Die helfende Hand: KI muss kein Jobkiller sein

Seite 4: Erkenntnisse zum Einsatz der KI-Systeme

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Bereits an diesen Fallbeispielen lassen sich drei grundlegende Erkenntnisse für ein produktives Zusammenspiel von Mensch und KI ableiten. Die Erste zeigt der Fall Tata Steel: Es gibt kaum eine Branche, auch nicht in den klassischen Industrien, in der Hybride Intelligenz in Zukunft keine Rolle spielen wird. Wo Daten anfallen, erst recht in großen Mengen, sind Anwendungen möglich.

Die zweite Erkenntnis: Setzt man wie im Fall von Brilliant Doctor ein entsprechendes System "out of the box" den Anwendern vor die Nase, ohne diese in die Entwicklung einbezogen zu haben, wird es nicht umfassend genutzt. Diese Erfahrung haben bereits viele Unternehmen gemacht, die seit Ende der 1990er Strukturen für ein Wissensmanagement aufbauten: Da implementierte man firmeninterne Wikis und ausgeklügelte Ablagesysteme. Doch viele Mitarbeiter beteiligten sich nur zögerlich daran, relevantes Wissen aktiv in das Wissensmanagement einzupflegen. "Wissensmanagement von oben herab zu verordnen, funktioniert nicht", sagt DFKI-Forscher Heiko Maus, "es muss in die tägliche Arbeit eingebettet sein und unmittelbaren Nutzen bringen."

Drittens: Wo KI-Systeme zusammen mit Blick auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter eingeführt werden, werden sie akzeptiert. Die KI ist dann kein Konkurrent um den Arbeitsplatz, sondern ein Assistent, vielleicht auch ein Partner.

Das akzeptieren selbst die der Automatisierung gegenüber eher skeptischen Gewerkschaften. Bert Stach von der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di etwa hält es gar für möglich, dass KI-Systeme im Personalmanagement zum Beispiel dabei helfen können, diskriminierungsfreie Entscheidungen über Job-Bewerber zu treffen. Dazu muss die Technologie jedoch hinreichend reguliert werden: Die Gewerkschaft hat im März 2020 bereits eine Reihe von ethischen Leitlinien für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz veröffentlicht. Dazu gehören Beherrschbarkeit, Erklärbarkeit, bessere Gesundheit durch Arbeitsentlastung oder Transparenz der KI-Verfahren. Stach ist sich aber im Klaren darüber, dass die Herausforderungen gewaltig sind: "Die Betriebsräte allein können die Einhaltung dieser Leitlinien kaum leisten. Wir brauchen in diesem Zusammenhang für die Interessenvertretung der Beschäftigten nicht nur besondere rechtliche Beratung, sondern auch technischen Support, um Funktionsweisen der eingesetzten KI nachzuvollziehen."

Langfristig soll die Hybride Intelligenz mehr als ein Set von KI-Tools sein, das menschliche Fähigkeiten erweitert. "Die zentrale Idee von Hybride-Intelligenz-Systemen ist, dass soziotechnische Ensembles und ihre menschlichen sowie ihre KI-Teile sich zusammen weiterentwickeln [im Original: co-evolve], um besser zu werden", schreiben Dominik Dellermann und Kollegen von der Universität Kassel. Hybride Intelligenz werde in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zum "wahrscheinlichsten Paradigma für die Arbeitsteilung zwischen Mensch und KI".

Das entscheidende Stichwort lautet Koevolution von beiden in der Zusammenarbeit. Dafür muss die KI-Komponente über etwas verfügen, was die biologische Evolution dem Menschen in Jahrtausenden mitgegeben hat: ein mentales Modell von sich selbst – wer bin ich, was will ich, was kann ich, was kann ich (noch) nicht? Und ein mentales Modell von anderen Beteiligten, eine "Theory of Mind" der menschlichen Arbeitspartner, ihrer Werte, ihrer Fähigkeiten. "Ein KI-Agent könnte dann beispielsweise feststellen, dass ein Team-Mitglied zu müde für eine bestimmte Aufgabe ist und diesem Unterstützung anbieten", schreibt ein Informatikerteam um Karel van den Bosch von der niederländischen Forschungsagentur TNO.

Über derartige mentale Modelle, die an ihre biologischen Gegenstücke heranreichen, verfügen heutige KI-Systeme noch nicht. Wie rudimentär die Interaktion von Roboter, Software-Agent und Mensch noch ist, zeigen Videos des DFKI in Bremen zu dem Projekt HySociaTea, das die Zusammenarbeit hybrider Teams aus Menschen, Robotern und Software-Agenten erforscht. Das Team operiert gleichsam in Zeitlupe, um eine einfache Aufgabe zu bewältigen. Angesichts dessen erscheinen die Kassandra-Rufe von Frei und Osborne oder von Harari, der Mensch könne überflüssig werden, doch in einem anderen Licht.

(lca)