Interview: Verschwende niemals eine gute Krise – Low Code, Agile und Kreativität

Der Informatiker Jurgen Appelo erzählt im Interview von Sterbehilfe für dysfunktionale Unternehmen und wieso er zugleich Programmieren und Low Code liebt.

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(Bild: Alones/Shutterstock.com)

Lesezeit: 24 Min.
Von
  • Silke Hahn
Inhaltsverzeichnis

IT-Fachleute hätten ihren Teamleitungen sicher öfter mal ein Wörtchen mitzuteilen zu gelungener oder missglückter Projektführung – wenn diese ihnen denn zuhörten. Doch greifen die meisten Softwareentwickler nicht gleich zur Feder, und in den wenigsten Fällen würde wohl ein Bestseller daraus, den Führungskräfte auch lesen. heise Developer hat im Vorfeld der Fachkonferenz inside agile den niederländischen Informatiker Jurgen Appelo zum Gespräch eingeladen, der nicht nur technisch versiert ist, sondern auch Sachbücher zu Führungsthemen geschrieben hat, die Resonanz finden.

Was ihn zum Schreiben anspornte, sein Verhältnis zu den "agilen Gurus" und zum Agilen Manifest, aber auch seine Vorlieben beim Programmieren sowie Low Code und Bloggen sind Teil des Gesprächs, das im Original auf Englisch stattfand.

heise Developer: Jurgen, du hast schon viele Rollen eingenommen im Berufsleben: Autor, Sprecher, Unternehmer, aber auch Softwareingenieur und CIO großer Entwicklerteams. Was genau machst du heute beruflich, und welcher Weg führte dich dorthin?

Interviewgast Jurgen Appelo

Jurgen Appelo ist ein niederländischer Serienunternehmer, Autor und Redner sowie Informatiker. Er gilt als Experte für agile Leadership-Themen und bezeichnet sich selbst als kreativen Netzwerker. Neben seinem Blog schreibt er Bücher, unter anderem "Management 3.0", "Startup, Scaleup, Screwup" und "Kreativ Denken, beherzt Machen, erfolgreich Skalieren – 42 Werkzeuge für Führungskräfte, die sich und ihre Organisation verbessern möchten".

Jurgen Appelo: Ursprünglich bin ich Softwareingenieur. Ich habe an der Technischen Universität in Delft studiert, Softwaretechnik und Informatik. Ein echter Nerd oder Geek war ich aber nie. Ich programmiere für mein Leben gern, doch meine Interessen waren zu breit gefächert. Ich mag auch Buchhaltung, Marketing und Führung, das Erstellen von Inhalten. Bei so vielen Interessen kann man nicht mit allem Schritt halten, was in der Technologie passiert. Seit zwölf Jahren habe ich keine einzige Zeile Code mehr geschrieben. Vielleicht werde ich eines Tages, wenn ich alt bin, als Hobby zum Programmieren zurückkehren.

heise Developer: Was war deine erste Programmiersprache als Einstieg ins Coden?

Appelo: Basic, auf meinem Commodore 64. Meinen C64 kannte ich in- und auswendig, den liebe ich innig. Darauf habe ich auch ein bisschen Maschinensprache gemacht, an der Universität bin ich zu Turbo Pascal übergegangen. Danach habe ich andere Sprachen gelernt, C++ und sogar ein bisschen COBOL.

heise Developer: COBOL ist doch neuerdings wieder gefragt wegen Legacycode. Mit einem zwinkernden Auge: Wie wäre es damit für den Ruhestand später?

Appelo: Nein, danke. Das war 1987 und mir war damals schon klar, COBOL ist schrecklich. Ich habe mich auf Turbo Pascal konzentriert und bin dann zu Microsoft .NET übergegangen, danach habe ich aufgehört. Ich wurde Manager, war Chief Information Officer und leitete bis zu 100 Leute in mehreren Softwareteams – auch Projekt- und Produktmanager war ich. Als 2010 mein Buch "Management 3.0" erschien, habe ich meinen Job gekündigt und mich selbstständig gemacht. Das hat mein Leben verändert. Seither bin ich selbstständig als Redner, Autor, Unternehmer. Ich habe alle möglichen Dinge ausprobiert. Manches funktioniert, manches nicht – so ist das eben.

Für Führungskräfte und Product Owner: Fachkonferenz inside agile

Jurgen Appelo ist Keynoter bei der agilen Konferenz "inside agile" am 3. und 4. Mai 2022 (Online).

Kaum ein Unternehmen kommt heute noch ohne agile Arbeitsweisen aus, viele Teams haben mittlerweile agile Methoden im Einsatz. Häufig müssen sie jedoch feststellen, dass sie damit nicht automatisch schneller, beweglicher und effizienter werden. Die inside-agile-Konferenz greift das Problem auf und zeigt, welche Lösungen sich in der Praxis bewährt haben.

Die Themen der beiden Online-Tage lassen sich dem Programm entnehmen. Im Fokus stehen folgende Fragen:

  • Welcher Führungsstil passt zu mir und wie kann ich mich als Leader weiterentwickeln?
  • Wie verbessere ich die Arbeit selbstorganisierter Teams und deren Zusammenarbeit?
  • Welche Methoden und Ideen helfen mir, das gesamte Unternehmen agiler zu gestalten?

Die Konferenz richtet sich an Führungskräfte aller Ebenen, Produktverantwortliche sowie Menschen in agilen Rollen wie Scrum Master, Product Owner oder Agile Coaches. Tickets sind zum Preis von 449 Euro (zzgl. MwSt.) auf der Website verfügbar und gewähren Zugang zu beiden Konferenztagen.

heise Developer: Was hat dich dazu bewogen, dieses Buch zu schreiben?

Appelo: Eigentlich wollte ich ein Buch über Komplexitätsforschung schreiben, weil ich mich Ende der 90er, Anfang der 2000er Jahre für Chaostheorie und Komplexität interessiert habe. 2001 kam Agile auf, und ich interessierte mich aus beruflichen Gründen dafür. In den nächsten zehn Jahren führte ich in meinem Job als CIO Scrum in meiner Organisation ein und lernte, wie man als Manager in einem agilen Kontext arbeitet. Und mir ist aufgefallen, dass dieses Thema von keinem der "Gurus" damals wirklich angesprochen wurde. In den ersten Jahren konzentrierten die sich hauptsächlich auf die Teamebene.

heise Developer: Wen meinst du mit Gurus?

Appelo: Die Autoren des Agilen Manifests, Jim Highsmith, Ken Schwaber, Kent Beck, Martin Fowler… die hatten alle einen technischem Schwerpunkt. Damals habe ich alle Bücher zum Thema verschlungen. Aber man kann nicht mal eben die Arbeitsweise von Softwareteams ändern ohne den Rest der Organisation, damit hatte ich als Leiter mehrerer Teams zu kämpfen. Es gab fast nichts zu dem Thema. Irgendwann bin ich voll eingestiegen, der Perspektivwechsel half: Wie agieren Management und Führungskräfte in der agilen Welt? Hier war ein Problem, das gelöst werden musste, und das Thema war noch unbesetzt.

Durch meine Beschäftigung mit Komplexitätsforschung und Systemdenken verfügte ich über einen soliden Hintergrund für das Buch. Die Kombination hat gut funktioniert: Systemdenken und Agile passen hervorragend zusammen. Ich konnte die Managementaspekte erklären, da ich mich von der Verwaltung komplexer Systeme inspirieren ließ. Ich bin immer noch stolz auf das Buch, es hat mich einige Jahre gekostet. Dass es so ein Renner würde, hätte ich allerdings nicht erwartet. Es war das erste Buch, das ich veröffentlicht habe. Ein paar Jahre zuvor hatte ich mich an einem Roman versucht, was aber in die Hose ging.

heise Developer: Was war dein Antrieb, es mit einem Sachbuch erneut zu probieren?

Appelo: Als Manager versuchte ich herauszufinden, wie ich meiner Organisation zum Erfolg verhelfen kann, und mir stand nicht viel an Literatur zur Verfügung – abgesehen von allgemeinen Management- oder Führungsbüchern. Die hatten keinen technischen Blickwinkel. 2008 begann ich mit einem Blog, noop.nl, und ein paar Jahre lang habe ich nur Blogeinträge geschrieben. Kurze Textstücke, zu denen ich Feedback bekam. Das lässt sich als ein agiles Prinzip außerhalb der Softwareentwicklung erklären: Wenn du ein Buch schreibst, beginne mit einem Blog! Während des Schreibens kann man herausfinden, was die Leute am interessantesten finden. Worauf bekommt man das beste Feedback? Und wozu erhält man Korrekturen und neue Erkenntnisse?

Zu dieser Zeit gab es noch nicht einmal Social Media, damals hat jeder Blogs veröffentlicht. Der kurze Feedbackzyklus ist etwas, was ich von den agilen Gurus gelernt hatte. Aber sie haben es vor allem auf die technische Seite der Dinge angewandt, um schnelles Feedback zur Programmierung zu bekommen: ob Funktionen funktionieren oder nicht, ob sie von den Benutzern genutzt werden oder nicht. Das gleiche Prinzip habe ich auf Management und Führung angewandt: Wie bekommt man schnelles Feedback von der Teamleitung? Das Prinzip blieb dasselbe, die Praxis war völlig anders. Als ich meine Stelle antrat, lag die Fluktuation in der Firma bei 15 Prozent, Ingenieure und andere haben oft gekündigt. Ich habe es geschafft, sie wieder auf Null zu senken.

heise Developer: Wie habt ihr das bewerkstelligt?

Appelo: Niemand wollte mehr kündigen. Dass wir Scrum einführten, trug dazu bei, dass sich die Teams selbst organisieren, ihre eigene Planung, Stand-up-Meetings und Retrospektiven machten. Es war neu und aufregend, Teil dieses Wandels zu sein. Lustig war, dass wir damals einen großen offenen Büroraum hatten, in einem berühmten Gebäude in Rotterdam, das zu einem Büroraum umgestaltet worden war. Der Rest des Unternehmens sah die Technik-Abteilung bei Stand-up-Meetings und ähnlichen Aktionen. Ein großer offener Raum, wo alle einander sehen können. Ich mag diese Art von Umgebung, aber nicht jeder fühlt sich damit wohl. Irgendwann haben die Vertriebs- und die Marketingabteilung auch Stand-up-Meetings abgehalten, weil sie uns dabei auf der anderen Seite des Raums gesehen hatten. Das war ziemlich cool.

Plötzlich sah ich sie auf der anderen Seite des Büros Stand-ups machen und fragte mich, was zum Teufel da los ist. Über die Raucher hatte es sich wohl herumgesprochen, die kamen abteilungsübergreifend außerhalb des Gebäudes zusammen.

heise Developer: Zwei entscheidende Elemente treten hervor – Architektur kann hilfreich sein, und Raucherpausen waren es offenbar auch: Siehst du eine Verbindung zwischen solchen Pausen und Kreativität?

Appelo: Das sind unbeabsichtigte, aber nützliche Nebeneffekte von eigentlich schädlichen Dingen. Großraumbüros sind auch nicht so gut für die Gesundheit, wie man inzwischen weiß – haben aber auch ein paar Vorteile: Man kann buchstäblich sehen, was auf der anderen Seite des Unternehmens vor sich geht.

heise Developer: Die Pandemie hat uns in die Vereinzelung geschickt. Wie war diese Zeit für dich?

Appelo: Seit 2011 arbeite ich remote. Ich habe mein Zuhause und ich reise viel, habe auf Konferenzen und Veranstaltungen auf der ganzen Welt gesprochen und Workshops gegeben. Ich hatte auch einige Unternehmen ins Leben gerufen, Lizenzen rund um meine Kursunterlagen, was recht gut lief. Im Jahr 2019 war ich an etwa 250 Tagen auf Reisen, ein Wahnsinn. Ich hatte viele verschiedene Kunden und Auftraggeber, war von niemandem abhängig. Als Unternehmer will man nicht von einem einzigen Großkunden abhängig sein, das wäre riskant. Damals dachte ich, ich hätte alles im Griff. Mir war nicht bewusst, dass ich eine Achillesferse hatte, nämlich das Reisen.

Durch Reisen habe ich Geld verdient, und plötzlich hörte das im März 2020 auf. Alle Termine waren innerhalb weniger Wochen gestrichen. Mein gesamtes Einkommen für das Jahr hat sich in Luft aufgelöst, von einem Moment auf den anderen. Das hatte enorme Auswirkungen auf mich und mein Geschäft. Zum Glück hatte ich noch andere Dinge am Laufen, die Lizenzeinnahmen aus meinen Workshops, Tantiemen aus Büchern. Aber das Wichtigste waren die Veranstaltungen gewesen, die zu verlieren war schmerzhaft. Aber verschwende niemals eine gute Krise. Das war der Moment, um etwas Neues auszuprobieren. Ich war zwei Jahre lang hauptsächlich zu Hause und habe andere Möglichkeiten getestet, Einnahmen zu erzielen. Heute bin ich besser aufgestellt – weniger abhängig vom Reisen.

Eine Sache habe ich gelernt: Wahrscheinlich gibt es immer eine Achillesferse, egal, was man tut, und man sollte sich dessen bewusst sein. Wer hätte gedacht, dass die Reisetätigkeit plötzlich so stark zurückgehen würde, weltweit und global. Damit hätte ich nie gerechnet. Aber ich profitierte von meiner Erfahrung mit der agilen Praxis: Innerhalb von zwei, drei Wochen hatte ich den Prototyp eines neuen Geschäfts am Laufen, und seitdem habe ich nachjustiert.