Interview: Verschwende niemals eine gute Krise – Low Code, Agile und Kreativität

Seite 3: Alter Wein in neuen Schläuchen: Agile Sterbehilfe für verkorkste Organisationen

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heise Developer: Du hast einmal kritisiert, dass einige Consultinganbieter "alten Wein in neuen Schläuchen" verkaufen. Sind das Ausreißer, oder gibt es in der agilen Szene ein grundlegenderes Problem mit Etikettenschwindel?

Appelo: Ich bin ein Optimist. Das ist eine Nebenwirkung, die sich daraus ergibt, dass Unternehmen oft gezwungen sind, agil zu sein und geschäftliche Agilität erreichen müssen. Man kann nicht mehr nicht agil sein – sonst stirbt man als Organisation. Die Unternehmen bemühen sich, agiler zu werden, und einige stellen die falschen Leute ein, die ihnen alten Wein in neuen Schläuchen verkaufen. Das ist schade für sie, lässt sich aber mit guter Recherche vermeiden. Der größere Kontext ist ja: Die Geschäftswelt wandelt sich, und einige werden auf der Strecke bleiben. Das ist nicht unbedingt schlecht. Warum sollten schlechte Organisationen weiterbestehen? Einer meiner Freunde sagte: "Ich hoffe, dass sie aussterben. Ich möchte ihnen dabei helfen, ersetzt zu werden." Die Mitarbeiter kündigen ab einem gewissen Punkt und gehen zu anderen Organisationen, die besser funktionieren. Kein Problem. Einen Hinweis ist es aber wert: Es gibt agiles Theater, es gibt Fake Agile und Fake Scrum. Wie bei den Fake News – wann immer etwas populär ist, sind Fälschungen zu finden. Manche Leute versuchen, auf der Welle zu reiten, ohne sich anzustrengen.

heise Developer: Du hast auch etwas Neues im Gepäck. Was steckt hinter UnFix?

Appelo: In den letzten paar Jahren sind ein paar Dinge aufgetaucht, die wirklich gut waren: Team Typologies und Dynamic Re-Teaming. Das beschreibt, wie sich Teams kontinuierlich reformieren können und wie das der gesamten Organisation zugute kommt. Darüber hatte ich dann Einsichten, wie eine Organisation aussehen könnte. Das UnFix-Modell ist ähnlich wie Legosteine, die man auf unterschiedliche Weise kombinieren kann, um ein eigenes Organisationsdesign zu schaffen. Darin unterscheidet es sich von SAFe, denn SAFe kommt mit einem fertigen Bild daher, das sagt: "So sollte Ihre Organisation aussehen". Stattdessen versuche ich, viele verschiedene Bilder anzubieten, die die gleichen Bausteine verwenden. Der Ansatz scheint den Menschen zu gefallen. Darauf werde ich mich in den nächsten Jahren konzentrieren.

heise Developer: Was kommt als Nächstes bei dir, wirst du wieder mehr reisen?

Appelo: Einige Veranstaltungen werde ich machen, aber nicht so viele wie 2019, habe ich mir vorgenommen. Ein bisschen entspannter will ich es angehen.

heise Developer: Also planst du nicht, wieder an 250 Tagen unterwegs sein?

Appelo: Gott bewahre, nein! Das sollte eine schöne Sache sein – nicht etwas, was man tun muss, um zu überleben. Und das hat sich dank der Pandemie so ergeben, sonst würde ich immer noch Management-3.0-Vorträge halten. Aber Corona hat mich in die Lage versetzt, mich neu zu erfinden, und eine neue Methode zu entwickeln, wie Menschen ihre Unternehmen organisieren können.

heise Developer: Unsere Art, zu arbeiten, hat sich ja insgesamt stark verändert seither. Hast du abschließend noch einen Tipp für uns auf Lager für besseres Arbeiten?

Appelo: Das Pendeln ist für viele Menschen der meistgehasste Teil des Tages. Die Fahrt ins Büro und die Rückkehr nach Hause – das mögen die Wenigsten. Aber es erfüllt einen Zweck, es dient dem Grenzübergang. Man wechselt von einer Identität zur anderen. Man wird von einem Vater oder einer Mutter zum Kundenbetreuer und so weiter. Für die Menschen ist wichtig, dass sie diese Übergänge zwischen einer Rolle und der anderen haben. Problematisch wird es, wenn sich die verschiedenen Rollen ineinander verheddern und man versucht, alles gleichzeitig zu machen. Dann verschwimmen die Dinge und das führt zu Burn-out und anderen negativen Begleiterscheinungen. Unterteilung ist wichtig.

Wir müssen unseren Tag in Abschnitte unterteilen, in denen wir uns auf eine Aufgabe konzentrieren können, und dann einen Übergang zu einer der anderen Aufgaben schaffen. Eine Tasse Kaffee kochen, eine Zigarette rauchen oder von einem Zimmer ins andere gehen. Man bringt seinem Gehirn bei, von einer Rolle in die andere zu wechseln. Aus meiner Sicht ist das der Schlüssel, den wir als Mensch begreifen müssen, denn die Welt ist komplex, und wir werden von so vielen Dingen angegriffen, von all diesen Signalen, die unsere Aufmerksamkeit erregen wollen. Wir müssen uns selbst beibringen, uns auf den Moment zu konzentrieren.

Von Neun bis Fünf zu arbeiten war eine altmodische Art, unsere Rollen und diese Grenzen zu verwalten. Das brauchen wir nicht mehr. Aber wir haben die Verantwortung, unsere Grenzübergänge bewusst zu gestalten und zu verstehen, dass wir verschiedene Rollen innehaben. Manchmal bin ich ein Freund, manchmal bin ich der Partner meiner Frau, ein anderes Mal bin ich Schriftsteller, Redner oder Workshop-Leiter: Dann muss ich in dem Moment da sein, nur das tun und darf mich nicht von den drei, vier, fünf, sechs anderen Rollen ablenken lassen, sonst wird man verrückt. So funktioniert es.

heise Developer: Also sind Menschen, die scheinbar mit Multitasking gut klarkommen, einfach gut im Einteilen ihrer Aufgaben?

Appelo: Ja, Slow-Motion-Multitasking. Wir sind Multitasking-Wesen, aber wir teilen die Projekte, an denen wir arbeiten, auf. Für uns Menschen ist es vorteilhaft, an mehreren Projekten beteiligt zu sein, weil sich die Ideen dann gegenseitig befruchten. Nur, wenn wir verschiedene Dinge verfolgen, können wir innovativ sein. Aber wir sollten nicht versuchen, alles gleichzeitig zu tun. Darin ist das menschliche Gehirn nicht gut. Das ist meine Botschaft zum Mitnehmen.

heise Developer: Jurgen, danke für das inspirierende Gespräch!

Das Interview führte Silke Hahn, Redakteurin von heise Developer.

(sih)