Falsches Spiel

Weltweit arbeiten Medizinstatistiker daran, in den Unterlagen von klinischen Studien Scheinargumente von soliden Beweisen zu trennen. Ihre Ergebnisse haben dabei eine Schummelkultur großen Stils zutage gefördert.

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Von
  • Nike Heinen
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Weltweit arbeiten Medizinstatistiker daran, in den Unterlagen von klinischen Studien Scheinargumente von soliden Beweisen zu trennen. Ihre Ergebnisse haben dabei eine Schummelkultur großen Stils zutage gefördert.

Eigentlich sollte dies eine saftige Geschichte über trockene Zahlen werden, die zum 20. Geburtstag der evidenzbasierten Medizin (EBM) erklärt, wie sich mit statistischen Methoden Menschenleben retten lassen: Bei dieser medizinischen Schule prüft ein Heer von Fachleuten Veröffentlichungen auf Herz und Nieren und ermittelt, welche Medikamente und Therapien wirklich helfen – weil ihre Wirkung durch aussagekräftige und belastbare Daten untermauert werden kann – und welche nicht. Wir wollten dabei auch über die wachsende Kritik berichten, mit der Experten die Grenzen dieser evidenzbasierten Medizin aufzeigen. Doch dann erzählten die Arbeiten der Evidenzmediziner eine ganz andere saftige Geschichte.

Es geht um Lug und Trug und um wissenschaftliche Wahrheiten, die vielleicht gar keine sind, weil ihre Objektivität nur vorgetäuscht wird. Neu ist daran nicht, dass die Ergebnisse von medizinischen Studien manipuliert werden können und werden, indem Forscher schlechte Studienergebnisse besser aussehen lassen. Neu ist das Ausmaß, in dem das offenbar geschieht.

Die evidenzbasierte Medizin war vor 20 Jahren angetreten, in der Flut von medizinischen Veröffentlichungen die Spreu vom Weizen zu trennen. Gordon Guyatt, Epidemiologe an der kanadischen McMasters University, richtete einen Kurs für junge Ärzte ein, damit sie lernten, wissenschaftliche Studien einzuschätzen. Er wollte zudem dem Problem abhelfen, dass auch bereits praktizierende Mediziner völlig abgekoppelt von aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen agierten.

Doch inzwischen verzweifeln EBM-Spezialisten, denn eine saubere Bewertung der Wirksamkeit ist aufgrund der Datenlage oft gar nicht möglich. Die erste umfassende Übersicht mit Fallbeispielen für die verbreitete Praxis, unangenehme Studiendaten selektiv zu verschweigen, haben die Arzneimittelprüfer des Kölner Institutes für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) im Oktober 2010 veröffentlicht.

Betroffen ist nahezu jedes Fachgebiet: Die Experten listen 50 Behandlungen von 40 verschiedenen Krankheiten auf, unter anderem Medikamente gegen Depressionen, Psychosen, Schmerzen, Alzheimer, Migräne, Herzrhythmusstörungen, Inkontinenz, Diabetes, Arthritis, HIV und Krebs. "Vergleicht man die unpublizierten mit den publizierten Daten, so zeigen sich große Ergebnisunterschiede. Die publizierten Studien neigen dazu, die Wirksamkeit zu über- und die Nebenwirkungen zu unterschätzen", resümieren die Prüfer. Rechnet man dazu noch die Ergebnisse von Stichproben hoch, dann müsse man annehmen, dass 50 bis 90 Prozent der heute als erprobt geltenden ärztlichen Interventionen mit großen Fragezeichen hinsichtlich Wirksamkeit und Nebenwirkungen versehen werden müssen.

Ein Indiz dafür findet sich zum Beispiel in einem aktuellen Sitzungsprotokoll des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) – der Selbstverwaltung von Kassenärzten und Kassenvertretern – vom 16. September 2010: "Reboxetin: Verordnungsausschluss" ist darin vermerkt. Das bedeutet, dass dieser Wirkstoff, ein Antidepressivum aus dem Labor des Pharmariesen Pfizer, in Deutschland von der Liste der ordentlichen Kassenmedikamente verschwinden muss.

Dabei war der Stimmungsmacher ein Klassiker, der bereits seit 13 Jahren unter dem Apothekennamen Edronax von Psychiatern verschrieben wurde, zigtausendfach und in dem festen Glauben, dass ihren Patienten damit sowohl gezielt als auch ohne größere Nebenwirkungen geholfen werden kann. Beide Annahmen scheinen nun hinfällig: Die IQWiG-Experten hatten die vorliegenden Reboxetin-Studien auf Geheiß des G-BA einer gründlichen Revision unterzogen. Ihr Fazit: Das Mittel wirkt nicht besser als ein Placebo, dafür hat es mehr Nebenwirkungen. Der Skandal dabei: Man hätte diesen Schluss schon viel früher ziehen können, wenn Pfizer die Studien, die es vor und nach der Zulassung zwischen 1996 und 2003 durchgeführt hatte, vollständig öffentlich zugänglich gemacht hätte.