Die helfende Hand: KI muss kein Jobkiller sein

Seite 2: Medizinische Diagnosen auf Knopfdruck

Inhaltsverzeichnis

Medizin und Gesundheitsversorgung gelten als Gebiete, in denen der Einsatz von KI-Systemen besonders viel bringen soll. Denn kein Arzt kann sämtliche Paper zum medizinischen Fortschritt im Blick behalten und nicht selten kommen drei Ärzte zu drei Diagnosen. KI-Systeme können Datenbanken durchforsten oder in sogenannten Klinischen Entscheidungssystemen eine Diagnose vorschlagen. Was in westlichen Ländern allmählich Einzug hält, ist für Länder des Globalen Südens bis auf Weiteres unerschwinglich, obwohl der Einsatz solcher Systeme in der dort oft lückenhaften Gesundheitsversorgung ein Segen wäre. Umso interessanter ist das System "Brilliant Doctor", das im Pekinger Stadtbezirk Pinggu Anfang 2019 eingerichtet wurde.

Obwohl im Nordosten der weitläufigen Metropole gelegen, ist Pinggu ein ländlicher Stadtbezirk, in dem auf einer Fläche, die etwas größer als Berlin ist, nur 420.000 Menschen leben. 18 Landkrankenhäuser gibt es dort, die für die Bevölkerung die Funktion von Hausärzten übernehmen, aber nur schlecht ausgestattet sind. Pinggu ist mit dieser eher rudimentären Gesundheitsversorgung zugleich ein modellhafter Feldversuch für andere Länder im Globalen Süden.

Ob Brilliant Doctor funktioniert, hat im Sommer 2019 ein achtköpfiges Team um Dakuo Wang von IBM Research in einer Studie mit 22 Ärzten untersucht, die mit dem Klinischen Entscheidungssystem arbeiten. Entwickelt wurde es ursprünglich vom KI-Startup Zuoshouyisheng.com und kurz nach der Studie an den chinesischen Google-Konkurrenten Baidu verkauft.

Brilliant Doctor soll Ärzte mit vier Elementen unterstützen: einer elektronischen Patientenakte, einem fragenbasierten Diagnosemodul, einer medizinischen Suchmaschine sowie einem Modul, das anhand der Symptome vergleichbare Fälle in einer Datenbank sucht. Das Diagnosemodul schlägt, wenn der Arzt es mit Symptomen gefüttert hat, drei Krankheiten vor, an denen der Patient leiden könnte und liefert zu diesen auch einen Wahrscheinlichkeitswert mit.

"Die Reaktionen der interviewten Ärzte waren gemischt", sagt Dakuo Wang. Während das Potenzial von Brilliant Doctor von den Befragten anerkannt und vor allem die medizinische Suchmaschine und das Nachschlagen vergleichbarer Fälle gelobt wurden, gab es etliche Kritikpunkte. Weil die Wartezimmer in den Kliniken chronisch voll sind, bleibt den Ärzten kaum Zeit, das Diagnosemodul mit eingetippten Informationen zu füttern. Ein Befragter in Pinggu argwöhnte angesichts der Vielzahl an Fragen gar, dass "das System wohl designt wurde, um Ärzte zu ersetzen". Diese Befürchtung ist von Ärzten, auch im Westen, seit Jahren zu hören und könnte mit erklären, warum die Akzeptanz von Diagnosesystemen bislang eher verhalten war.

Beklagt wurde zudem, dass es kein adäquates Training mit Brilliant Doctor gegeben habe. Die Benutzeroberfläche empfanden die Befragten als unausgereift, ebenso, dass im Diagnosemodul keine Fragen übersprungen werden konnten, wenn diese nicht relevant waren. Vor allem die Chirurgen unter ihnen waren unzufrieden: "Die Symptome, die es erkennen und vorschlagen kann, gehören überwiegend zur Inneren Medizin."

Dakuo Wang ist dennoch verhalten optimistisch: "Ich glaube schon, dass KI ein großes Potenzial hat, bestehende klinische Entscheidungssysteme zu erweitern." Dafür müssten sie aber noch viel stärker an den lokalen Kontext und die Bedürfnisse der Nutzer, sprich der Ärzte, angepasst werden.

Wer an Künstliche Intelligenz am Arbeitsplatz denkt, wird gewiss nicht einen Hochofen in einem Stahlwerk vor Augen haben. Für Menno van der Winden ist die Stahlproduktion hingegen ein Anwendungsfeld par excellence. "Unsere Industrie hat über hundert Jahre Erfahrung in der Datenanalyse", sagt er. Denn um qualitativ hochwertigen Stahl zu produzieren, müssen in den über 30 Meter hohen Hochöfen viele Parameter stimmen. In den verschiedenen Schichten dürfen die Temperaturen bestimmte Grenzen nicht über- oder unterschreiten: In der Reduktionszone, in der Eisenoxide zu elementarem Eisen werden, liegt sie zwischen 400 und 800 Grad Celsius, in der darunterliegenden Schmelzzone bei 1.800 bis 2.000 Grad. Die Temperatur der eingeblasenen Heißluft spielt ebenso eine Rolle wie die Beimischungen von Koks und Kalkstein, die Menge an hinzugefügtem Sauerstoff, der Druck und der Feuchtigkeitsgehalt im Hochofen. All diese Parameter erlauben endlose Kombinationen. "KI ist da nur der nächste logische Schritt gewesen", so van der Winden.

(Bild: Tata Steel/Orca van Loon Communications GmbH)

Bereits 2005 begann die computergestützte Automatisierung einzelner Abläufe. So werden die sogenannten Torpedowagen, die heißen flüssigen Stahl aus der ganz unten liegenden Schmelze des Hochofens aufnehmen und möglichst schnell in eine andere Halle zur Weiterverarbeitung transportieren, mithilfe von Kameras, Sensoren und Software gesteuert. Seit 2017 ist in den neun Werkshallen des Stahlwerks Ijmuiden in den Niederlanden die Produktion um KI-Werkzeuge erweitert worden. Schrittweise hat Tata Steele ein Modell, einen sogenannten digitalen Zwilling, des Hochofens sowie anderer Prozesse, etwa in Walzwerken, entwickelt. In das Hochofen-Modell werden in Echtzeit gewaltige Datenmengen eingespeist, die aus akustischen, chemischen, Temperatur- und Vibrationssensoren sowie aus Kameras stammen. Im Laufe eines Produktionstages fallen mehr als ein Terabyte an Daten an.

In dem Hochofen-Modell berechnen Machine-Learning-Algorithmen etwa den optimalen Temperaturverlauf der verschiedenen Hochofenzonen für die folgenden sechs Stunden, in denen neue Stahlchargen mit einer bestimmten Qualität hergestellt werden sollen. Die Mischung der Zutaten wird so optimiert, dass die Rohstoffkosten sinken, während die Stahlqualität sogar zunimmt. Das Modell dient zudem als Wachhund: Droht in einem Produktionsschritt eine Instabilität, kann rechtzeitig eingegriffen werden, bevor der Betrieb womöglich für Stunden angehalten werden muss. Darüber hinaus überwachen die KI-Werkzeuge auch Energieeffizienz, Feinstaub-Entwicklung und Emissionen des Produktionsprozesses.

"Als wir das Modell entwickelt haben, waren die Stahlwerker an den Hochöfen von Anfang an mit dabei", sagt van der Winden. Denn die zum Teil jahrzehntelange Erfahrung damit, wie das Roheisen sich in der Schmelze verhält, ist unabdingbar für einen funktionierenden digitalen Zwilling. Dabei sei es nicht darum gegangen, Arbeitsplätze zu streichen, sagt van der Winden. "Geld machen wir, indem wir die Leistung unserer Hochofenarbeiter verbessern." Die wichtigsten Prozessdaten aus dem Modell können sie an Computerbildschirmen und Tabletrechnern verfolgen und so den Ablauf viel genauer steuern als zuvor.

KI ist nicht nur für Wissensarbeiter da: Im Stahlwerk Ijmuiden von Tata Steel unterstützt eine KI Stahlwerker bei der Steuerung des Hochofens.

(Bild: Tata Steel/Orca van Loon Communications GmbH)

Von der rund 9.000-köpfigen Belegschaft des Werks in Ijmuiden sind inzwischen 500 Mitarbeiter in KI-Technologien ausgebildet worden. "Wir haben eine eigene KI-Akademie am Standort aufgebaut", sagt van der Winden. Das schlägt sich auch auf das Betriebsergebnis nieder. Van der Winden schätzt, dass der jährliche operative Cashflow (EBITDA) des Werks seit Einführung der KI-gesteuerten Prozessanalyse um zehn Prozent gestiegen ist. Ein bedeutender Teil dieses zusätzlichen Gewinns geht auf Einsparungen bei den Rohstoffen zurück.