Lebt da was?

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Und doch kann niemand sicher sein, ob Leben nicht auch Formen annehmen könnte, die jenseits unserer Vorstellung liegen. Denn wenn Biologen definieren wollen, was Leben ausmacht, dann stehen sie vor einem fundamentalen Problem: Wir kennen nur ein einziges Beispiel, aus dem wir auf allgemeine Prinzipien schließen müssen. Das ist so, als würde jemand, der nur einen Farbpinsel kennt, eine Definition für Werkzeug herleiten. So unendlich vielfältig uns die irdische Flora und Fauna auch erscheinen mag, alles bekannte Leben auf der Erde stammt von einem gemeinsamen Vorfahren ab und ist daher im Innersten erstaunlich uniform.

Ob Mensch, Tannenbaum oder Bakterium, das Erbgut aller Organismen besteht aus vier Bausteinen, die 20 Aminosäuren buchstabieren. Von einer ubiquitären zellulären Maschinerie werden sie zu Proteinen zusammengefügt, deren gemeinsame Abstammung auch nach Milliarden Jahren noch offensichtlich ist. Was davon Zufall und was Notwendigkeit war, darüber lässt sich nur spekulieren.

Weitgehend Einigkeit herrscht immerhin darüber, dass Leben nur auf Kohlenstoff basieren kann. Das C-Atom scheint geradezu prädestiniert für vielgestaltige komplexe Moleküle, da es mit vier weiteren Atomen Verbindungen eingehen kann. Als Alternative wird von den Astrobiologen mitunter Silizium diskutiert. Allerdings reagiert Silizium sehr stark mit Sauerstoff, einem der häufigsten Elemente im Universum. Anstelle des gasförmigen Kohlendioxids entstehen dabei gleichförmige Gitterstrukturen – Gestein.

Es ist daher nicht ganz abwegig, das uns vertraute Leben als universelles Erfolgsmodell zu postulieren, denn immerhin war es auf unserem Planeten schon entstanden, kaum dass die junge Erde abgekühlt war, und hat sich seither in jeden Winkel ausgebreitet. Man findet Leben im ewigen Eis, an Vulkanschloten, in heißen Quellen im Meeresgrund und auf Giftmülldeponien. Irdische Organismen überleben Säure, kochendes Wasser, harte Strahlung, das Vakuum des Weltalls. Selbst auf dem Mars scheinen sie überleben zu können, jedenfalls in jenem, den das Institut für Planetenforschung in Berlin in seinen Kellerräumen aufgebaut hat.

In die Einrichtung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt DLR hat Jean-Pierre de Vera seine Flechten, Pilze und Bakterien vom Südpol gebracht. Nun kann er sie den Umweltbedingungen auf dem Roten Planeten aussetzen und zuschauen, was mit ihnen passiert: ein Hundertstel des irdischen Atmosphärendrucks, weniger als zwei Prozent Sauerstoff, 95 Prozent Kohlendioxid, eine Temperatur von minus 50 Grad. Selbst unter diesen Bedingungen gedeihen die zähen Kreaturen. Sie betreiben Photosynthese und stellen Proteine her. Astrobiologen sind daher überzeugt: So wie das Universum Sterne und schwarze Löcher gebiert, so könnte es auch zwangsläufig lebendige Strukturen hervorbringen.

Damit aber ist die eigentliche Frage noch immer ungeklärt, was Leben im Kern ausmacht. Die amerikanische Philosophin Carol Cleland vergleicht das Problem mit Versuchen aus dem 18. Jahrhundert, das Wesen von Wasser zu definieren. Vor der Entdeckung von Molekülen und der Atomtheorie gelang dies nur durch Aufzählung von Eigenschaften: Wasser ist klar, nass, fließt abwärts und löscht den Durst. Wirklich verstehen kann man den Stoff aber erst, seit man weiß, dass er im Innersten aus H2O-Molekülen besteht.

Ein ähnlich grundlegend neues Konzept könnte zur Erklärung des Phänomens Leben nötig sein. "Die Biologie hat viel geleistet, um die einzelnen Bausteine zu charakterisieren", sagt Frank Jülicher, der am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme in Dresden forscht. "Nun ist die Zeit reif, Leben auch in Form physikalischer Gesetze zu verstehen." Für ihn ist "das Verblüffende am Leben, wie unregelmäßig und variantenreich die Vorgänge sind, wie viele Fluktuationen und Abweichungen wir beobachten – und wie daraus trotzdem eine ungeheure Präzision erwächst".

Ein einziges tumbes Darmbakterium stellt an rund zehntausend Fabrikationsanlagen fortlaufend präzise arbeitende Nanomaschinen her. Millionen von Proteinen agieren und reagieren, wie von einem unsichtbaren Dirigenten gelenkt, damit ein einzelnes Bakterium sich in seiner Umwelt behaupten und fortpflanzen kann.

Um die Mechanismen dieses Uhrwerks zu entschlüsseln, arbeitet Jülicher in einem Feld, das in den letzten Jahren rasche Fortschritte gemacht hat und zunehmend an Bedeutung gewinnt: Die Erforschung von "aktiver Materie", die ohne äußere Einwirkung Bewegung und Strukturen hervorbringen kann – seien es nun Vögel, die ohne Anführer koordinierte Schwärme bilden, oder einzelne Moleküle, die in Zellen wie ein Orchester ohne Dirigent zusammenspielen. Eine grundlegende Eigenschaft lässt sich anhand der Modelle bereits erkennen: Aktive Materie befindet sich in einem beständigen Nichtgleichgewicht.