Falsches Spiel

Inhaltsverzeichnis

Auch Jefferson machte den Datenmangel öffentlich. Roche versprach daraufhin, die fehlenden zwei Drittel an unveröffentlichten Studienberichten auf einer passwortgeschützten Seite zur Verfügung zu stellen, hinterlegte davon jedoch nur ein Viertel. Die Herausgabe weiterer Daten machte das Unternehmen vom Einblick in das Prüfprotokoll der Cochrane-Gutachter abhängig. "Was soll das für eine Transparenz sein, wenn nicht die Gutachter entscheiden, was sie brauchen, sondern die Begutachteten", kritisiert Jefferson. Auf Nachfrage von Technology Review ließ Roche mitteilen, dass es alle Daten zur Verfügung gestellt habe, die nötig sind, um die Fragen der Cochrane-Reviewer zu beantworten.

"In den USA kann es passieren, dass Gerichte für verzögerte Publikationen den Unternehmen 10000 Dollar Strafe für jeden weiteren Tag aufbrummen, den sie verstreichen lassen. Wenn man mit dem Medikament aber im gleichen Zeitraum das Hundertfache an Gewinn macht, muss man fragen, ob die Strafe wirklich abschreckt", sagt IQWiG-Experte Kaiser. Roche verdiente im vergangenen Jahr etwa 1,5 Milliarden Euro mit Tamiflu. Mittlerweile kapitulieren viele Gutachter vor dem Datenmangel, sogar die Cochrane Collaboration. Eine in diesem Februar im "British Medical Journal" publizierte Erhebung fand bei jedem zweiten von 283 untersuchten Übersichtsartikeln (Reviews) Lücken im Primärdatensatz. Im Schnitt fehlten zehn Prozent der Daten der Studienprotokolle, bei jeder vierten Arbeit sogar die Hälfte.

In der EU gibt es zwar seit 2004 eine Registrierungspflicht für alle klinischen Studien in der sogenannten EudraCT-Datenbank, Zugang zu ihr haben allerdings nur Zulassungsbehörden. Immerhin müssen seit einem Ultimatum der Fachzeitschriften-Verleger zum 13. September 2005 alle Tierversuchsstudien und klinischen Studien mit Menschen in einem öffentlich zugänglichen Register wie www.clinicaltrials.gov angemeldet sein, wenn ihre Ergebnisse später in einem renommierten Blatt veröffentlicht werden sollen. Und in den USA besteht zumindest für diejenigen Arzneimittel-Studien, die nach 2007 beendet wurden, die Pflicht, ihre Ergebnisse zu veröffentlichen. Je nach Fachgebiet und Geldgeber verschwinden trotzdem bis zu 96 Prozent der Studien zu einer Therapie nach ihrem Ende erst einmal in Schubladen, vermutlich weil sie ungünstige Ergebnisse liefern.

Die Probe aufs Exempel machten 2008 Krebsforscher aus Seattle für die Fachzeitschrift "Oncologist". Sie verfolgten bei 2028 auf www.clinicaltrials.gov angemeldeten Studien über Krebsbehandlungen, welche später tatsächlich ausgewertet in Fachzeitschriften wieder auftauchten. Die klamme Ausbeute der Zählung: Nur 17,6 Prozent aller geprüften Studien und sogar nur 5,9 Prozent derer, die Pharmaunternehmen durchgeführt hatten, erreichten die wissenschaftliche Gemeinde. Als Vergleich: Bei Studienergebnissen öffentlicher Netzwerke sind es zwar immerhin 59 Prozent, doch selbst das gilt unter Experten immer noch als zu wenig, um eine medizinische Methode zuverlässig einschätzen zu können.

Um das zu beurteilen, bedienen sich die Gutachter eines Verfahrens, das erst durch die evidenzbasierte Medizin allgemeine Verbreitung fand – das systematische Review. Bei dieser Meta-analyse werden alle verfügbaren Studienergebnisse, etwa zu einem bestimmten Medikament, zunächst in einen großen Zahlentopf geworfen. Je genauer die einzelnen Studien statistisch gesehen ausfallen, desto stärker wird ihr Einfluss auf das spätere Endergebnis gewichtet – je ungenauer sie sind, desto weniger fallen sie ins Gewicht. Wie nahe das Endergebnis der wissenschaftlichen Wahrheit kommt, hängt entscheidend davon ab, ob die Streuung der Daten im Topf genauso ist wie die, die Mutter Natur zusammen mit Vater Zufall erzeugen würde. Werden Ergebnisse nur dann veröffentlicht, wenn sie ein Medikament gut dastehen lassen, dann ist der Gesamteindruck der Studienlage falsch – nämlich viel besser als die Wirklichkeit.