Interview: Verschwende niemals eine gute Krise – Low Code, Agile und Kreativität

Seite 2: Sei kein Frosch. Spring raus, bevor du gekocht wirst

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Es gibt diese berühmte Metapher vom Frosch im kochenden Wasser. Das Wasser wird heißer und heißer, aber er merkt es nicht und springt nicht heraus. Und dann kocht der Frosch. Man muss aus dem Wasser springen, bevor man gekocht wird. Es kam mir sehr gelegen, dass ich so viele Anfragen für Veranstaltungen und Konferenzen hatte. Ich musste die meisten davon ablehnen, weil es einfach überwältigend war. Es war toll, es war cool, und ich hatte Spaß, aber dann ist es einfach, nicht zu sehen, was um einen herum passiert, dass das Wasser langsam kocht. Da ist diese Pandemie, die auf uns zukommt. Vielleicht bemerkt man die Anzeichen nicht, und irgendwann ist das Wasser zu heiß.

Es fühlt sich gut an, eine neue Fähigkeit zu entwickeln. Ich bin davon ausgegangen, dass meine Finger nur zum Tippen auf Tastaturen da sind und für nichts anderes. Jetzt stellt sich heraus, dass ich gut bin im Malen. Inzwischen habe ich viele Wände und Räume gestrichen und freue mich schon auf das nächste Malerprojekt. Dank Corona habe ich mich in einem Bereich weiterentwickelt, der mir gar nicht bewusst war. Das ist ein Denkanstoß für andere: Vielleicht hast du verborgene Fähigkeiten oder Dinge, von denen du denkst, dass du sie nicht magst, aber eigentlich könntest du anfangen, sie zu mögen, wenn du sie einfach ausprobierst. Vielleicht braucht es eine Krise, um sie auszuprobieren.

heise Developer: Jetzt haben wir über die Krise als Motor für Veränderung gesprochen, aber Krisen sind ja nur eine Möglichkeit, um Kreativität anzustoßen, und sie sind eher chaotisch. Gibt es ein Werkzeug aus der Praxis, das du besonders nützlich findest?

Appelo: Interessante Frage, denn das Agile Manifest stellt Menschen und Interaktionen über Prozesse und Werkzeuge. Es geht um die Menschen, aber die müssen miteinander kommunizieren, und dafür sind Werkzeuge erforderlich. Ohne sie sind wir nicht in der Lage, miteinander zu kommunizieren. Wir benutzen jetzt die englische Sprache als Werkzeug. Tools müssen die individuellen Interaktionen unterstützen, versteht sich. Nicht umgekehrt.

Um noch einmal die Brücke zur Malerei zu schlagen: Mir ist aufgefallen, dass es gar nicht so wichtig ist, den perfekten Pinsel oder die perfekte Farbrolle zu finden, denn der Großteil der Technik liegt in der Hand des Malers. Entscheidend ist, wer malt – welche Art von Techniken und Verfahren dieser Mensch lernt und anwendet. Dann sind die meisten Pinsel und Farbroller in Ordnung. Leute verbringen manchmal zu viel Zeit damit, nach dem besten Werkzeug zu fragen. Ein guter Koch kann in jeder Küche ein großartiges Gericht zaubern, ohne die besten Messer und die besten Töpfe und Pfannen zu haben.

Dennoch habe ich in den letzten zwei Jahren einige Dinge entdeckt, die mir sehr geholfen haben. Ich bin ein Fan von No-Coding- beziehungsweise Low-Code-Plattformen geworden. Eine meiner Lieblingsplattformen ist Airtable, eine andere Integromat.

Warum dies meine Lieblingstools sind: Mit ein paar schnellen Klicks kann ich einen Prototyp einer Idee für eine neue Anwendung erstellen, Dinge verbinden und etwas Grundlegendes zum Laufen bringen, ohne eine Zeile Code einzugeben. Das ist das Versprechen von Low-Code- und No-Code-Plattformen. Der Code ist auf eine niedrigere Ebene verlagert, und dann wird jeder zum Programmierer. Wie bereits gesagt, hatte ich innerhalb kurzer Zeit den Prototyp für eine Idee zum Laufen gebracht. Ich habe sogar ein Video davon gemacht und auf YouTube gestellt. Zwei, drei Wochen später hatte ich ihn mit Airtable und mehreren dieser No-Code-Plattformen auf den Markt gebracht. Die Leute geben Feedback zur Idee, zum Prototyp, zum Minimum Viable Product, und ich habe keine einzige Zeile Code geschrieben!

heise Developer: Du hast als professioneller Softwareentwickler angefangen, der das Programmieren mag und genießt. Wie passt das zusammen mit einer Vorliebe für Low Code? Empfiehlst du gestandenen Entwicklern etwa, das auszuprobieren?

Appelo: Ja, auf jeden Fall. Weil man schneller Ergebnisse erzielen kann als mit Sprachen der dritten oder vierten Generation. Wir wollen schnelles Feedback zu unseren Ideen, denn neun von zehn Ideen funktionieren nicht und man muss sie verwerfen. Eine große Verschwendung, wenn man viel Zeit mit dem Programmieren verbringt. Oft wollen wir den selbst geschriebenen Code nicht wegwerfen, weil wir an ihm hängen, Zeit und Energie darauf verwendet haben. Dann fühlen wir uns schlecht, wenn wir ihn wegwerfen.

Warum zählt man nur dann als Programmierer, wenn man Zeilen von Code schreibt? Ich bin jetzt ein erfahrener Benutzer von Airtable. Ich verwende Ansichten, Abfragen, Filter und Sortierung. Auch denke ich, dass ich bei der Verwendung von Airtable viel von meinem ursprünglichen Talent, Datenbanken zu verstehen und Abfragezeichenfolgen zu verstehen, einsetze. Heißt das jetzt, dass ich kein Programmierer mehr bin? Ich wage zu behaupten, dass ich ein Programmierer bin, allerdings auf einer höheren Ebene.

heise Developer: Low-Code-Plattformen siehst du also mehr als Werkzeuge zum Automatisieren der Abläufe beim Programmieren?

Appelo: Genau. Man sieht visuell, wie die Daten von einem Ort zum anderen fließen, dann werden sie aufgeteilt, man erstellt Filter, und das ist so cool. Hier kommt eine E-Mail an, dort wird ein Datensatz erstellt, und dort wird ein Tweet versendet – all das lässt sich durch visuelles Ziehen miteinander verbinden. Das ist auch Programmieren, denke ich.

Als ich von 1987 bis 1994 an der Universität Delft arbeitete und studierte, stand ein Versprechen im Raum. Damals haben wir visuell programmiert und hatten Kurse darin. So langweilig! Man hatte Flussdiagramme, die man miteinander verbinden musste, sehr klobig und umständlich. "Warum nicht einfach Pascal benutzen?", dachte ich bei mir. "Viel einfacher und schneller..." Erst dreißig Jahre später wurde das Wirklichkeit. In den 80er Jahren haben wir es versucht, Katastrophe. Eine Zeit lang hörte man nichts mehr vom Visuellen Programmieren. Aber jetzt mache ich das in Integromat, und es funktioniert wunderbar.

heise Developer: Inzwischen gibt es KI-gestützte Möglichkeiten wie Codex und GitHub Copilot, und bald werden Programme noch besser in der Lage sein, Anweisungen in natürlicher Sprache in Code zu übersetzen. Dagegen sieht Low Code doch alt aus. Wie siehst du diese Entwicklung? Ist das ein brauchbarer Weg dafür, dass Menschen ihre Kreativität besser nutzen können?

Appelo: Gewiss. Wenn man mehr Schichten auf den Stapel legt, ist irgendwann jeder ein Programmierer. Mein Cousin ist ein Programmierer, wenn er versucht, tägliche Routinen mit Google Home oder Alexa zu erstellen. Wenn er das Haus betritt, sollen alle Lichter angehen, das ist Programmieren. Und gleichzeitig ist er kein Programmierer. Wir bekommen Werkzeuge, um das mit der Denkweise eines Programmierers zu tun, so dass wir immer mehr Menschen zu Programmierern machen. Ingenieure können wählen, womit sie sich am wohlsten fühlen.

Ich fühle mich wohl, wenn ich in der Hierarchie aufsteige und keine Codezeilen mehr schreibe. Aber andere Ingenieure schätzen diese Art von Dingen. Es gibt Leute, denen Maschinensprache taugt. Manche lieben C++ oder eine andere Sprache, und das ist auch gut so, denn wir brauchen das weiterhin. Es gibt immer noch Chips, die hergestellt werden müssen. Es gibt immer noch Programmierung.