Gesundheitswesen: "Wir brauchen eine gemeinwohlorientierte Forschungsagenda"

Deutschland hat im Umgang mit Gesundheitsdaten keine ausreichenden Lehren aus der Corona-Pandemie gezogen, so Thomas Kaiser, Leiter des IQWiG-Instituts.

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Forscherin mit Gesundheitsdaten

(Bild: PopTika/Shutterstock.com)

Lesezeit: 14 Min.
Von
  • Christiane Schulzki-Haddouti
Inhaltsverzeichnis

(Bild: IQWIG)

Thomas Kaiser leitet seit April 2023 das unabhängige Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Davor war er für das IQWiG-Ressort Arzneimittelbewertung verantwortlich. Er ist Preisträger des David-Sackett-Preises des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin 2011. Vor seinem Medizinstudium war Kaiser als Systementwickler tätig.

heise online: Ärzte entscheiden über die passende Therapie. Werden Ihre Gutachten für die Ärzteschaft so aufbereitet, dass sie schnell Entscheidungen treffen können?

Thomas Kaiser: Derzeit nur bedingt. Denn bislang ist es so, dass viele praktisch tätige Ärztinnen und Ärzte eher auf unsere Gesundheitsinformationen für PatientInnen zurückgreifen, weil sie in kurzer und sehr gut verständlicher Form die wesentlichen Ergebnisse wiedergeben. Das ist erstmal gut, aber wir können hier noch besser werden - und uns daher der Zielgruppe der Ärztinnen und Ärzte nochmal gezielt widmen.

Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen

Das IQWiG untersucht den Nutzen und den Schaden medizinischer Maßnahmen: Es analysiert auf der Grundlage der vorliegenden Studien insbesondere, ob ein neues Diagnoseverfahren oder eine neue Therapie den Patientinnen und Patienten mehr nützt oder schadet als bereits verfügbare Optionen. Außerdem erstellt sein Ressort Gesundheitsinformation allgemeinverständliche Informationen zu Gesundheitsleistungen und veröffentlicht diese auf der Website gesundheitsinformation.de. Finanziert wird das IQWiG aus den Beiträgen der Mitglieder aller Gesetzlichen Krankenversicherungen. Die weitaus meisten Aufträge erhält das Institut vom Gemeinsamen Bundesausschuss G-BA, aber auch das Bundesgesundheitsministerium kann dem IQWiG Aufträge erteilen.

Wie kommen Sie an die Gesundheitsdaten für Ihre Gutachten?

Wir führen keine eigenen Studien durch, sondern fassen systematisch die Ergebnisse der zu einer Fragestellung durchgeführten Studien zusammen. Ein wichtiger Schritt ist dabei die Bewertung der Qualität der einzelnen Studien: Sind die Ergebnisse vertrauenswürdig oder nicht? Bei der Nutzenbewertung neuer Arzneimittel ist der Hersteller gesetzlich verpflichtet, uns in einem Dossier alle Daten zu seinen Studien vorzulegen. Das Dossier enthält insbesondere umfangreiche Studienberichte, die viel aussagekräftiger sind als die allgemein bekannten Publikationen. Eine Publikation in einer Fachzeitschrift hat etwa 10 Seiten, so ein Studienbericht hat oft mehr als 200 Seiten mit mehreren 1.000 Seiten Anhängen.

Wie sichern Sie die Evidenzbeschaffung?

Wir suchen die Studien in Datenbanken oder fordern sie bei Herstellern an. Wenn wir nicht alle Daten bekommen, ziehen wir daraus Konsequenzen: Wir halten dann ja nach fehlender Datenmenge gegebenenfalls fest, dass sich mit diesen Daten keine valide Aussage treffen lässt.

In der Corona-Pandemie ging es um die Ad-Hoc-Generierung von Daten. Was haben Sie dabei erlebt und welche Lehre haben Sie daraus gezogen?

Wir haben gesehen, dass Deutschland mit seiner Dateninfrastruktur nicht ausreichend für Forschung vorbereitet ist. Wir tun uns daher sehr schwer, auf kurzfristige Situationen zu reagieren. Für die notwendige Forschungsinfrastruktur muss es ein grundsätzliches Konzept geben, das nicht nicht nur die Datenlandschaft betrachtet, sondern eine Forschungskultur etabliert und professionalisiert: Also ich muss wissen, wie ich Studienprotokolle schreibe, wie ich das Forschungsprojekt zeitnah aufsetze, wer dafür zuständig ist und wie die in den Kliniken und Praxen vor Ort erhobenen Daten in solche Forschungsprojekte integriert werden können. Hier ist Deutschland nicht gut aufgestellt.

Welches Land hat es besser gemacht?

Großbritannien hat es damals hinbekommen, sehr schnell eine große randomisierte Studie aufzusetzen, zu planen und bereits neun Tage nach Planungsbeginn den ersten Patienten zu rekrutieren. Diese Studie hat ganz wesentliche Erkenntnisse für die Behandlung sehr schwer erkrankter Patienten auf der Intensivstation gebracht. Da müssen wir auch in Deutschland hinkommen.