Forschung: "Grenze zwischen Leben und Tod nicht so klar, wie wir einst dachten"​
Seite 2: Leben nach dem Tod
Ähnliches berichteten Borjigin und ihr Team in einer im Mai in Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlichten Studie über Aktivitätsschübe in den Gehirnen zweier komatöser Patienten, nachdem deren Beatmungsgeräte entfernt worden waren. Deren EEG-Signaturen wiesen kurz vor ihrem Tod alle Merkmale von Bewusstsein auf, so Bojigin. Auch wenn noch viele Fragen offen sind, werfen diese Ergebnisse spannende Fragen über den Prozess des Sterbens und die Mechanismen des Bewusstseins auf.
Je mehr Wissenschaftler über diese Mechanismen lernten, desto größer seien die Chancen, "systematischere Rettungsmaßnahmen" zu entwickeln, sagt Borjigin. Im besten Fall könne dieser Forschungszweig "das Potenzial haben, die medizinische Praxis umzukrempeln und viele Menschen zu retten".
Genaueres Verständnis des Sterbeprozesses
Natürlich muss jeder Mensch irgendwann sterben und ist dann auch nicht mehr zu retten. Aber ein genaueres Verständnis des Sterbeprozesses könnte es der Medizin ermöglichen, Menschen zu retten, die zuvor gesund waren und die ein unerwartet frühes Ende gefunden haben – solange ihr Körper noch relativ intakt ist. Das können Personen sein, die einen Herzinfarkt oder einen tödlichen Blutverlust erlitten haben, die erstickt oder ertrunken sind. Die Tatsache, dass viele dieser Menschen sterben – und tot bleiben–, spiegele einfach "einen Mangel an angemessenen Ressourcen, medizinischem Wissen oder ausreichendem wissenschaftlichen Fortschritt, um sie wiederzubeleben", sagt Parnia.
Borjigins Hoffnung ist es, den Sterbeprozess irgendwann "Sekunde für Sekunde" verstehen zu können. Solche Entdeckungen könnten nicht nur zum medizinischen Fortschritt beitragen, sondern auch "unser Verständnis der Gehirnfunktion verändern und revolutionieren".
Auch Sestan und sein Team arbeiten an Folgestudien mit dem Ziel, "die Technologie zu perfektionieren", mit der sie die Stoffwechselfunktionen in Schweinehirnen und anderen Organen wiederhergestellt haben. Diese Forschungsrichtung könnte schließlich zu Verfahren führen, mit denen sich Schäden durch Sauerstoffmangel im Gehirn und anderen Organen rückgängig machen ließen – bis zu einem gewissen Grad natürlich. Wäre die Methode erfolgreich, könne sie auch den Pool der verfügbaren Organspender erweitern, indem sie das Zeitfenster verlängere, in dem Ärzte Organe von Verstorbenen entnehmen können, ergänzt Sestan.
Sollen diese Durchbrüche gelingen, so betont er, erforderten sie jahrelange Forschung. "Es ist wichtig, dass wir hier nicht übertreiben und zu viel versprechen, aber das heißt nicht, dass es keine Vision gibt." In der Zwischenzeit werden die laufenden Untersuchungen zum Sterbeprozess zweifellos weiterhin unsere Vorstellungen vom Tod infrage stellen und zu großen Veränderungen in der Forschung und anderen Bereichen der Gesellschaft führen – von der Theologie bis zum Recht. Das sieht auch Parnia so: "Der Tod gehört nicht allein der Neurowissenschaft. Wir alle haben einen Anteil daran."
(jle)