Interview: Telemedizin soll Ärzte entlasten und nicht ersetzen

Welche Möglichkeiten die "Medizin aus der Ferne" bringt, darüber sprachen wir mit dem Telemedizin-Experten Rainer Beckers.

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Ärztin auf der Intensivstation hält über einen Videocall, auch Telekonsil genannt, Rücksprache mit einem anderen Arzt.

Spezialisten können im Zweifel aus der Ferne um Rat gefragt werden. Telemedizin findet auf verschiedene Weisen bereits seit Jahrzehnten statt.

(Bild: DC Studio/Shutterstock.com)

Lesezeit: 12 Min.

Regelmäßig wird vor einem akuten Personalmangel im Gesundheitswesen und für Ärzte nervraubender Bürokratie gewarnt. Neben KI könnte insbesondere die Telemedizin helfen oder zumindest die Folgen des Personalmangels abmildern. Aus der Ferne ist es beispielsweise möglich, die Wundheilung nach einer Operation zu beobachten, aber auch chronisch kranke Patienten könnten profitieren, da sie dann nicht ständig zum Arzt müssen. Zwar gibt es schon lange die Möglichkeit für Videotelefonie, doch erst seit April 2017 gab es eine Einigung darüber, wie die Videosprechstunde vergütet wird, im Mai 2018 kippte der Ärztetag das Fernbehandlungsverbot. Während der Coronakrise erlebten Videosprechstunden einen Boom, der allerdings wieder abebbte.

Seit April 2009 ist Rainer Beckers Geschäftsführer der ZTG Zentrum für Telematik und Telemedizin GmbH.

(Bild: ZTG GmbH)

Telemedizin kann vor allem in ländlichen Regionen helfen, wo der Ärztemangel besonders gravierend ist. Um diesem etwas entgegenzusetzen, haben sich zahlreiche Initiativen gegründet. Wie Telemedizin Versorgungslücken schließen kann, darüber haben wir mit dem Arzt Rainer Beckers gesprochen. Als Geschäftsführer der 1999 gegründeten und vom Land NRW gefördeten ZTG Zentrum für Telematik und Telemedizin GmbH setzt er sich nicht nur für die Entwicklung der Infrastruktur, sondern auch in der Telemedizin ein und engagiert sich seit Jahren im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Telemedizin (DGTelemed e.V.).

Sie haben sich unter anderem für die Videosprechstunde beim Ärztenetz Medizin und Mehr eingesetzt: Was waren zu Beginn Ihre Erwartungen?

Die ZTG Zentrum für Telematik und Telemedizin GmbH hat sich vor rund 10 Jahren gemeinsam mit Ärztenetz Medizin und Mehr (MuM) aus Bünde um die Verbreitung der Videosprechstunde gekümmert und in der Tat war es so, dass die Vernetzung der Hausarztpraxen mit den Pflegeheimen in Bünde dafür der ausschlaggebende Grund war. Ziel war es, die Reisetätigkeiten der Hausärztinnen und -ärzte deutlich zu reduzieren durch entsprechende Videosprechstunden, die gemeinsam mit den Pflegekräften aus den Heimen durchgeführt werden.

Inzwischen hat sich die Videosprechstunde insofern in Deutschland etabliert, als dass sie im Vergütungskatalog der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte enthalten ist und dementsprechend abgerechnet werden kann. Genau das war ein ganz wesentliches Ziel unserer damaligen Aktivitäten. Zudem kann man sagen, dass die Entwicklung der Videosprechstunde aus Bünde heraus insofern ein Erfolgsprojekt ist, weil sie inzwischen technisch in die führenden Praxisverwaltungssysteme integriert worden ist. Gleichwohl muss man feststellen, dass die faktische Nutzung der Videosprechstunde zwar während der Pandemie nahezu explodiert ist, aber jetzt wieder auf ein wesentlich geringeres Niveau herabgesunken ist.

Warum wird Telemedizin wichtig?

Ich würde die These aufstellen, dass Telemedizin schon relevant ist und noch immer wichtiger wird. Sie ist jetzt schon von großer Bedeutung, aber durch die absehbare Konzentration der Versorgungsstrukturen, insbesondere über den Weg der Krankenhausplanung, ist unmittelbar evident, dass Telekooperation an Bedeutung gewinnen wird.

Nicht mehr alle Versorgungsangebote, nicht mehr alle Leistungsbereiche eines Krankenhauses können heute vor Ort personell abgebildet werden. Deshalb liegt es nahe, die fehlende Expertise über telekonsiliarische Strukturen einzubinden. Das ist ein Prozess, der bereits läuft und sicherlich zunehmend wichtiger werden wird. Für Krankenhäuser ist es in dem aktuell recht unübersichtlichen Markt dabei nicht immer einfach den Überblick zu behalten.

Als ZTG unterstützen wir dahingehend – ganz konkret mit dem eHealth-Lotsen. In diesem Verzeichnis führen wir relevante Anbieter von telemedizinischen Anwendungen und versuchen mit unserer Beratung Krankenhäusern konkrete Möglichkeiten aufzuzeigen. Darüber hinaus gibt es einen sehr großen Bereich, den man zusätzlich adressieren muss: die Versorgung chronisch Kranker.

Es ist zu erwarten, dass aufgrund des demografischen Wandels nicht nur die Zahl der Pflegebedürftigen sehr stark anwachsen wird, sondern auch die Zahl der chronisch Kranken. Telemedizin bietet durch Telemonitoring die Möglichkeit, chronisch Kranke sehr effizient zu versorgen, indem Daten aus dem häuslichen Umfeld zum Beispiel Vitalparameter wie Blutdruck und Gewicht Ärztinnen und Ärzte übermittelt werden und so frühzeitig Verschlechterungen erkannt werden können. Dadurch kann man weiteren Behandlungsbedarf reduzieren. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, wenn man auf die Bedeutung der Telemedizin in der Zukunft abheben möchte.

In welchen Bereichen ist die Telemedizin bereits etabliert und warum?

Die Telemedizin hat sich insbesondere im Bereich der Videosprechstunde durchaus etablieren können. Dazu haben auch große Anbieter beigetragen, die den Patientinnen und Patienten auf eigene Rechnung Videosprechstunden anbieten und so durchaus Versorgungsengpässe in der haus- und fachärztlichen Versorgung ausgleichen können. Hier ist insbesondere die Dermatologie zu nennen.

Ein anderes Beispiel ist die kindernotärztliche Versorgung, die in Nordrhein-Westfalen, vor allem in der Region der KV Nordrhein, stattgefunden hat. Diese hat zum Ziel, den Behandlungsbedarf vor dem Aufsuchen einer pädiatrischen Praxis oder eines kinderärztlichen Notdienstes im Vorfeld mit den Eltern abzuklären. Teilweise erspart man hierdurch Eltern und Kindern den Besuch beim Kinderarzt. Wirklich dringliche Fälle lassen sich besser und unmittelbar an die stationäre Versorgung weiterleiten. Die Videosprechstunde hat sich für solche Anwendungsfälle durchaus etabliert – auch wenn es noch Luft nach oben gibt.

Auch im stationären Sektor wird die telekonsiliarische Nutzung immer wichtiger – nicht nur zwischen Krankenhäusern, sondern auch zwischen Krankenhäusern sowie niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten. Der Grund für die Akzeptanz dieser telemedizinischen Verfahren ist neben der Vergütungs- bzw. Abrechnungsfähigkeit auch, dass sie für alle Beteiligten einen großen unmittelbaren Mehrwert entwickeln.

Können sie bitte kurz umreißen, welche Arten von Telemedizin es gibt und welchen Stellenwert Telemedizinzentren (TMZ) haben?

Im Grunde kann man drei Anwendungsbereiche von Telemedizin unterscheiden. Da gibt es einmal die Telekooperation mit dem Telekonsil als zentrale Anwendung. Es gibt das Telemonitoring, worauf ich bereits eingegangen bin, also das Beobachten von Vitalwerten aus dem häuslichen Umfeld heraus, sowie den gesamten Bereich der Teletherapie. Bei der Teletherapie geht es darum, dass zum Beispiel Termine in der Psychotherapie und in der Logopädie auch virtuell stattfinden, quasi in Form einer erweiterten Videosprechstunde, technologisch auf der gleichen Basis.

TMZ haben nicht bei allen Anwendungsbereichen den gleichen Stellenwert. TMZ sind insbesondere dort gefragt, wo es um die Betreuung chronisch Kranker geht, um Telemonitoring. Das ist eine Anwendung, die skalierbar sein muss, damit sie effizient durchgeführt werden kann. Und die zentrale Funktion, nämlich das Entgegennehmen der Werte und damit verbunden natürlich auch die Versorgung der Patientinnen und Patienten mit den Geräten, die sie zu Hause brauchen, inklusive der erforderlichen Schulungen, das ist etwas, was man sehr gut auslagern und skalieren kann, um dort effiziente Strukturen aufzubauen.

Welche Geräte können dabei zum Einsatz kommen?

Auch hier müsste man zunächst mal zwischen den Anwendungsbereichen unterscheiden. Für das Telemonitoring werden Devices benötigt, die Vitalwerte erfassen. Das sind zum Beispiel ein Blutdruckmessgerät, eine Waage, ein EKG oder auch ein Spirometer. Diese Devices sind heute ohnehin bereits "intelligent", geben Daten digital aus, werden dann über Schnittstellen wie Bluetooth oder auch direkt übers Mobilfunknetz an das Internet angebunden und übertragen so die Daten an TMZ oder die behandelnden Ärztinnen und Ärzte.

Aufwendige Geräte braucht man eigentlich nicht. Für die Videosprechstunde brauchen alle Beteiligten heute nur ein internetfähiges Gerät mit einem Browser, der mit audiovisueller Kommunikation umgehen kann. Das ist aber heute bei allen Browsern der Fall.

Auf dem Telemedizinkongress ist öfter der Begriff Projektitis gefallen. Wie viele Projekte haben sie geschätzt kommen und gehen sehen?

Ja, von der Projektitis ist häufig die Rede. Damit ist gemeint, dass interessante Vorhaben über Projekte zunächst erprobt werden, was im Grundsatz sinnvoll ist. Die technologische Entwicklung schreitet voran, Stichwort nicht zuletzt künstliche Intelligenz und Wearables. Es ist richtig, erst mal zu erproben, wie die Anwendung idealerweise ausgestaltet werden kann, welche neuen Versorgungsprozesse sich anbieten und so weiter. Mit Projektitis ist aber gemeint, dass wir mehrfach bereits Erprobtes beziehungswiese Erwiesenes immer wieder neu auf den Prüfstand stellen. Und wir haben, Stichwort Innovationsfonds, eine gewisse Lücke zwischen der Anzahl der geförderten Projekte und der Projekte oder Anwendungen, die es dann tatsächlich in die Regelversorgung schaffen. Die Gründe dafür sind sicherlich vielfältig.

Aus Sicht des Innovationsfonds müssen wir auch darauf schauen, welche Projekte einen Nutzen wirklich evidenzbasiert nachweisen können und welche nicht. Bezüglich des Evidenznachweises gibt es unterschiedliche Meinungen, wann dieser hinlänglich erbracht ist. Ganz konkret geht es bei der Projektitis um die Projekte, die einen klaren Nutzennachweis erbracht haben, aber dennoch nicht in der Regelversorgung angekommen sind.

Der Zeitraum von einem positiven Nutzennachweis bis hin zu einer Etablierung in der Regelversorgung ist in Deutschland recht lang. Und es soll meiner Kenntnis nach auch dazu in Kürze eine Publikation erfolgen, im Rahmen derer diese Zeiträume systematisch nachgehaltenen wurden. Um die Frage noch direkter zu beantworten: Der Innovationsfonds ist dazu angehalten, die betreffenden Akteurinnen und Akteure bei der Entscheidung, inwieweit der Schritt in die Regelversorgung sinnvoll ist, einzubinden. Dementsprechend haben wir ein sehr komplexes System an Beteiligten und sehr lange Entscheidungsprozesse, nicht zuletzt aufgrund unseres vielfach gegliederten und fein strukturierten, hochregulierten Gesundheitssystems.

Was bringen die kürzlich veröffentlichten eHealth-Gesetze (DigiG und weitere Reformen) für die Telemedizin?

Es hat in der Vergangenheit sehr viele Gesetze gegeben. Aktuell reden wir ja zum Beispiel über das Gesetz zur Einführung einer Digitalagentur (GDAG). Insgesamt hat der Gesetzgeber in den letzten Jahren eine Reihe an Gesetzen zur Förderung der telemedizinischen Versorgung formuliert. Aber man muss auch konstatieren, dass ein Gesetz zwar eine wichtige Grundlage dafür ist, dass Telemedizin überhaupt in die Anwendung kommen kann, aber bei weitem nicht der einzige Faktor.

Es braucht eine systematische Akzeptanzarbeit. Und das ist ein Kernanliegen der Deutschen Gesellschaft für Telemedizin, die das Ziel verfolgt, Telemedizin in die Anwendung zu bringen und die Akzeptanz zu steigern. Es muss Hand in Hand gehen: Kluge Gesetze und Akzeptanz für Telemedizin. Hinzu kommen regulatorische Aspekte. Dazu hat die DGTelemed vor allem für den Anwendungsbereich Telemonitoring einige Vorschläge unterbreitet und Positionspapiere verfasst (Positionspapier vom Juli 2023)

Was müsste sich ändern, damit die Telemedizin weiter zum Einsatz kommt und das Gesundheitswesen entlasten kann?

Auch das ist ein großes Gebiet. Wir denken, dass man vor allem sehr viel in Richtung Akzeptanzarbeit tun muss, also den Nutzen telemedizinischer Anwendung gemeinsam mit den und für die Anwenderinnen und Anwendern aus dem Gesundheitswesen verdeutlichen. Man muss dabei an aktuelle Entwicklungen anknüpfen. Wir hatten bereits das Thema Veränderung der Krankenhausstrukturen, Zunahme der chronisch Kranken und Entlastung der Haus- und Facharztpraxen. Die Technologien sind da, auch die Regulatorik hat sich weitgehend geändert.

Beim Telemonitoring sehen wir aber noch größeren Entwicklungsbedarf. Wenn man chronisch Kranke mit Telemonitoring besser versorgen will, dann gibt es aus unserer Sicht noch einiges zu tun, auf das wir aber auch schon konkret hingewiesen haben, nicht zuletzt bei den nationalen Fachkongressen Telemedizin in den Jahren 2023 und 2024.

Was leistet Telemedizin nicht?

Eine wichtige Frage. Bei der Telemedizin geht es eben nicht darum, Haus- oder Fachärztinnen und -ärzte zu ersetzen. Vielmehr geht es darum, ärztliche Ressourcen effizienter und patientenorientierter einzusetzen. Die Videosprechstunde beispielsweise kann, was Pflegeheimbesuche anbetrifft, wirklich Zeit sparen, insbesondere an den Stellen, an denen die Versorgung sehr aufwendig ist, wie nachts und am Wochenende. Und sie ermöglicht eine standortunabhängige Medizin.

Das heißt, wir können viel besser bisher unterversorgte Regionen durch Ressourcen aus anderen Regionen mitversorgen. Was Telemedizin nicht leistet und nicht leisten soll, ist Präsenzmedizin dort zu ersetzen, wo sie erforderlich ist, also zum Beispiel bei personengebundenen Dienstleistungen in der Medizin.

(mack)