Lebt da was?

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Innerhalb ihrer einzelnen Bestandteile existiert ein Energiegefälle. Wenn die Einzelteile spontan reagieren, entsteht ab einer gewissen Dichte koordinierte Bewegung. Aktive Materie treibt sich also selbst an: Zellen geraten beispielsweise in Bewegung, weil die starren Fasern des Zellskeletts fortlaufend an einem Ende wachsen und am anderen Ende abgebaut werden. Die Folgen sind fließende Zellbewegungen und Zellteilungen. Aus amorpher Masse entstehen Organe, Flügel, Gliedmaßen. "Eine faszinierende Erkenntnis war, dass chemische Reaktionen mechanische Prozesse hervorbringen", sagt Jülicher.

Inzwischen ist es mehrfach gelungen, aktive Materie aus den Biomolekülen der Zellskelette künstlich zu erzeugen. Es entstehen pulsierende Cluster und sphärische Gebilde. Ihr Verhalten entspricht dem, was die theoretischen Modelle vorhersagen: Sind die Einzelmoleküle weit verstreut, bewegen sie sich ziellos. Erst ab einer gewissen Dichte setzen die koordinierten Fließeigenschaften ein. Die Grenze zu lebenden Systemen scheint bereits zu verschwimmen: Wenn die Physikerin Jennifer Ross von der University of Massachusetts Amherst ihre Videoaufnahmen Zellbiologen zeigt, dann sind diese meist überzeugt, die typischen Bewegungsmuster lebender Zellen zu sehen.

Ist das bereits das Wunder des Lebens? Komplexe, aber eben doch profane biochemische Kettenreaktionen, aus denen neuartige Eigenschaften resultieren? Einige Forscher wollen sich damit nicht zufrieden geben. Sie glauben, dass unter der Schicht der Moleküle noch eine tiefere liegt. Sie tauchen ein in die Welt der Quanten, und auch wenn es vielleicht nicht ihr Ziel ist, sie geben dem Phänomen damit einen Teil seines Zaubers zurück. Denn Quanten verhalten sich auf für normale Menschen nahezu unbegreifliche Weise. Am besten ist das Phänomen der Quantenbiologie bei der Photosynthese belegt.

In jeder Sekunde stellen die Pflanzen und Mikroorganismen der Erde ungefähr 16000 Tonnen neue Biomasse her, indem sie Sonnenlicht mithilfe von Chlorophyll einfangen. Die Pigmente sind so konstruiert, dass durch die Aufnahme eines Photons ein nur locker gebundenes Elektron in den umgebenden Kohlenstoffkäfig geschleudert werden kann. Zurück bleibt eine "Elektronenlücke", ein sogenanntes Exziton. Man kann es sich wie eine instabile Batterie vorstellen. Damit seine Energie genutzt werden kann, muss es rasch zum Reaktionszentrum weitergeleitet werden. Bis vor wenigen Jahren dachte man, dass dieser Weg wie ein Zufallspfad verlaufen würde.

Dabei aber wäre viel Energie verloren gegangen – was nicht zu den Messergebnissen vieler Forschergruppen passte. Vor zehn Jahren stieß ein Team um Graham Fleming an der University of California in Berkeley auf eine gänzlich andere Erklärung: Das Exziton breitet sich als Welle aus und schlägt damit viele Routen gleichzeitig ein. Es nutzt das fast mystisch anmutende Phänomen der Quantenkohärenz.

Bislang galt, dass dies nur bei sehr tiefen Temperaturen möglich sei. Bei höheren Celsius-Graden dagegen würden die vielen Molekülschwingungen der Umgebung das Phänomen zunichte machen. Wie der Photosynthese-Apparat dieses Kunststück dennoch hinbekommt, beschrieb zuerst der Physiker Martin Plenio vom Institut für Theoretische Physik der Universität Ulm gemeinsam mit seiner Ehefrau Susana Huelga. Danach unterstützen Moleküle den "quantum walk" mit genau dem richtigen Ausmaß an Schwingungen. "Stellen Sie sich einen Fußball vor, der auf der untersten Stufe einer Treppe auf und ab springt", erklärt Plenio. "Wenn alle Stufen auf und ab oszillieren, dann sinkt die nächstobere Stufe manchmal so weit ab, dass der Ball darauffällt und mit angehoben wird. Mit dem richtigen Ausmaß an Oszillationen kann der Ball die ganze Treppe hinaufgelangen."

Aus Erkenntnissen wie diesen leiten der Kernphysiker Jim Al-Khalili und der Molekulargenetiker Johnjoe McFadden eine neue Theorie des Lebens ab: Es "unterscheidet sich von unbelebten Objekten, weil eine relativ kleine Zahl hochgeordneter Teilchen einen ganzen Organismus entscheidend beeinflussen können", schreiben sie in ihrem Buch "Der Quantenbeat des Lebens". Dem Konzept zufolge würden Organismen Quantenkohärenzen ausnutzen und sie als Verstärkersysteme in die makroskopische Welt transportieren. Das noch junge Feld der Quantenbiologie gewinnt derzeit rasch an Bedeutung, bis 2017 soll auf dem Campus in Ulm das weltweit erste "Zentrum für Quantenbiowissenschaften" entstehen.

Wird es die Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Lebens liefern? Werden Astrobiologen, Biochemiker oder Robotiker schneller sein? Sind es am Ende alle zusammen? Oder keiner? Die Antwort liegt irgendwo da draußen, und sehr wahrscheinlich nicht nur auf der Erde, sondern auch auf einigen der erdähnlichen Planeten. Der Astrochemiker Wolfram Thiemann von der Universität Bremen jedenfalls ist überzeugt, dass die nächste oder übernächste Generation von Weltraumteleskopen erste Lebenszeichen finden wird. "Leider", fügt der inzwischen emeritierte Forscher etwas wehmütig hinzu, "werde ich das wahrscheinlich nicht mehr erleben". (bsc)