Klimaforscherin zu Shell-Gerichtsprozess: "Das ist nur der Anfang"

Der Ölkonzern muss seine CO2-Emissionen bis 2030 um 45 Prozent verringern. Die Wissenschaftlerin Friederike Otto erläutert im TR-Interview die Entscheidung.

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(Bild: Oxford Martin School)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Jan Vollmer

Der niederländisch-britische Ölriese Shell wollte seine CO2-Emissionen eigentlich bis zum Jahr 2035 um 30 Prozent im Vergleich zum Jahr 2019 senken. Vor dem Den Haager Bezirksgericht hatten sieben Umweltorganisationen und 17.300 Bürger gegen diesen Plan geklagt: 30 Prozent weniger CO2 bis 2035 seien zu wenig und zu langsam. In einem bahnbrechendem Urteil hat das Gericht den Umweltorganisationen Recht gegeben. Shell soll seine Emissionen nun um 45 Prozent verringern – bis 2030.

Der Ölriese ist weltweit einer der größten Verursacher des Treibhausgases CO2. In dem Urteil gegen den Mineralölkonzern geht es aber um mehr als nur Shell: Es geht um die Frage, inwieweit Unternehmen dafür haftbar gemacht werden können, wenn ihre Produkte Schaden in der Welt anrichten.

In anderen Branchen sind Fragen der Produkthaftung leichter zu beantworten: Pharma-Konzerne können verklagt werden, wenn ihre Medikamente Menschen krank machen; auch ein Autokonzern, der unsichere Autos baut, geht ein hohes juristisches Risiko ein. Bisher war die Beweiskette allerdings oft zu lang und zu spekulativ, um Ölkonzerne für Klimaschäden und ihre Folgen haftbar zu machen. Das scheint sich nun zu ändern.

An der Universität Oxford leitet die Kielerin Friederike Otto das „Environmental Change Institute“ und forscht genau zu der Frage, für welche Naturkatastrophen der menschengemachte Klimawandel verantwortlich ist – und welchen Sturm, welche Dürre oder welchen Waldbrand es auch ohne Klimawandel gäbe. Wir haben Friederike Otto in Oxford angerufen und gefragt, was das Shell-Urteil für Klimawandel und Klimaschutz bedeutet.

Technology Review: Friederike Otto, hat Sie das Urteil gegen den Ölkonzern Shell überrascht?

Friederike Otto: Das Urteil selbst hat mich nicht überrascht, eher dass es so schnell ging. Die Entscheidung reiht sich ein in eine Reihe von Urteilen. Bei solchen Entscheidungen geht es ja nie nur um die Worte im Gesetzestext, sondern auch die normative Struktur drumherum – und die hat sich geändert, ganz deutlich.

Technology Review: Das heißt die Gesetze wären vor zehn oder zwanzig Jahren die gleichen gewesen, trotzdem hätte es so ein Urteil womöglich nicht gegeben?

Friederike Otto: Selbst vor fünf Jahren wäre das Urteil noch nicht so gefällt worden, würde ich sagen. Natürlich hat Shell noch die Möglichkeit, Berufung einzulegen. Und 45 Prozent Reduktion machen aus Shell noch keinen grünen Konzern. Aber lange Zeit ging es in der öffentlichen Klimadebatte nur um individuellen Konsum und ganz wenig um den strukturellen Wandel, den wir brauchen. Das ändert sich endlich. Auch Ölriesen müssen ihr Geschäftsmodell ändern, und zwar grundlegend.

Technology Review: Das wichtige an der Entscheidung ist also weniger, was genau Shell jetzt macht – es geht eher um die Symbolik?

Friederike Otto: Das Urteil ist ein Symbol, aber eben nicht nur wie eine Fahne, die man schwenken kann. Es wird zu Änderungen führen und mehr Menschen Mut machen, Klimaschutz zu fordern und wenn nötig vor Gericht zu erstreiten.

Technology Review: In der Ölindustrie gab es in letzter Zeit einige solcher Symbole. Auch am 26.05.21, am Tag des Urteils in Den Haag, wurden die Vorstände der Ölriesen Exxon und Chevron neu gewählt. Bei Exxon haben aktivistische Investoren in einer Kampfabstimmung mindestens zwei neuen Vorständen in den Sattel geholfen, die den Konzern gegen den Willen des CEOs nachhaltiger machen wollen – sogar mit den Stimmen des weltweit größten Vermögensverwalters BlackRock. Auch die Chefs von Chevron wurden am selben Tag durch eine Kampfabstimmung aktivistischer Investoren dazu gezwungen, die CO2-Emissionen zu verringern.

Friederike Otto: Das Urteil und die Aufsichtsratsänderungen bei Chevron und Exxon zeigen, das Veränderung jetzt von der Gesellschaft eingefordert wird, das einfach weitermachen nicht funktionieren wird. Die Industrie wird jetzt natürlich nicht sofort komplett ihr Businessmodell ändern, sondern auch versuchen, weiterhin so wenig wie möglich zu tun. Aber auch das wird immer schwerer. Auch Politiker sehen so, dass sie der Kohleindustrie nicht noch mehr Geld hinterherschieben müssen, um sie „mitzunehmen“, wie es oft heißt, sondern auch diese können mutiger sein.

Technology Review: Weltweit laufen gerade rund 1800 Gerichtsverfahren in denen Kläger Klimaschutz erstreiten wollen. Gibt es also schon einen Trend, Klimaschutz per Gericht durchzusetzen?

Friederike Otto: Das ist der Anfang einer ganzen Reihe solcher Urteile, die wir sehen werden. Es knüpft an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von Ende April, das das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung für verfassungswidrig erklärt hat. Es gab auch Urteile in Norwegen und eines am Supreme Court im Vereinigten Königreich, auch wenn das noch sehr gestrig war. Aber es zeigt, dass vor Gericht ziehen nicht nur Symbolpolitik ist, sondern ein legitimer Weg, um die Gesellschaft zukunftsfähiger zu gestalten. Wir alle können die Gesellschaft verändern – im großen Stil.

Technology Review: Ein Drittel der Niederlande liegt unter dem Meeresspiegel. In dem Urteil gegen Shell ging es ganz konkret darum, dass der Konzern zur Erderwärmung beiträgt – und dass diese wiederum gefährlich für die Bewohner des Wattenmeergebiets und die niederländische Bevölkerung ist. Wie wichtig ist es, Ursache und Wirkung zu beweisen?

Friederike Otto: Mit der Attributionsforschung können wir jetzt ganz konkrete Kausalitätsketten beweisen – Emissionen, Unternehmen, Anstieg der globalen Mitteltemperatur, lokale Schäden, Verluste. Bei Shell spielt das eine untergeordnete Rolle, aber die Tatsache, dass wir Schäden dem Klimawandel zuordnen können, ändert die normative Struktur, unter der solche Urteile gefällt werden. Plötzlich findet Klimawandel nicht nur in Modellen und in der Zukunft statt, sondern er kostet jetzt Geld und Leben und wir können das auch beweisen.

Technology Review: In Deutschland klagt gerade ein peruanischer Bauer gegen den Energiekonzern RWE. RWE heizt das Klima an, in Peru schmilzt deswegen ein Gletscher über einem Bergsee und die Flutwelle bedroht die Existenz des Bauern – so die Argumentation. Die Anklage stützt sich auch auf Studien der Attributionsforschung von einem ihrer Doktoranden aus Oxford. Sind Sie mit Ihrer Forschung auch an aktuellen Fällen beteiligt?

Friederike Otto: Ich kann schlecht über aktuelle Fälle sprechen.

Technology Review: Wie verantwortlich ein Konzern für den Klimawandel gemacht werden kann, hängt davon ab, wie viel Treibhausgase er verursacht. Gibt es dazu denn schon Forschung?

Friederike Otto: Der Forscher Richard Heede veröffentlicht dazu akribisch recherchierte Studien. Insgesamt sind es nur rund 90 Konzerne, die den Großteil der Emissionen ausmachen. RWE kommt da als größter deutscher Verursacher auf 0,5 Prozent Anteil an den historischen Emissionen. Allerdings reichen RWEs Daten nur bis in die 60er zurück – und der Konzern ist ja schon im 19. Jahrhundert entstanden. Shell und die amerikanischen Ölkonzerne sind ganz weit oben.

Technology Review: In der Attributionsforschung geht es also darum, konkrete Verantwortung für den Klimawandel zu beweisen – und damit die Gesellschaft für die Ursachen und Folgen des menschengemachten Klimawandels zu sensibilisieren. Fällt ihnen eine Studie ein, bei der das gut funktioniert hat?

Friederike Otto: Unsere Studie zu den Buschfeuern in Australien lag gleich am Tag nach der Veröffentlichung bei Politikern in Australien auf dem Tisch. Natürlich ist schwer zu sagen, was so eine Studie bewirkt. Aber die Mitarbeiter des australischen Wetterdienstes waren dankbar, dass sie solide Zahlen hatten, mit denen sie argumentieren konnten.

(bsc)