Klimaneutralität: Wie Deutschland die grüne Null erreichen kann

Seite 5: Und was kostet das alles?

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Alle Szenarien sehen einen Bedarf an öffentlichen und privaten Investitionen in Milliardenhöhe. Die BDI-Studie sieht bis 2050 insgesamt Zusatz-Investitionen in Höhe von 2300 Milliarden Euro auf Deutschland zukommen. Rechnet man Einsparungen, etwa durch den sinkenden Bedarf an Öl und Gas, bleiben dagegen nur noch 380 Milliarden an echten "Mehrkosten" übrig – zumindest, wenn es keinen nationalen Alleingang gibt. Die größten Kostentreiber sei der Flug-, Schiffs- und Schwerlastverkehr, da für diesen "fast ausschließlich verhältnismäßig teure Lösungen" zur Verfügung stünden. Der Umbau des Energiesektors sei mit rund 30 Milliarden hingegen vergleichsweise preiswert. Die Kosten für Erneuerbare Energie werden dem BDI-Szenario zufolge um 2030 ihren Höhepunkt erreichen und danach wieder sinken.

Noch höhere Kosten, nämlich 2330 Milliarden Euro nach Abzug der zu erwartenden Einsparungen, kalkuliert das Fraunhofer ISE – allerdings nur für das Szenario "Beharrung". Im Suffizienz-Szenario sind es nur 440 Milliarden. Dort liegen die CO2-Vermeidungskosten mit 50 Euro pro Tonne „signifikant am niedrigsten, da die hier angenommene Reduktion des Energiebedarfs aufgrund von Verhaltensänderungen nicht mit Kosten verbunden ist.“

Gestreckt über einen Zeitraum von 30 Jahren bedeuten die ISE-Schätzungen jährliche Mehrkosten von 15 bis 78 Milliarden Euro. Eine ähnliche Summe, nämlich zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts über drei Jahrzehnte hinweg, veranschlagen die Scientists for Future allein für Investitionen in das Energiesystem – also für "Erzeugungsanlagen, Speicher, Netze und weitere Infrastruktur". Gemessen am aktuellen Stand des BIPs entspricht das knapp 70 Milliarden Euro jährlich. Zum Vergleich: Der Etat für Arbeit und Soziales lag im Bundeshaushalt 2020 bei 150 Milliarden Euro, der Verteidigungsetat bei 45 Milliarden. In den vergangenen zwei Jahren hatte der Bund rund 80 Milliarden Euro für Klimaschutzinvestitionen bereitgestellt.

"Mittel- bis langfristig" seien die Kosten eines klimaverträglichen Energiesystems allerdings nicht höher als im derzeitigen System, schreiben die Scientists for Future. "Gleichzeitig entstehen Arbeitsplätze und Exportchancen. Berücksichtigt man die aktuell nicht eingepreisten Umweltbelastungen, ist ein klimaverträgliches Energiesystem sogar schon heute deutlich günstiger." Langfristiges Denken zahlt sich also aus.

Allerdings sind Einsparungen und Aufwendungen nicht gleichmäßig über die Gesellschaft verteilt, wie die BDI-Studie anmerkt. Die Mehrkosten können vor allem an einzelnen Unternehmen hängen bleiben, die in ihre Anlagen investieren müssen. "Volkswirtschaftlich gesehen sind diese Effekte jedoch neutral bis leicht positiv", so die Studie. Das Bruttoinlandsprodukte dürfte dadurch 2050 um 0,9 Prozent höher liegen als im Referenz-Szenario. "Auch Beschäftigung und Haushaltseinkommen profitieren langfristig von den klimapolitischen Maßnahmen". Die durch "Mehrinvestitionen induzierten positiven Einkommenseffekte" überwiegen laut Studie die Kosten.

So weit die diversen Szenarien. Doch was taugen sie als Fahrplan für die Klimawende? "Darin stecken viele gute Nachrichten", sagt Bernd Hirschl, Leiter des Forschungsfelds Nachhaltige Energiewirtschaft und Klimaschutz beim Institut für ökologische Wirtschaftsforschung. Zum Beispiel, dass die Energiewende grundsätzlich technisch funktioniert oder dass man mit fluktuierender Energie gut umgehen könne. "Aber dafür braucht es eine Dynamik, die wir heute nicht haben. Wieweit diese Szenarien auch realisierbar sind, wird so gut wie gar nicht angesprochen." Soziale Fragen, Akzeptanz, Zielkonflikte und Hemmnisse wie Fachkräftemangel oder Bürokratie würden weitgehend ausgeblendet.

Als Beispiel nennt er die Gebäudesanierung: "Eine Studie, die einfach nur eine Sanierungsrate von fünf Prozent ab 2021 vorschreibt, ist nutzlos, wenn man nicht mal ansatzweise weiß, wie man wenigstens zwei Prozent hinbekommt. Wie wollen Sie das in einer Stadt wie Berlin schaffen, wo die Bau- und Mietpreise schon so durch die Decke gehen?" Das Ganze sei keine technische, sondern eine soziale Frage: Wer bezahlt – Mieter oder Vermieter?

Auch bei der Windkraft hält Hirschl die Anreize für falsch gesetzt: "Der Treiber ist die regionale Wertschöpfung, die finanzielle Teilhabe, weniger der Klimaschutz." Ein Windpark müsse, so Hirschl, den Leuten vor Ort gehören. Doch die Bundesregierungen habe mit ihren zentralen Ausschreibungen für Windparks aber genau den gegenteiligen Pfad beschritten. "Und wenn das Geld woanders hin abfließt, fahren Sie die Akzeptanz gegen die Wand." Die Forschung müsse sich mehr mit solchen Restriktionen beschäftigen, fordert Hirschl. "Das ist ein blinder Fleck der Wissenschaft."

Auch die BDI-Studie warnt: Der Transformationsprozess werde Deutschland vor „erhebliche Umsetzungsherausforderungen“ stellen. Die betrachteten Klimapfade seien zwar „volkswirtschaftlich kosteneffizient“, unterstellen aber auch eine „ideale Umsetzung unter anderem im Sinne sektorübergreifender Optimierung und richtige Entscheidungen zum richtigen Zeitpunkt“. Fehlsteuerungen könnten die „Kosten und Risiken erheblich steigen oder das Ziel sogar unerreichbar werden lassen“.

Mit anderen Worten: In der Politik muss wirklich alles flutschen. Danach sieht es im Moment nicht aus. In den letzten Jahren war Deutschland oft genug nicht einmal in der Lage, die denkbar niedrigst hängenden Früchte zu ernten – etwa beim Schutz der Moore, dem Zubau der Erneuerbaren oder einem Tempolimit, das sich schnell und kostengünstig umsetzen ließe.

Sind die Szenarien damit hoffnungslos naiv? Vielleicht. Aber sie geben trotzdem Orientierung – zum Beispiel, indem sie zeigen, dass zeitiges Handeln günstiger ist als zaudern. Und dass keine einzige Maßnahme so wirksam ist wie Sparen. Und dass die Kosten langfristig sogar sinken können. Damit räumen sie ökonomische Argumente beiseite, die den Wandel bisher oft blockiert haben.

(jle)