Energiewende auf Chinesisch

Um den ständig steigenden Energiebedarf des Landes zu befriedigen, setzt China auf einen rasanten Ausbau der Atomenergie. Die Atomkatastrophe von Fukushima hat daran nicht viel geändert.

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Von
  • Marcel Grzanna
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Um den ständig steigenden Energiebedarf des Landes zu befriedigen, setzt China auf einen rasanten Ausbau der Atomenergie. Die Atomkatastrophe von Fukushima hat daran nicht viel geändert.

Es ist Donnerstag, der 17. März, als am frühen Vormittag das Mobiltelefon des Pekinger Imbissbesitzers Ge Yingshu rappelt. Aus der Leitung dringt die aufgeregte Stimme seines Schwagers. Ge solle alles stehen und liegen lassen und sich sofort auf den Weg machen, um Salz zu kaufen – um jeden Preis, so viel wie möglich: "Ab kommenden Monat wird es kein Salz mehr geben." Denn herkömmliches Speisesalz, erfährt Ge, solle wegen seines Jodanteils einen wirksamen Schutz gegen Radioaktivität bieten, die möglicherweise vom havarierten Kernkraftwerk im japanischen Fukushima nach China hinübergeweht wird. Umgehend macht sich Ge Yingshu auf den Weg zum Großhandel, doch Salz ist bereits ausverkauft. Ge erinnert sich: "Die Gesichter der Leute waren stockfinster. Sie sahen so aus, als müsse man ohne Salz sterben."

370.000 Tonnen Salz wechseln an diesem Tag im ganzen Land den Besitzer, normalerweise sind es nur 15.000 Tonnen pro Tag. Erst zwei Tage später, am 19. März, hat sich die Aufregung gelegt. Ge sitzt an einem Tisch seines Imbisses und bläst den Rauch einer Zigarette in die Luft. "Ich möchte mal wissen, wer dieses dämliche Gerücht in die Welt gesetzt hat", sagt er.

Es ist leicht, sich über die Naivität der Chinesen lustig zu machen, die in dieser Salzhysterie ihren Ausdruck fand. Doch die Nervosität der chinesischen Bevölkerung hat ihren Grund: Die breite Masse im Milliardenreich ist sich der Risiken und Folgen von Radioaktivität nicht bewusst. Und das soll sie auch nicht; eine öffentliche Debatte über die Folgen des Unfalls von Fukushima käme der chinesischen Regierung sehr ungelegen.

Zwar sind in China derzeit nur 13 atomare Anlagen mit einer Gesamtkapazität von 10,8 Gigawatt am Netz, 27 weitere befinden sich jedoch inzwischen im Bau. Und nach Angaben der internationalen Atomlobby-Organisation World Nuclear Association (WNA) sind 159 weitere in den kommenden Jahrzehnten geplant. An diesen Ausbauplänen hält die chinesische Regierung auch nach Fukushima nahezu ungebrochen fest: Formal soll das Ausbauprogramm zwar einer strategischen Prüfung unterworfen werden. Doch bereits Ende April verkündete die einflussreiche Nationale Entwicklungs- und Reformkommission (NDRC), die Regierung werde in Zukunft vor allem den Bau "moderner Atomanlagen" fördern.

Die Dynamik, mit der sich dieser Ausbau vollzieht, ist selbst für chinesische Verhältnisse beachtlich. Ende 2009 war laut WNA erst von 125 weiteren Anlagen die Rede. Nur ein Jahr später waren es schon 34 mehr, weil die Euphorie über die segensreichen Folgen der Atomkraft in nahezu allen Provinzen der Volksrepublik um sich greift.

"Ressourcenknappheit, der Druck, CO2-Emissionen reduzieren zu müssen, und eine starke Lobby sind Gründe für die exzessive Geschwindigkeit", sagt He Jun von der privaten Pekinger Strategieschmiede Anbound Consulting. Die Denkfabrik kam bereits 2004 zu dem Schluss, dass die Energieversorgung Chinas Achillesferse auf dem Weg an die Spitze aller Volkswirtschaften darstellt. "Die Situation hat sich seitdem verschärft", sagt He. Der Elektrizitätsverbrauch in China wächst kontinuierlich. Allein im vergangenen Jahr kletterte er um rund 15 Prozent auf 4190 Milliarden Kilowattstunden.

Noch werden große Teile der Elektrizität aus fossilen Brennstoffen hergestellt. Der Anteil von Kohle an der Elektrizitätsgewinnung betrug 2010 mehr als 70 Prozent. Die Luft in Chinas Ballungsgebieten ist deshalb dramatisch verschmutzt. Atomkraft zählt zu den Hoffnungsträgern, mit denen man fossile Brennstoffe zurückdrängen könnte.

Bereits 2007 hatte die NDRC eine nukleare Stromerzeugung von jährlich 40 Gigawatt im Jahr 2020 ins Auge gefasst. Die Kommission entwickelt die nationalen wirtschaftlichen Strategien und greift ein, wenn sie makroökonomische oder soziale Fehlentwicklungen zu erkennen glaubt. Schon 2010 revidierte die Regierung die Zahlen und schraubte das Planziel auf 80 Gigawatt nach oben. Schätzungen gehen davon aus, dass chinesische Atomkraftwerke im Jahr 2030 bis zu 200 Gigawatt Leistung produzieren können und bis zum Jahr 2050 bis zu 400 Gigawatt – es gibt sogar Gedankenspiele, die 800 Gigawatt mit 300 neuen Atomkraftwerken bis 2050 vorsehen. He Jun von Anbound Consulting erinnert das an ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Volksrepublik: "Es ist fürchterlich. China hat sich in der atomaren Entwicklung erneut einen ,Großen Sprung' nach vorn verordnet", sagt He. Als der frühere Diktator Mao Zedong vor 50 Jahren dem Land den sogenannten "Großen Sprung" befahl, um seinen Traum von einer chinesischen Atombombe zu verwirklichen, stürzte er die Nation damit in die größte Hungersnot der Menschheit. Fast 40 Millionen Chinesen starben.

Doch jetzt bringt die Katastrophe von Fukushima zumindest einige wenige Bürger des autokratischen Staates öffentlich ins Grübeln. "Wie sicher sind unsere Atomkraftwerke?", fragt der Physiker He Zuoxiu von der chinesischen Akademie der Wissenschaften CASS. He beschäftigt sich seit Jahren mit der Nutzung von Kernenergie in China und will die Legenden von der Sicherheit der Atomkraft, die den Chinesen aufgetischt werden, nicht glauben. Die Kernfrage ist seiner Meinung nach dabei, ob Chinas Reaktoren schweren Erdbeben widerstehen können. Laut dem "China National Geography Magazine" verlaufen 23 seismische Gürtel unter chinesischem Staatsgebiet. In keinem anderen Land der Welt werden jährlich derart viele Beben registriert wie in der Volksrepublik: 800 Erschütterungen mit der Stärke 6 und mehr wurden im 20. Jahrhundert in China gemessen. "Es heißt, die Reaktoren können die Stärke 8 aushalten. Aber dafür gibt es keine Beweise.

Und was tun wir bei Stärke 9? Dann ist die Katastrophe noch größer als in Japan", glaubt der Physiker. Die Behörden wollen solche Diskussionen im Keim ersticken. Sie verweisen auf die sorgfältige Auswahl der Standorte für Atomkraftwerke, die nur dort stehen dürfen, wo in der Vergangenheit keine Erdstöße gemessen wurden. Und sie verweisen auf die fortgeschrittene Technik ihrer Reaktoren im Vergleich zum Siedewasserreaktor in Fukushima.

Die existierenden chinesischen Anlagen nutzen allesamt Druckwasserreaktoren (DWR), die im Vergleich zu Siedewasserreaktoren über einen zweiten Wasserkreislauf verfügen und als technisch weiterentwickelt gelten. Chinesische Wissenschaftler haben eine neue, verbesserte Variante des DWR entwickelt, der über drei Wasserkreisläufe verfügt, den CPR-1000. Bislang ist aber nur einer von 13 chinesischen Reaktoren mit dieser Technik ausgestattet. Weitere 33 CPR-1000 befinden sich in Planung oder laut World Nuclear Association im Bau. Doch selbst diese Reaktoren benötigen Strom, um im Notfall die Brennelemente weiter kühlen zu können. Deswegen setzt China zudem auf Reaktoren der "dritten Generation" mit passiven Sicherheitssystemen, die auch ohne Strom funktionieren sollen. Von dem Modell AP1000, dessen Technik vom japanischen Hersteller Toshiba stammt und in den USA entwickelt wurde, sind vier bereits im Bau. Verläuft das Pilotprojekt erfolgreich, sollen weitere 40 folgen.

Doch es geht nicht nur um die Sicherheit der Reaktoren bei Erdbeben. Kritiker befürchten schon im Normalbetrieb Probleme, denn Korruptionsfälle in der Atomindustrie haben das Vertrauen in die AKW-Hersteller nachhaltig erschüttert: Sowohl Kang Rixin, der frühere Chef der China National Nuclear Corporation (CNNC), größter Atomkraftwerkbetreiber des Landes, als auch der ehemalige Vizepräsident der China Guangdong Nuclear Power Corporation (CGNPC), Shen Rugang, waren in Bestechungsskandale verwickelt und wurden ihrer Posten enthoben. "Jeder Korruptionsfall geht stets zu Lasten der öffentlichen Sicherheit. Das ist ein erheblicher Grund zur Sorge", warnt He von der Pekinger Denkfabrik.