Klimawandel: Kriegt Indien die Kurve?

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Der Ansatz könnte Tausende indische Dörfer elektrifizieren, die entweder nicht ans Stromnetz angeschlossen sind oder unter der extrem unsicheren Versorgung leiden. Denn das Stromnetz ist marode. 2012 ließ ein Blackout mehr als 600 Millionen Menschen im Dunkeln und demonstrierte die Überalterung der Netze sowie die chaotischen Zustände des Energiesektors, der mit geschätzten 70 Milliarden US-Dollar verschuldet ist. Ein typisches Beispiel für die desolate Situation ist der Bundesstaat Bihar: Von den über 100 Millionen Einwohnern hat weniger als ein Fünftel Zugang zu einer gesicherten Stromversorgung. Der staatliche Energieversorger ist mehr oder weniger bankrott, die subventionierten Stromrechnungen sind niedrig, und die Stromverluste im Netz liegen bei fast 50 Prozent.

Die Reichweite des Netzes hänge vom Zufall ab, sagt Ignacio Pérez-Arriaga, Gastprofessor am US-amerikanischen Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Leiter des Reference Electrification Model, das sich auf die Planung von Stromzugängen für Indien und andere Entwicklungsländer konzentriert. "Ich habe ein Dorf ohne Strom besucht", sagt er, "und 100 Meter weiter liegt das nächste Dorf und ist gut versorgt. Es ist verwirrend. Der Anschluss kann nächsten Monat kommen, in den nächsten zehn Jahren oder auch nie."

Für Bewohner dieser Dörfer sind Solaranlagen auf den Dächern oder Microgrids, gespeist von verschiedenen erneuerbaren Energien und Dieselgeneratoren, der einzige Weg, zuverlässig an Strom zu kommen. Eine Reihe indischer und ausländischer Anbieter, einschließlich schnell wachsender Unternehmen wie Visionary Lighting and Energy und Greenlight Planet, verbreiten entsprechende Heimsolaranlagen in ganz Südasien, angetrieben durch staatliche Anreize, sinkende Kosten und eine hohe Nachfrage.

Die Resultate sind bereits deutlich sichtbar. In südindischen Städten wie Bangalore werden auf vielen Dächern bereits Wassertanks mit Solarenergie beheizt. Die Zahl der Bundesstaaten, die bei Neubauten Solaranlagen vorschreiben, vervielfacht sich. In jeder indischen Stadt, ja selbst im staubigsten Weiler am Wegesrand, gibt es Werbung für kleine Batterien und Wechselrichter. Heute sind für Neubauten Solaranlagen vorgeschrieben. Sogar große Unternehmen machen inzwischen mit. BMW kündigte beispielsweise dieses Jahr an, mit einer neuen Solaranlage künftig 20 Prozent des Strombedarfs seiner Fabrik nahe Chennai decken zu wollen. Indian Railways, Betreiber des weltgrößten Eisenbahnnetzes und Indiens größter Arbeitgeber, will in den nächsten fünf Jahren ein Gigawatt Solarkapazität bauen.

Um Indiens Energieprobleme in den nächsten 50 Jahren anzugehen, müssen natürlich auch große Kraftwerke für erneuerbare Energie hinzukommen. Denn mit Microgrids und dezentralen Solaranlagen lassen sich keine Produktionsstandorte des 21. Jahrhunderts aufbauen – erst recht nicht, wenn die Solarstromversorgung schwankt. Aber jedes Microgrid und jede lokale Solaranlage reduziert die Notwendigkeit der Netzerweiterung. Jede auf erneuerbaren Energien basierende Versorgung einer Fabrik oder eines Gebäudes verringert den Druck, Ultra-Mega-Kraftwerke zu bauen.

Dezentrale, maßgeschneiderte Lösungen mögen geradezu lächerlich klein im Verhältnis zu den riesigen Herausforderungen erscheinen. Dennoch ist "der wirkungsvollste Weg, eine große Anzahl von 100- bis 500-Kilowatt-Kraftwerken über das ganze Land verteilt in ländlichen Regionen zu bauen", sagt Anshu Bharadwaj, geschäftsführender Direktor des Center for Study of Science, Technology, and Policy, einem Think Tank in Neu-Delhi. "Die Zentralregierung und ausländische Investoren sind natürlich besonders an Großprojekten interessiert, für die sie lächerlich günstige Finanzierungen bekommen. Aber die echten Innovationen finden in den Dörfern statt."

Ein neues Energie-Ökosystem entsteht. Es wächst auf komplexe und nicht immer vorhersehbare Weise. Letztlich geht es darum, für jeden Bundesstaat, jede Stadt, jedes Dorf die beste Lösung zu finden. Genau darin liegt die große Chance Indiens: Indem es die Kosten eines universellen Stromnetzes vermeidet, kann das Land sich auf die spezifischen Bedürfnisse bestimmter Standorte konzentrieren.

Dieses Bestreben, sich bietende Möglichkeiten zu nutzen und notfalls zu improvisieren, ist in Indien allgegenwärtig, von Neu-Delhis Slums zu den Dörfern Telanganas. Die Fähigkeit der Inder, sich an chaotische und schwierige Bedingungen anzupassen und zu überleben, ist beeindruckend und lässt die Hoffnung zu, dass das Land auch die riesige Herausforderung eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums meistern kann. Denn eigentlich haben die Inder keine Wahl. "Indien kann es sich nicht leisten, das amerikanisch-chinesische Modell des 'Wachse jetzt und zahle später' nachzuahmen", sagt Jairam Ramesh, ehemaliger Umweltminister und indischer Chefunterhändler beim Klimagipfel 2010. "Wir können es uns nicht leisten zu sagen: 'Gebt uns 25 Jahre acht Prozent BIP-Wachstum, wir sammeln die Scherben dann später auf.'" (bsc)