Debatte über nachhaltige Energie: Wie viel Erdgas ist künftig nötig?

Auch Erdgaskraftwerke belasten aufgrund des entweichenden Methans das Klima. Dennoch will die EU-Kommission in ihrer Taxonomie Erdgas als nachhaltig einstufen.

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Das Innere eines Behälters für Flüssig-Erdgas (LNG).

(Bild: Freek van Arkel/VISUM)

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Wer die Zukunft der Gaswirtschaft im deutschen Stromsektor ergründen will, muss vor allem eines tun: rechnen – und gezielt jene Stunden im Jahresverlauf suchen, in denen Wind und Photovoltaik ihre Tiefstwerte erreichen und dann schauen, was noch an Leistung fehlt. Das nennt man „Residuallast“.

Bei der Suche stößt man zum Beispiel auf den 9. März 2021. Gegen 18 Uhr brachten Wind und Sonne zusammen in Deutschland gerade mal eine Leistung von zwei Gigawatt. Fast 70 Gigawatt mussten durch andere Quellen beigesteuert werden. Zieht man davon grob 10 Gigawatt ab, die aus Biomasse und Wasserkraft inklusive der Pumpspeicher verlässlich verfügbar sind, bleiben 60 Gigawatt, die zu diesem Zeitpunkt atomar-fossil erzeugt oder importiert werden mussten.

Die wichtigste Erkenntnis dieser Kalkulation: Selbst ein massiver Ausbau von Wind- und Solaranlagen hätte den Bedarf an konventionellen Kraftwerken – und den damit verbundenen Treibhausgasemissionen – in der besagten Stunde kaum reduziert. In der politischen Debatte um die Erneuerbaren geht das oft unter.

Zudem wird der Strombedarf, etwa durch E-Autos und Wärmepumpen, noch steigen: Für 2023 prognostiziert die Bundesnetzagentur eine Spitzenlast von 81,8 Gigawatt, für 2050 rechnet die Deutsche Energieagentur Dena in ihrer Leitstudie "Integrierte Energiewende" 100 bis 160 Gigawatt, je nach Szenario.

Noch gibt es reichlich Überkapazität im konventionellen Kraftwerkspark. Doch 2022 geht das letzte Atomkraftwerk und spätestens 2038 der letzte Kohlemeiler vom Netz. Und Pumpspeicher und Batterien können auf absehbare Zeit nicht die nötigen Kapazitäten aufbringen.

Bleibt also Erdgas. Die bestehenden Kraftwerke leisten heute allerdings lediglich rund 30 Gigawatt. Das könnte knapp werden. "Für Gaskraftwerke brechen neue Zeiten an", prognostiziert die Unternehmensberatung Enervis Energy Advisors: Ein Zubau neuer Gaskraftwerke rücke "bereits deutlich vor 2030 ins Blickfeld". "Die viel zitierte Brückentechnologie Gas könnte in diesem Umfeld eine Renaissance erleben", sagt Analyst Mirko Schlossarczyk.

Klimaschützer hingegen wollen Erdgas in den kommenden Jahrzehnten am liebsten komplett ausmustern, wie alle anderen fossilen Energien auch. Greenpeace etwa fordert das Erdgas-Ende schon für 2035. Würde darunter die Versorgungssicherheit leiden? Davor warnt Henrik Paulitz. Seit Jahrzehnten ist er in der Energie-, Ressourcen- und Friedensforschung tätig, engagierte sich einst bei Robin Wood und den Ärzten gegen den Atomkrieg. Nun hat er über die von ihm gegründete Akademie Bergstraße das viel beachtete Buch "Strommangelwirtschaft" publiziert. Darin äußert er die Befürchtung, durch eine Gesetzgebung, die Gaskraftwerke unattraktiv macht, könnten "Gas-Reservekraftwerke ab 2023 bei Weitem nicht in hinreichendem Maße zur Verfügung stehen".

Paulitz fürchtet auch, dass Neubauten oder bestehende Gaskraftwerke durch öffentliche Proteste unter Druck geraten könnten. Das Propagieren einer solchen "Gaswende" sei "ein gefährliches Spiel mit dem Feuer, welches die Versorgungssicherheit gefährdet" – zumal das Versprechen, man könne fossiles Erdgas kurzfristig und in ausreichender Menge durch synthetisches Gas oder Wasserstoff ersetzen, "unseriös" sei.

Von einem Zubau an Gaskraftwerken geht auch die Denkfabrik Agora Energiewende aus. "Wir werden bis 2030 rund 20 Gigawatt neue Gaskraftwerkskapazitäten brauchen", sagt Ingenieur Thorsten Lenck. Mehr sei allerdings nicht nötig, sofern sichergestellt sei, dass alle zusätzlichen Verbraucher – etwa Wärmepumpen und Kraftfahrzeuge sowie auch Elektrolyseure zur Wasserstoffgewinnung – so flexibel einsetzbar sind, dass sie zu Engpasszeiten keinen Strom ziehen.

Hinzu kommen in den Agora-Simulationen auch nach dem grundsätzlichen Kohleausstieg weiterhin Kohlekraftwerke als Netzreserve. "Die Anlagen befinden sich dann außerhalb des Marktes und laufen allenfalls wenige Stunden im Jahr, sofern Engpässe herrschen", sagt Lenck. Das werde aber so selten der Fall sein, dass die Anlagen für die CO2-Bilanz bedeutungslos seien. Die nötige Leistung und die Laufzeiten der Kohlekraftwerke sind daher in den Agora-Studien auch nicht quantifiziert.

Satellitenbilder zeigen, wo besonders viel Methan in die Atmosphäre entweicht – zum Beispiel in den Öl- und Gasregionen des Nahen Ostens, aber auch in den auftauenden Permafrostböden des hohen Nordens.

(Bild: pulse.ghgsat.com (Screenshot))

Der Thinktank geht zudem davon aus, dass Wasserstoff in den Gaskraftwerken zunehmend an Bedeutung gewinnen und nach 2040 wichtigster Energieträger für die Residualstromerzeugung sein wird. Zugleich rechnet die Denkfabrik aber auch damit, dass Deutschland sich im Jahressaldo vom Stromexporteur zum Stromimporteur wandeln wird.

Constantin Zerger von der Deutschen Umwelthilfe widerspricht: Unter günstigen Bedingungen – mehr Erneuerbare, ausgebaute europäische Stromtrassen, reduzierter Energieverbrauch – sei "ein Zubau von Erdgaskraftwerken nach heutigem Stand gar nicht notwendig".

Wer in dieser Debatte recht hat, ist schwer zu entscheiden. Schließlich ist jedes dieser Szenarien mit einem ganzen Bündel an Annahmen versehen: Strommix, Ausbau des Netzes, alternative Speichermöglichkeiten, Stromverbrauch und so weiter.

Was die Sache zusätzlich kompliziert macht: Erdgas ist nicht gleich Erdgas. Unstrittig ist zwar, dass Methan, der Hauptbestandteil von Erdgas, bei seiner Verbrennung deutlich weniger CO2 ausstößt als andere Kohlenwasserstoffe oder als Kohle. Das liegt an seiner chemischen Zusammensetzung: Bei einem Methan-Molekül (CH4) kommen vier Wasserstoffatome auf ein Kohlenstoffatom. Zudem lässt sich Erdgas in modernen Kraftwerken in zwei Stufen verstromen: Zunächst durch eine Gasturbine, deren Abwärme anschließend eine Dampfturbine antreibt. Das erhöht die Effizienz. Stoßen Kohlekraftwerke im Schnitt rund 1000 Gramm CO2 pro Kilowattstunde aus, sind es bei Erdgas nur gut 400 Gramm.

Noch nicht darin eingerechnet sind allerdings die Vorkettenemissionen – also der Energieverbrauch bei Gewinnung und Transport sowie die Klimaschäden, die durch entweichendes Methan bei Förderung und Transport entstehen. Besonders gravierend sind diese, wenn das Erdgas zum Transport mit Tankschiffen noch verflüssigt werden muss ("Liquified Natural Gas", LNG). Als Faustregel hat das Umweltbundesamt formuliert: "Die Vorkettenemissionen von LNG fallen bei gleichen Herkunftsländern typischerweise höher aus als die von Pipeline-Gas."

So kann etwa australisches Fracking-Gas, das als LNG verschifft wird, einen mehr als sieben Mal so großen CO2-Fußabdruck haben wie konventionelles Pipeline-Gas aus Norwegen. Trotzdem seien die Gesamtemissionen von LNG in der Regel aber "geringer als die von erdöl- und kohlebasierten Energieträgern", so das UBA.

Just auf LNG ruhen aber große Hoffnungen der Transportbranche – gerade dort, wo eine hohe Reichweite gefragt und die Elektrifizierung entsprechend schwierig ist: Langstrecken-Lkw, Fracht- und Kreuzfahrtschiffe. Bei komprimiertem Erdgas ("Compressed Natural Gas", CNG), wie es beispielsweise in Pkws und leichte Lkws getankt werden kann, ist die Energiedichte nicht ganz so hoch, aber dafür sind die Vorkettenemissionen geringfügig besser, da die energieaufwendige Verflüssigung entfällt.

Muss sich Deutschland also rechtzeitig den Nachschub sichern, etwa durch eigene LNG-Terminals an der Nordsee oder durch die Pipeline Nord Stream 2 in der Ostsee? Kritiker wie die Deutsche Umwelthilfe (DUH) fürchten, das Geschäft mit dem fossilen Gas werde durch Investitionen in Kraftwerke und Infrastruktur auf Jahrzehnte zementiert – nach dem Motto: Sind die Anlagen einmal da, werden sie auch benutzt, damit die Investitionen nicht umsonst waren. Schützenhilfe bekommt die DUH dabei vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Es kommt in einem Gutachten für den Naturschutzbund Nabu zum Ergebnis, dass es "weder kurz- noch langfristig eine Deckungslücke in Deutschland und Europa" gebe.

Die Befürworter argumentieren hingegen, dass sich über die Pipelines und LNG-Terminals eines Tages auch synthetische Gase aus Ländern importieren ließen, in denen es Ökostrom im Überfluss gibt. Denn in Deutschland werden die Erneuerbaren auf absehbare Zeit hinten und vorne nicht ausreichen, einen nennenswerten Anteil des Gasbedarfs durch synthetische Gase zu decken, die mit überschüssigem Ökostrom erzeugt werden.

Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Beratungsunternehmens Ecofys im Auftrag des Gasverbandes DVGW. Es hat zahlreiche Szenarien für den Ausbau von Wind- und Sonnenenergie ausgewertet. Sie sagen bis 2050 eine installierte Leistung von 370 bis 430 Gigawatt voraus. Das entspricht einer jährlichen Stromproduktion von 723 bis 874 TWh. Abzüglich des nationalen Strombedarfs in Höhe von 600 Terawattstunden stünden somit 123 bis 274 TWh für die Gas-Synthese zur Verfügung. Bei einem Wirkungsgrad von 60 Prozent reicht das für Methan mit einem Energiegehalt von 74 bis 164 TWh.

Zum Vergleich: Der deutsche Jahresverbrauch an Erdgas betrug 2020 rund 965 TWh. Synthetisches Gas aus heimischer Produktion könnte nach diesem Szenario also maximal gut 16 Prozent des Bedarfs decken. Und selbst das ist noch optimistisch, denn die Prognose für den Stromverbrauch ist sehr niedrig angesetzt. Das Bundeswirtschaftsministerium hat seine Schätzung kürzlich schon für 2030 auf 655 TWh hochgesetzt. Und bis 2050 rechnet die Dena gar mit bis zu 1160 TWh.

Methan als Treibhausgas

Landwirtschaft und Energie sind die größten menschengemachten Methanquellen.

(Bild: IEA/Methane Tracker Database)

Methan ist ein weitaus stärkeres Treibhausgas als Kohlendioxid. Allerdings verbleibt es mit rund zwölf Jahren auch deutlich kürzer in der Atmosphäre. Meist wird seine Treibhauswirkung auf den Faktor 21 bis 28 gegenüber CO2 beziffert, bezogen auf einen Zeitraum von hundert Jahren. Über 20 Jahre betrachtet ist es jedoch 83 Mal so klimawirksam. Entsprechend stark schlägt es in der Klimabilanz zu Buche, wenn Methan bei Förderung oder Transport entweicht („Methanschlupf“). Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch: Maßnahmen zur Reduktion wirken bei Methan deutlich schneller als bei CO2.

Laut der Methane Tracker Database der Internationalen Energieagentur IEA stammen die meisten Methan-Emissionen aus Feuchtgebieten und der Landwirtschaft. Die Energiewirtschaft folgt erst auf dem dritten Platz. Dahinter folgen die Ausdünstungen von Müllkippen.

Methanemissionen

(Bild: IEA/Methane Tracker Database)

Die Quantifizierung des Methanschlupfs ist hochkomplex und daher nur bedingt möglich. Die Werte basierten stets auf Annahmen und Schätzungen, sagt Dirk Günther, Wissenschaftler beim Umweltbundesamt (UBA). Sie seien abhängig von vielen Faktoren wie dem Material, dem Druck und dem Überwachungszeitraum der Rohrleitungen. So habe zum Beispiel die Verbauung von Kunststoffleitungen anstelle von Graugussleitungen in den letzten 25 Jahren die Methanemissionen der deutschen Gaswirtschaft deutlich gesenkt. Grob überschlagen entweichen 0,26 Prozent des in Deutschland verbrauchten Erdgases in die Atmosphäre.

Zugleich zeigen Messreihen, dass die Konzentration des Methans in der Atmosphäre sich seit vorindustriellen Zeiten stark erhöht hat. Darauf weist die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) hin. Man wisse dies durch direkte Atmosphärenmessungen, ergänzt durch Eiskernuntersuchungen. Satellitendaten helfen dabei, die Quellen zu identifizieren.

Allerdings sei „ein abschließendes Urteil zu den genauen Ursachen für den Anstieg der Methankonzentration in der Atmosphäre aktuell kaum möglich“, so die BGR. Eine Analyse der Kohlenstoffisotope lasse aber einige Wissenschaftler vermuten, dass der Trend zu einem großen Teil auch auf biogene Methanquellen basiere. Wahrscheinlich habe die atmosphärische Methanzunahme mehrere Ursachen, die verstärkte Förderung von Schiefergas scheine jedoch „für diesen Trend nicht ursächlich zu sein“.

Allerdings ist der Mensch auch an den vermeintlich „natürlichen“ Methanemissionen nicht ganz unschuldig: Durch die Erderwärmung setzen Feuchtgebiete oder Permafrostböden mehr des potenten Klimagases frei – ein Teufelskreis.

Biogas ist ebenfalls nur eine begrenzte Alternative: Der BDEW rechnet damit, dass 2030 rund 100 TWh in das deutsche Gasnetz eingespeist werden können. Bis 2050 sieht eine aktuelle Studie des Deutschen Verein des Gas- und Wasserfaches "ein Gesamtpotenzial von bis zu 250 Terawattstunden Biogas pro Jahr, etwa aus der anaeroben Vergärung oder thermischen Umwandlung von Speiseabfällen, Ernteresten, Gülle oder Abfallholz". Welchen Anteil der künftigen Residuallast damit abgedeckt werden kann, ist eine offene Frage. Sie hängt unter anderem davon ab, wie sich der Gasverbrauch für andere Zwecke, beispielsweise für die Hausheizung oder den Schiffsverkehr, entwickelt.

Man kann es also drehen und wenden wie man will: Ganz ohne fossiles Methan auszukommen wird schwierig.

(grh)