Klimadilemma: Indien steckt zwischen seinem Energie- und Armutsproblem

Ohne Indien geht es bei der Energiewende nicht – doch Armut, Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum erschweren den Umstieg auf Erneuerbare Energien.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 127 Kommentare lesen
Bilder der Woche (Kw 30)

Jaipur in Indien.

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Hanns-J. Neubert
Inhaltsverzeichnis

Indiens Bevölkerung von heute 1,4 Milliarden Menschen wächst immer weiter, auch wenn die Geburtenrate inzwischen etwas sinkt. In diesen Monaten wird seine Einwohnerzahl die von China überholen.

Aber damit wachsen auch die Wirtschaft – derzeit mit fünf bis sieben Prozent pro Jahr – und die CO₂-Emissionen. Energieökonomen wissen jedoch, dass Wirtschaftswachstum deutlich relevanter für den Anstieg von Emissionen ist als das Wachstum einer Bevölkerung.

Heute erzeugt Indien allein seinen Strombedarf zu 70 Prozent aus Kohlekraftwerken. Laut Our World in Data haben immer noch fast 30 Millionen Inder keinen Zugang zu Elektrizität, viele können die Strompreise nicht bezahlen.

"Ohne Indien können die Ziele des Pariser Klimaabkommens global nicht eingehalten werden", ist Miriam Prys-Hansen vom Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA) in Hamburg überzeugt. Aber sie sieht auch große Möglichkeiten: "Das Land kann allein durch die schiere Größe seines Binnenmarkts neue technologische Standards, aber auch Preise für bestehende klimafreundliche Techniken – wie Solarpanele, LED-Lampen oder klimafreundliche Heizungen – positiv beeinflussen."

Derzeit liegt das Land mit einem CO₂-Ausstoß von jährlich 2,7 Milliarden Tonnen weltweit an dritter Stelle hinter China mit 11,5 Milliarden und den USA mit fünf Milliarden Tonnen CO₂ pro Jahr.

Allerdings: Auf die Einwohner umgerechnet sind das gerade einmal 1,9 Tonnen CO₂ pro Kopf und Jahr. China dagegen hat mit 8,5 Tonnen pro Einwohner bereits Deutschland mit acht Tonnen überholt – wobei ein großer Teil der Emissionen der reinen Exportproduktion zugerechnet werden muss.

Die indische Regierung hat durchaus ehrgeizige Ziele, weil sie den Subkontinent bis 2070 klimaneutral bekommen will. Dazu sollen in einem ersten Schritt bis 2030 mindestens 500 Gigawatt an Anlagen für erneuerbare Energien installiert sein. Für Aniruddh Mohan, Wissenschaftler am Andlinger Center for Energy and the Environment der Princeton University dürfte dieser Ausbau aber lediglich den steigenden Bedarf des Wachstums decken und die CO₂-Emissionen somit nicht verringern.

Mohan bezweifelt auch, ob die Ausbauziele wirklich realistisch sind: "Premierminister Narendra Modi hat im Jahr 2014 das Ziel gesetzt, bis 2022 mindestens 175 Gigawatt Erneuerbare zu installieren, davon 100 Gigawatt Solar- und 60 Gigawatt Windenergie. Indien hat das Ziel um etwa 30 Prozent verfehlt." Um das Ausbauziel bis 2030 dennoch zu schaffen, müsste die Kapazität in weniger als sieben Jahren verdreifacht werden.

Mehr rund um den Klimawandel

Das Problem dabei: Die Landflächen werden knapp, wie Mohan ausführt: "Die besten Standorte sind schon vergeben und der Kauf neuen Landes wird immer schwieriger." Vor allem Photovoltaikanlagen brauchen viel Platz. Windenergieanlagen wären zwar platzsparender, doch es gibt nur wenig Gebiete, in denen der Wind verlässlich weht.

Die G7-Staaten hatten im Sommer 2022 die Initiative "Just Energy Transition Partnership" ins Leben gerufen, der bisher Südafrika, Indonesien und Vietnam beigetreten sind. Obwohl zum Beitritt aufgefordert, tut sich Indien schwer, es ihnen gleichzutun. Denn seine Kohlekraftwerke sind mit einem Alter von durchschnittlich zehn Jahren noch relativ jung. "Um sie schon vor dem Ende ihrer geplanten Laufzeit von 40 Jahren abzuschalten, wird daher ein gewaltiges politisches und finanzielles Kapital benötigt", sagt Mohan.

Miriam Prys-Hansen bezweifelt jedoch, ob internationale Kooperationsinitiativen zielführend sind, wie die "Just Energy Transition Partnership" oder auch die "Deutsch-Indische Partnerschaft für grüne und nachhaltige Entwicklung". "Von außen entwickelte Pläne werden hier wenig nützen und wenig politisch durchsetzbar sein, auch aufgrund des politischen Klimas in Indien", sagt sie. "Es wird zum Beispiel geschätzt, dass in Indien über 21 Millionen Menschen im Bereich der fossilen Brennstoffe beschäftigt sind, die Mehrheit davon im informellen Sektor."

Neben seinem Energieproblem hat Indien auch noch einen gewaltigen Nachholbedarf, um die immense Armut zu überwinden und zumindest einen bescheidenen Wohlstand auch für die Ärmsten zu schaffen. Darauf weist Tilman Altenburg vom German Institute of Development and Sustainability (IDOS) in Bonn hin. Die Hälfte der 1,4 Milliarden Inder habe weniger als vier US-Dollar pro Tag zur Verfügung.

"Eine Entkoppelung des hohen Wirtschafts- und Bevölkerungswachstums in Indien von CO₂-Emissionen wird länger auf sich warten lassen als in reicheren Ländern, einschließlich Chinas", sagt er.

Deutliche Kritik an bisher geplanten technischen Lösungen für das indische Energieproblem üben Siddharth Sareen und Shayan Shokrgoza von den Universitäten Bergen und Stavanger in Norwegen in einer Veröffentlichung. So hätten die Bedürftigkeit und die Energieunsicherheit in den Kommunen zugenommen, in denen Solar-Megaprojekte gebaut wurden. Für einen umfassenden Zugang zu sauberer Energie seien deshalb dezentralisierte Energiesysteme unerlässlich, die aber bisher kaum in den Plänen berücksichtigt sind.

Dass große regenerative Anlagen die soziale Lage der Menschen verschlechtern, wiesen Forscher von der Universität Sydney und der Technischen Universität Sydney um Gareth Bryant am Beispiel des 53 Quadratkilometer großen Pavagada-Solarpark im südindischen Bundesstaat Karnataka nach, einem der größten der Welt. Hier wurden die Flächen nicht gekauft, sondern nur gepachtet, um den Besitzern auch in Zukunft regelmäßige Einkünfte zu sichern.

Doch mehr als die Hälfte der 10.000 Menschen in den fünf Dörfern in Parknähe sind landlose Landarbeiter, die aus dem Pachtmodell kein Einkommen erzielen. Sie verloren ihre Lebensgrundlage. Genau davor hatte aber vor dem Baubeginn schon ein Bericht der Weltbank gewarnt.

(jle)