Falsches Spiel

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"Drei Viertel aller primären Versuchsergebnisse, also die nackten, uninterpretierten Zahlen von über 3500 der insgesamt 5000 Probanden, waren bis zum Sommer 2009 nicht oder nicht verwertbar publiziert", sagt Thomas Kaiser, Leiter der Abteilung Arzneimittelbewertung beim IQWiG. Alles, was die wissenschaftliche Gemeinde von diesen Arbeiten in einschlägigen Fachzeitschriften nachlesen konnte, waren vom Hersteller in Auftrag gegebene Auswertungen und Interpretationen dieses Datenmaterials, und die Datensets waren häufig unvollständig.

Doch Kaiser und seine Kollegen brauchten die vollständigen Studienberichte, um sie nachzuprüfen und im Auftrag des Bundesausschusses den Nutzen von Reboxetin unabhängig bewerten zu können. "Erst als wir im Juni 2009 publik machten, dass wir Reboxetin nicht einschätzen können, weil das Gros der Daten unter Verschluss gehalten wird, entschloss sich Pfizer zur Kooperation." Die Analyse der neu hinzugekommenen zehn Studien ergab, dass offenbar genau diejenigen Untersuchungen zurückgehalten worden waren, in denen Reboxetin versagte oder viele Patienten die Therapie wegen schwerer Nebenwirkungen wie Impotenz oder Schlafstörungen vorzeitig abbrachen.

Im Lichte dieser Ergebnisse fiel das Fazit der IQWiG-Fachleute natürlich viel negativer aus als in der Lesart von Pfizer. Welche Daten von Unternehmensseite publiziert sind und mit welchem Ergebnis, das kann man zum Beispiel in der medizinischen Datenbank Pubmed nachlesen. Und danach hat Kaiser recht: Die günstigen Reboxetin-Studien liegen vollständig inklusive Rohdaten vor, die ungünstigen nur in aufbereiteter Form.

Konfrontiert mit dem Vorwurf, Teile der Rohdaten zurückgehalten zu haben, dementiert Unternehmenssprecherin Christiane Fleiter zunächst: "Generell gilt, dass Pfizer über die Ergebnisse klinischer Studien objektiv, wahrheitsgemäß, ausgewogen und vollständig berichtet, und zwar unabhängig von den konkreten Ergebnissen der jeweiligen Studie", schreibt sie – und zündet dann eine Nebelkerze. "Sie beziehen sich auf einen Artikel [des IQWiG, Anm. d. Red.] im ,British Medical Journal' vom 13. Oktober 2010. Alle im BMJ-Artikel referenzierten Studien ab 2006 sind veröffentlicht und auf der Webseite www.clinicaltrials.gov zugänglich. Die Informationen zu sämtlichen Studien sind in Peer-Reviewed-Journals zu finden" – also in Fachzeitschriften, die eingereichte Manuskripte von Spezialisten begutachten lassen.

Der Einschub "ab 2006" fällt dabei kaum auf, ist allerdings wesentlich, um Fleiters Aussage nicht zur Lüge werden zu lassen. Denn die strittigen Untersuchungen, um die es ging, wur-den alle davor vorgenommen, und sie sind eben nicht auf der genannten Webseite zu finden. Sie wurden zwar tatsächlich in Peer-Reviewed-Journals veröffentlicht, nur eben mehr im Sinne des Unternehmens als von unabhängigen Prüfern interpretiert. Der zweite feine Unterschied ist ebenfalls ein präzise abgewogenes Gerade-nicht-Lügen: Es finden sich tatsächlich "Informationen zu sämtlichen Studien" öffentlich, nur nicht "alle Informationen aller Studien", wie es für eine solide wissenschaftliche Überprüfung nötig wäre.

Diese Gepflogenheit, Informationen durch Verschweigen zu beeinflussen, wie in diesem Interview, oder undurchsichtig darzustellen, bezeichnet man in der Wissenschaft als "biased reporting". Wenn Kaisers Vorwurf stimmt, dass Pfizer mutwillig ungünstige Zahlen zurückgehalten und nur günstige veröffentlicht hat – es wäre bei Weitem kein Einzelfall. Ebenfalls 2009 wurde bekannt, dass das Unternehmen Roche einem Gutachterteam der Cochrane Collaboration Zugang zu Daten des Grippemittels Tamiflu verweigert hatte. Die Cochrane Collaboration ist ein internationales Netzwerk von Wissenschaftlern, das die medizinische Beweislage zu einer bestimmten Behandlung systematisch sichtet und wie das IQWiG unabhängig begutachtet.

Die Wissenschaftler um den britischen Epidemiologen Tom Jefferson wollten die vollständigen Studienberichte samt Daten zu zehn Studien sehen, in denen untersucht worden war, ob Tamiflu tatsächlich die Komplikationsrate bei Grippeinfizierten senkt. Es sind diese Komplikationen, vor allem bakterielle Lungenentzündungen, die Grippepatienten sterben lassen – und es war der günstige Eindruck dieser Studien, der viele Staaten veranlasst hatte, millionenweise Vorräte dieses Medikaments für den Fall einer Grippe-Pandemie zu ordern.