Long Covid: Wie viele Kinder sind wirklich betroffen?

Millionen Kinder sollen an Nachwirkungen einer Corona-Infektion leiden. Allerdings sind sich Forscher nicht einig, wie schwerwiegend das Problem wirklich ist.

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Schulkinder mit Corona-Schutzmasken.

(Bild: David Tadevosian/shutterstock.com)

Lesezeit: 17 Min.
Von
  • Jessica Hamzelou
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Bevor die kleine Jasmin im vergangenen Jahr COVID-19 bekam, war sie eine besonders aktive 10-Jährige. Sie liebte das Tanzen, das Schwimmen und die Gymnastik. "Sie stand immer auf dem Kopf und machte Handstände", sagt ihre Mutter Binita Kane. Obwohl Jasmin nur leicht erkrankt war, entwickelte sie später dauerhafte Symptome, die sie sogar von der Schule fernhielten. Ihr Körper war stark geschwächt. Jasmin, jetzt 11 Jahre alt, ist mittlerweile sogar auf einen Rollstuhl angewiesen.

Jasmin ist eines von einer bislang weltweit noch unklaren Anzahl von Kindern mit Long Covid. Sie leidet regelmäßig unter Fieber, Halsschmerzen, Muskelschwäche und Gliederschmerzen, Schwindel und Erschöpfung. Grundsätzlich sind die Long-Covid-Symptome bei Kindern aber sind sehr unterschiedlich. Und die Datenlage ist schlecht: Wir wissen nicht nur nicht, wie viele Kinder wirklich betroffen sind, sondern auch nicht, welche Symptome tatsächlich auf die Infektion zurückzuführen sind. Es könnten auch indirekte Auswirkungen der Pandemie sein. Die Wissenschaft ist sich bislang nicht einmal darüber einig, was es bedeutet, wenn Kinder Long Covid bekommen.

Klinische Experten und Epidemiologen liegen sich in dieser Frage grundsätzlich in den Haaren – und es ist mehr als nur ein akademischer Streit. Die Uneinigkeit bedeutet, dass möglicherweise Millionen kranker Kinder nicht die Behandlung erhalten, die sie eigentlich brauchen. "Es gibt einen echten Mangel an Unterstützung, Forschung und Behandlungen für betroffene Kinder und auch mangelndes Verständnis", sagt Kane, die selbst als Fachärztin für Atemwegserkrankungen am Manchester University NHS Foundation Trust in Großbritannien tätig ist.

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Die Weltgesundheitsorganisation definiert Long Covid bei Erwachsenen als einen Zustand, der in der Regel drei Monate nach einer bestätigten oder wahrscheinlich erfolgten SARS-CoV-2-Infektion auftritt – mit Symptomen, die mindestens zwei Monate lang anhalten und nicht anders erklärt werden können. Zu diesen Symptomen gehören in der Regel Müdigkeit, sogenannter Hirnnebel, bei dem die Konzentration schwerfällt, sowie Kurzatmigkeit.

Da es eine relativ genaue Definition für Erwachsene gibt, kann Long Covid also diagnostiziert werden. Die Erkrankung ist seit Juli 2021 so in den USA als "mögliche Behinderung" im Rahmen des Americans with Disabilities Act anerkannt, was den Betroffenen Schutz vor Diskriminierung bieten soll. Bislang gibt es aber keine einheitliche Definition für Long Covid bei Kindern.

Einer der heftigsten Streitpunkte unter Ärzten und Wissenschaftlern ist die Frage, wie groß das Problem bei Kindern wirklich ist. Die Schätzungen der Prävalenz schwanken je nach Studie zwischen 1,8 und 87 Prozent – eine erstaunliche Bandbreite. Es gibt Warnungen vor einem schlecht verstandenen Syndrom, das Kinder ihr ganzes Leben lang tangieren könnte. Auf der anderen Seite halten manche Wissenschaftler das Risiko für überbewertet.

Die Debatte wird durch den Mangel an großen und vor allem genauen Studien angeheizt. "Einige Arbeiten sind wirklich schlecht", sagt Sonia Villapol vom Houston Methodist Research Institute in Texas, die zusammen mit ihren Kollegen kürzlich versucht hat, die Prävalenz von Long Covid bei Kindern aus bereits vorhandenen Studien zu schätzen. Doch die Metaanalyse gestaltete sich als schwer.

Zu den Problemen gehört, dass viele Kinder nicht einmal auf SARS-CoV-2 getestet wurden. Sie waren entweder asymptomatisch oder hatten nur leichte Symptome. Weiterhin könnten einige betroffene Kinder mit SARS-CoV-2 infiziert worden sein, ohne tatsächlich COVID-19 zu entwickeln. Die Analyse von Villapols Team deutet jedenfalls darauf hin, dass etwa 25 Prozent der Kinder, die sich mit dem Virus infizieren, vier Wochen nach ihrer Infektion mindestens ein Symptom aufweisen.

Terence Stephenson vom UCL Great Ormond Street Institute of Child Health in London ist an einer der größeren Forschungsarbeiten über Long-Covid-Erkrankungen bei Kindern beteiligt. Sein Team verfolgt den Zustand von Tausenden von Jugendlichen im Alter von 11 bis 17 Jahren in England, die entweder positiv oder negativ auf SARS-CoV-2 getestet wurden. Die jüngste veröffentlichte Zwischenstudie des Teams ergab erstaunlicherweise nur geringe Unterschiede in der Prävalenz dauerhafter Symptome zwischen Kindern, die positiv getestet wurden, und Kindern, die negativ getestet wurden: zwei Drittel der Positiven gegenüber etwas mehr als der Hälfte der Negativen. In beiden Gruppen traten ähnliche Symptome auf; besonders häufig waren das Kopfschmerzen und Müdigkeit.

Was sagt uns das? Das hängt davon ab, wen man fragt. Mitautor Shamez Ladhani, Kinderarzt und Epidemiologe bei Public Health England, meint, die Ergebnisse sollten Eltern beruhigen. Sie zeigten, dass es eher unwahrscheinlich ist, dass Long Covid ihre Kinder beeinträchtigt.

Ladhani verweist auch auf Daten, die von Nutzern einer Smartphone-App gesammelt wurden. Das Gesundheitsunternehmen ZOE und das King's College London starteten im März 2020 die "COVID Symptom Study App" und haben seitdem täglich Symptomberichte von Hunderttausenden von Teilnehmern gesammelt. Die Berichte von Eltern im Namen von 1.734 Kindern ergaben, dass nur 4 Prozent der infizierten Kinder 28 Tage nach Beginn ihrer Krankheit noch Symptome hatten.

Den Kindern ging es in der Regel mit der Zeit besser, sagt Emma Duncan, eine Endokrinologin am King's College London, die an der ZOE-Studie mitgewirkt hat. Nur knapp 2 Prozent der Kinder hatten 56 Tage nach Krankheitsbeginn noch Symptome. Wenn man die Kinder mit asymptomatischen Infektionen einbezieht, die überhaupt keinen Test gemacht hatten, dürfte der Prozentsatz der infizierten Kinder, die Long Covid entwickeln, deutlich unter 2 Prozent liegen, sagt Duncan.

Eine noch unbeantwortete Frage ist, warum so viele Kinder, die negativ auf COVID-19 getestet wurden, anscheinend anhaltende COVID-ähnliche Symptome entwickeln. Einige davon könnten mit anderen Krankheiten zusammenhängen, aber viele könnten auch eine Folge der Pandemie sein, sagt Duncan.

Ähnliche Trends zeichnen sich bei den in den USA erhobenen Daten ab. Chris Forrest ist Kinderarzt am Children's Hospital of Philadelphia und leitender Arztprüfer bei PEDSnet, einem Netzwerk von Kindergesundheitsdiensten, das Long-Covid-Erkrankungen bei Kindern erforscht. Forrest und seine Kollegen werden demnächst Forschungsergebnisse zu rund 660.000 Kindern in den USA veröffentlichen, die sich einem PCR-Test auf SARS-CoV-2 unterzogen haben.

In ihrer Arbeit untersuchten sie 500 verschiedene Datenpunkte bei Kindern, die sich mit dem Virus angesteckt hatten, und verglichen sie mit Kindern, die nicht infiziert waren. Zu den häufigsten Symptomen nach der Infektion gehörten Geruchs- und Geschmacksveränderungen, Haarausfall und Brustschmerzen. Müdigkeit war bei den Kindern, die sich nicht angesteckt hatten, fast genauso häufig wie bei denen, die das Virus tatsächlich hatten, sagt Forrest.

"Der Punkt ist, dass die Pandemie für die Kinder schrecklich war", sagt Duncan. "Mit Veränderungen in der Schule, in der Familie, in der Ausbildung. Es war für alle Kinder schrecklich, unabhängig davon, ob sie sich persönlich mit SARS-CoV-2 angesteckt haben." Das Phänomen könne als "langes Pandemie-Syndrom" beschrieben werden, sagt Villapol.

Kinderärzte berichten weiterhin von einem deutlichen Anstieg der Zahl der Kinder, die an psychiatrische Dienste überwiesen werden mussten. Die Ärzte beobachten mehr Kinder mit Essstörungen und Ticks sowie eine Zunahme der Symptome bei Depressionen und Angstzuständen. Nur sehr wenige Studien haben sich mit den Auswirkungen sozialer Veränderungen wie Schulschließungen befasst, sagt Forrest.

Da viele Menschen regelmäßig unter Kopfschmerzen und Müdigkeit leiden – den häufigsten Symptomen, die in der ZOE-Studie festgestellt wurden –, ist es schwierig, Rückschlüsse auf Long Covid zu ziehen, sagt Deepti Gurdasani, klinische Epidemiologin und statistische Genetikerin an der Queen Mary University of London. "Statistisch gesehen wird man kein Signal finden, weil das Signal massiv verwässert wurde", sagt Gurdasani. Ausgehend von den Daten, die sie gesehen hat, glaubt Gurdasani, dass zwischen 10 und 20 Prozent der Kinder, die sich mit dem Virus infizieren, von Long Covid betroffen sind, einschließlich derer, die keine COVID-19-Symptome entwickelt hatten. Stephenson schätzt die Zahl auf etwa 7 Prozent.