kalifornien, das strenge Dokumentationspflichten auferlegt hat und deswegen von Firmen wie Google als zu restriktiv kritisiert wird. "Wir haben uns mit ungewöhnlich viel Freiraum zur Erprobung eine Nische geschaffen", erklärt Hurin. Damit könnte Nevada auch als landesweites Vorbild taugen. Die Zulassung autonomer Fahrzeuge ist in den USA nämlich Ländersache, was schlimmstenfalls zu 50 unterschiedlichen Regelungen führen kann.

Bislang haben aber nur drei weitere Staaten eigene Gesetze erlassen. Die für Fernverkehr zuständige Bundesbehörde NHTSA wird frühestens diesen Sommer ein Modellgesetz formulieren, das einzelne Staaten übernehmen könnten. Oder sie können sich bei Nevada Rat holen, wie man das Thema immer noch einen Tick weiter dreht. So plant Hurins Behörde, im Juli einem ungenannten Hersteller aus Colorado eine Lizenz zu erteilen, die von keiner der gegenwärtigen Regeln abgedeckt ist: Erstmals sollen Gelähmte ein autonomes Fahrzeug benutzen. "Das wird Wellen machen", freut sich Hurin.

"Wir werden eine Kampagne starten, um die Öffentlichkeit darauf einzustimmen, dass wir hier Neuland betreten." Ein Hersteller mit reichlich Nevada-Erfahrung ist Daimler. Die Schwaben schickten bereits drei selbstfahrende E-Klasse-Limousinen rund um Las Vegas sowie einen autonomen Lkw der Marke Freightliner beim Hoover Dam auf die Straße. "Nevada bietet mehrere Vorteile", resümiert Michael Hafner, der für Assistenzsysteme und aktive Sicherheit verantwortlich ist: die Nähe zum Silicon Valley sowie aufgeschlossene Politiker.

Auf den leeren Straßen Nevadas kann Daimler ungestört testen, wie seine Software mit amerikanischen Fahrbahnmarkierungen (gelb), Asphalt (hellgrau), Ampeln (über den Kreuzungen oder auf der anderen Straßenseite) sowie weniger Leitplanken klarkommt. Allein die Fahrt zwischen den zwei einzigen nennenswerten Städten Reno und Las Vegas ist eine 700 Kilometer lange Tour der Langeweile. Für Abwechslung – und als zusätzliche Aufgabe für autonome Fahrzeuge – sorgen immerhin unzählige Lkw und gewaltige Wohnmobile, die meist auch noch einen Jeep hinter sich herziehen. Außerdem passt es gut, dass jeden Januar die Welt auf Las Vegas schaut, wenn zur Elektronikmesse CES mehr als 170.000 Besucher, Investoren und Trendscouts in die Stadt einfallen. Das Leitthema in diesem Jahr war nicht ohne Grund das vernetzte Automobil.

Nur eines hat Daimler bislang ebenso wenig vor wie andere Hersteller: Die in Nevada erhobenen Daten auch dort auszuwerten oder sich mit örtlichen Hochschulen zusammenzutun, um die Systeme weiterzuentwickeln. Das soll sich bald ändern, denn der Bundesstaat arbeitet mit Hochdruck daran, renommierte Akademiker aus dem Ausland anzulocken. So hob Gouverneur Brian Sandoval anlässlich der CES Anfang 2016 ein "Center for Advanced Mobility" aus der Taufe, das an der Universität von Nevada in Las Vegas beheimatet sein wird.

"Wir stehen bei den Themen noch ganz am Anfang, doch in ihnen steckt Wachstum auf Jahrzehnte hinaus", sagt Karsten Heise. Der deutsche Investmentbanker zog vor vier Jahren von Peking hierher. Als "Technology Commercialization Director" des Bundesstaates soll er Strategien entwickeln, wie man bei der Forschung, Entwicklung und Kommerzialisierung von Zukunftstechnologien mehr Gas geben kann. Dazu hat die Legislative einen "Knowledge Fund" mit 20 Millionen Dollar aufgelegt. Heise kann daraus Tranchen zwischen einer halben und 2,5 Millionen Dollar an Professoren, Start-ups oder Industriepartner vergeben.

Zu den Empfängern zählen zwei hochkarätige Neuzugänge an der Universität in Reno (UNR), der einzigen nennenswerten Stadt im Norden Nevadas mit 225000 Einwohnern. Der ehemalige Eisenbahnknotenpunkt am Rande der Sierra-Gebirgskette machte kurzzeitig als Anlaufstelle für Gold- und Silbergräber von sich reden und etablierte sich außerdem als Paradies für extrem liberale Scheidungen. Doch als Glücksspiel-Eldorado hat die Stadt schon lange gegen Las Vegas verloren. Seine Casinos sind zweite Liga, und die Stadt kämpft sichtbar mit vielen heruntergewirtschafteten Vergnügungsstätten direkt im Zentrum, vor denen Obdachlose campieren.

Da klingt das Motto der "größten Kleinstadt der Welt", das als denkmalgeschützte Leuchtreklame über der Hauptstraße glitzert, schon fast wie bittere Selbstironie. Als die Rezession Nevada besonders hart traf, wagten die Stadtväter den Kurswechsel. Sie setzten auf Tech-Firmen und Wissensarbeiter, die aus dem benachbarten und vor allem teuren Kalifornien vertrieben werden. Den Anfang machten Logistikzentren, von denen sich über Nacht die Ballungsgebiete an der Küste bedienen lassen.

Renos Hochschule ist mit ihren 21000 Studenten zu einer der wichtigsten Triebkräfte dieser Renaissance geworden. Bei ihrer Gründung 1874 war sie auf Ingenieurwissenschaften und Bergbau ausgerichtet. Heute sind auf dem weitläufigen Campus direkt nördlich der Innenstadt moderne Fachbereiche entstanden, die sich mit Robotik, Erdbebenforschung und Lasern befassen. Die Uni kann sich rühmen, mit Raúl Rojas einen der prominentesten Forscher für autonomes Fahren an Land gezogen zu haben. Der gebürtige Mexikaner teilt seit zwei Semestern seine Zeit zwischen der FU Berlin und Reno auf. Vergangenen Herbst machte er Schlagzeilen, als er einen VW Passat autonom 2400 Kilometer durch Mexiko fahren ließ.

Jetzt hat Rojas Größeres vor, und Heises Büro fördert ihn zunächst einmal mit einer halben Million. "Ich will innerhalb eines Jahres in Reno ein autonomes Auto bauen, um es in einer richtigen, lebendigen Stadt wie Mexiko City fahren zu lassen. Mit Software, welche die Intention anderer Verkehrsteilnehmer, allen voran Fußgängern, erkennt", sagt Rojas. "Alle beschäftigen sich mit autonomem Fahren auf der Autobahn, aber kaum einer mit städtischem Fahren. Das werden wir leisten."