Neurowissenschaft: Gedankenlesen macht Fortschritte

Wie wir denken, fühlen und die Welt erleben, ist für andere Menschen oft ein Rätsel. Neue Technologien könnten dabei helfen, einen Einblick zu bekommen.

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(Bild: chana/Shutterstock.com)

Lesezeit: 15 Min.
Von
  • Grace Huckins
Inhaltsverzeichnis

Technisch gesehen sind Neurowissenschaftler schon seit Jahrzehnten in der Lage, Gedanken zu lesen. Das ist allerdings nicht einfach. Zuerst müssen sich Probanden in die enge Röhre eines riesigen funktionellen Magnetresonanztomografen (fMRI) legen, vielleicht stundenlang, während sie sich Filme ansehen oder Hörbücher hören. Unter lauten hämmernden und klopfenden Geräuschen zeichnet das Gerät auf, wie sich das Blutflussmuster ihres Gehirns verändert, als Indikator für die neuronale Aktivität. Dann füttern die Forscher, für deren Experiment man sich freiwillig gemeldet hat, eine Software mit den sekundenweise erstellten Paaren aus Blutflussmuster sowie Filmbildern oder gesprochenen Wörtern, damit das Programm die Besonderheiten der Gehirnreaktion auf das lernt, was es sieht und hört.

All dies kann natürlich nicht ohne Zustimmung geschehen. Auf absehbare Zeit werden Gedanken privat bleiben, wenn man das möchte. Aber wenn sich jemand entscheidet, die klaustrophobischen Stunden im Scanner zu ertragen, hilft das der Software, eine maßgeschneiderte Rekonstruktion dessen zu erstellen, was er gesehen oder gehört hat – indem sie einfach analysiert, wie sich das Blut durch das Gehirn bewegt hat.

2011 trainierten Neurowissenschaftler der University of California in Berkeley ein solches Programm, um etherisch aussehende Doppelgänger der Videos zu erstellen, die ihre Probanden gesehen hatten. In jüngerer Zeit haben Forscher generative Künstliche Intelligenz wie Stable Diffusion und GPT eingesetzt, um weitaus realistischere, wenn auch nicht ganz genaue Rekonstruktionen von Filmen und Podcasts auf der Grundlage neuronaler Aktivitäten zu erstellen. Angesichts des Hypes und der finanziellen Investitionen, die generative KI angezogen hat, wird sich diese Art von Stimulus-Rekonstruktionstechnologie unweigerlich weiter verbessern – vor allem, wenn es Elon Musks Neuralink gelingt, Gehirnimplantate für die breite Masse verfügbar zu machen.

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Doch so aufregend die Idee auch sein mag, einen Film aus der Gehirnaktivität eines Menschen zu extrahieren, so ist es immer noch eine sehr begrenzte Form des Gedankenlesens. Um die Welt wirklich mit den Augen eines anderen zu sehen, müssten die Wissenschaftler nicht nur wissen, welchen Film man sieht, sondern auch, was man darüber denkt, wie man sich dabei fühlt und woran er einen erinnert. Diese inneren Gedanken und Gefühle sind weitaus schwieriger zu erfassen. Wissenschaftlern ist es zwar gelungen, aus zwei Möglichkeiten auf ein spezifisches Objekt zu schließen, von dem jemand geträumt hat, aber in einem weniger eingeschränkten Umfeld sind solche Ansätze schwierig.

Das liegt daran, dass Algorithmen zum maschinellen Lernen sowohl Gehirnsignale als auch Informationen darüber, was sie bedeuten, in perfekter Synchronisation benötigen, um zu lernen, was die Signale bedeuten. Bei der Untersuchung des inneren Erlebens können sich die Wissenschaftler nur auf das stützen, was die Menschen sagen, was in ihrem Kopf vor sich geht, und das muss dann auch zuverlässig sein. "Es ist nicht so, als würde man direkt messen, was die Menschen erlebt haben", sagt Raphaël Millière, der als Dozent für Philosophie an der australischen Macquarie University arbeitet.

Um die Gehirnaktivität mit dem subjektiven Erleben in Verbindung zu bringen, muss man sich mit der Schlüpfrigkeit und Ungenauigkeit der Sprache auseinandersetzen. Vor allem dann, wenn sie eingesetzt wird, um den Reichtum des eigenen Innenlebens zu erfassen. Um dieser anspruchsvollen Aufgabe gerecht zu werden, verbinden Wissenschaftler wie Millière moderne künstliche Intelligenz mit jahrhundertealten Techniken, von philosophischen Interviewstrategien bis hin zu alten Meditationspraktiken. Nach und nach beginnen sie, Gehirnregionen und -netzwerke zu ergründen, die bestimmte Dimensionen des menschlichen Erlebens hervorbringen.

"Das ist ein Problem, bei dem wir einige Fortschritte machen können und auch gemacht haben", sagt Millière. "Ich behaupte nicht, dass es einfach ist. Aber ich denke, es ist auf jeden Fall überschaubarer als die Lösung des großen Rätsels des Bewusstseins."

Vor über 300 Jahren stellte der Philosoph John Locke die Frage, ob die Farbe Blau für alle Menschen gleich aussieht, oder ob eine Erfahrung von "Blau" vielleicht näher an der Gelb-Erfahrung von jemand anderes liegt. Die Beantwortung solch subtiler Fragen könnte ein weit entfernter Horizont sein, auf den die Neurowissenschaft der Erfahrung zusteuern könnte. In ihrem derzeitigen, frühen Stadium muss sich das Feld jedoch mit viel dramatischeren Formen der Erfahrung befassen. "Wenn wir besser verstehen wollen, was die gewöhnlichen, wachen Zustände in unserem täglichen Leben auszeichnet, ist es nützlich zu sehen, was passiert, wenn man einen Übergang in eine andere Art von Zustand erlebt", sagt Millière.

Einige Wissenschaftler konzentrieren sich deshalb auf tiefe Meditationszustände oder intensive Halluzinationen. Millière ist besonders daran interessiert, das Selbstbewusstsein zu verstehen. Jenes Bewusstsein also, ein denkendes, fühlendes Individuum an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit zu sein. Dafür untersucht er, was im Gehirn eines Menschen während eines psychedelischen Trips geschieht. Durch den Vergleich der Antworten von Versuchspersonen auf Aussagen wie "Ich habe eine Auflösung meines 'Selbst' oder 'Ichs' erlebt" mit ihren Gehirnaktivitätsmustern haben die Forscher einige Veränderungen entdeckt, die mit dem Verlust des Selbstbewusstseins zusammenhängen könnten. Das Default Mode Network (DMN) zum Beispiel – eine Gruppe von Hirnregionen, die alle aktiv werden, wenn Menschen in Gedanken versunken sind – neigt dazu, seine typische Koordination zu verlieren.

Die Einnahme einer hohen Dosis von Psychedelika ist sicherlich der einfachste Weg, das Selbstbewusstsein im Wachzustand zu verlieren. Aber wenn man keine Drogen nehmen will, gibt es eine andere Möglichkeit: Zehntausende von Stunden mit Meditation verbringen. Hochqualifizierte Praktizierende der buddhistischen Meditation können sich freiwillig in einen Zustand begeben, in dem die Grenze zwischen ihnen und der Welt durchlässig zu werden beginnt oder sogar ganz verschwindet. Interessanterweise sind solche Zustände auch mit Aktivitätsveränderungen in einigen Kernregionen des Standardmodus-Netzwerks, wie dem sogenannten posterioren cingulären Kortex, verbunden.

Weil aber der potenzielle Probandenpool so viel kleiner ist, kann die Untersuchung von Meditierenden der schwierigere Weg sein, um an extreme Erfahrungen heranzukommen. Allerdings haben Meditierende auch einige besondere Vorteile als Versuchspersonen, sagt die Psychiaterin Sara Lazar von der Harvard Medical School. Erfahrene Meditierende sind Meister ihres eigenen Innenlebens. Sie können spontan Gefühle tiefer Dankbarkeit hervorrufen oder in Zustände tiefer Konzentration abtauchen, und sie neigen dazu, viel detaillierter über ihre inneren Erfahrungen zu berichten als ungeübte Menschen. "Das liegt daran, dass wir so viel Zeit damit verbringen, einfach nur zuzuhören und darauf zu achten, was tatsächlich in uns vorgeht", sagt Lazar, die selbst eine erfahrene Meditierende ist.

Nicht-Meditierenden ist manchmal so wenig bewusst, was in ihrem eigenen Kopf vor sich geht, dass sie das – recht häufige – Abschweifen ihrer Gedanken nicht einmal bemerken. Um zu untersuchen, wie sich das Gehirn in solchen Momenten verhält, musste Kalina Christoff, Psychologin an der University of British Columbia, ihre Probanden in regelmäßigen Abständen dazu auffordern, darüber nachzudenken, ob ihre Gedanken in diesem Moment abschweiften und ob sie bemerkt hatten, dass sie ihre Konzentration verloren hatten. Häufig hatten sie das nicht bemerkt. Die Standardmodus-Netzwerke der Versuchspersonen waren aktiver, wenn ihre Gedanken abschweiften, vor allem, wenn sie sich dessen nicht bewusst waren.