Missing Link: Autonomes Fahren – hätt' ich dich heut erwartet... (Teil 2)

Nachdem alle Testläufe mit Robo-Taxis pandemiebedingt eingestellt wurden, geht es in den USA und in China seit Kurzem so richtig los. Ein Statusbericht.

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(Bild: Shutterstock/metamorworks)

Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Timo Daum
Inhaltsverzeichnis

Letze Woche ging es an dieser Stelle um die Versuche der deutschen Autohersteller, beim autonomen Fahren mitzuhalten. Fazit: Mehr als höchstens Stufe 3 (hochautomatisiertes Fahren) im Stau bei schönem Wetter ist nicht drin. Tesla kann zwar – das ist im Forum auch angemerkt worden – streng genommen nur Stufe 2, trotzdem ist sich die Fachwelt einig, dass das Unternehmen mit aggressiver Werbung, riskantem Rollout aber insbesondere der konsequenten Abschöpfung von Testdaten bei Autopilot-Nutzung die Nase vorn hat.

Pro Monat werden ca. 680 Millionen Kilometer mit Autopilot gefahren, insgesamt bislang 5,33 Milliarden Kilometer – in dieser Hinsicht kann niemand Tesla das Wasser reichen. Stellvertretend sei hier Markus Duesmann zitiert, seines Zeichens Vorstandsvorsitzender der Audi AG, der mit seiner im August getroffenen Einschätzung beileibe nicht allein steht: "Beim Thema Rechner und Software-Architektur hat Tesla sicher zwei Jahre Vorsprung, beim automatisierten Fahren auch."

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Dabei ist das Stufenmodell des autonomen Fahrens mit seinen sechs Stufen möglicherweise insgesamt irreführend, suggeriert es doch eine technische Entwicklung, die stetig von niedrigem zu hohem Automatisierungs- bzw. Autonomiegrad voranschreitet – vergleichbar mit der Durchnummerierung von Mobilfunkstandards (4G, 5G) oder Softwareversionen. Zudem wird diese Darstellung oft ergänzt durch eine Zeitachse, die gleichfalls den Eindruck entstehen lässt, die Stufen würden nacheinander erreicht werden.

Von einer Stufe zur nächsten liegen jedoch durchaus Welten, insbesondere von Stufe 3 nach Stufe 4 verändert sich viel mehr, als es der einfache Versionserhöhung nahelegt. So könnten wir auch von einem Stufenmodell des vierrädrigen oder zweiachsigen Transports sprechen und damit Kinderwagen (Stufe 1), Go-Karts, PKW und Busse (Stufe 4) bezeichnen – alles vierrädrige und zweiachsige Straßenfahrzeuge. Es leuchtet ein, dass diese Stufenskala wenig Sinn macht – die Unterschiede zwischen den Stufen sind größer als die Gemeinsamkeiten.

Automatisierungsgrade des automatisierten Fahrens

(Bild: VDA)

Statt einer linearen Entwicklung hin zu mehr Automation zeichnen sich zwei getrennte Anwendungsbereiche ab: Auf der einen Seite immer weiter fortgeschrittene Assistenzsysteme in privaten Fahrzeugen, dem entsprechen die Stufen 1 bis 3 im Standardmodell. Nach wie vor steht hier das Fahrzeug und sein Fahrer im Vordergrund; diesen Technologiepfad favorisiert und verfolgt die Autoindustrie.

Auf der anderen Seite steht der Betreib grundsätzlich fahrerloser Fahrzeuge in begrenzten Einsatzgebieten, als Robo-Taxi-Flotten in der Personen- oder Warenbeförderung. Dem entspricht Stufe 4, hier sind z.B. fahrerlose Taxis oder Zubringerdienste möglich, begrenzt auf ein bestimmtes Operationsgebiet (operational design domain), festgelegte Routen oder ein Privatgelände. Das ist auch der Bereich, in dem autonome Shuttles und people mover zu verorten sind. Bei diesem Schritt passiert ein Menge: Der Fahrer wird zum Passagier.

So wird auch deutlich, dass diese Variante des autonomen Fahrens dem öffentlichen Verkehr viel ähnlicher ist – denn auch da wird chauffiert, sitzen Profis am Steuer der Busse, Bahnen und Taxis – als dem autonomen Fahrzeug à la Autoindustrie, dem immer weiter technisierten Privat-PKW, an dessen Steuer trotz "Autopilot" (Tesla), "Super Cruise" (General Motors) und "Drive Pilot" (Daimler) immer noch der gleiche müde Fahrer-Mensch sitzt. Vielleicht wäre es daher sinnvoll, überhaupt nicht vom "autonomen Fahren" zu sprechen, sondern stattdessen – je nachdem, was gemeint ist – von "assistiertem Fahren" bzw. "fahrerlosem Passagiertransport" zu sprechen, um die beiden Entwicklungspfade auch unterschiedlich zu benennen.

Während bei uns keine Robo-Taxis in Sicht sind, wird vor allem in den USA und in China ernst gemacht mit dem "fahrerlosen Passagiertransport". Diesen Montag erst stellte die Firma Zoox ein Fahrzeug vor, mit dem ein Robo-Taxi-Service in San Francisco an den Start gehen soll, Finanzier des Startups ist Amazon. Führend ist jedoch nach wie vor die aus dem Google Car Project 2016 hervorgegangene Firma Waymo. Sie hat in allen relevanten Messgrößen – der Anzahl Testfahrzeuge und Testgebiete, der gefahrenen Testkilometer auf öffentlichen Straßen und im Simulator, der Zeit bis zum notwendig Werden des Eingreifens (disengagement) – die Nase vorn.

Waymo's autonomously driven Chrysler Pacifica Hybrid minivan 1

(Bild: Waymo)

Bereits im April 2017 ging unter dem Namen Waymo One der weltweit erste Selbstfahr-Taxidienst im Stadtgebiet von Austin, Texas, an den Start – die Wüstenstadt ist bekannt für gleichbleibend gute Wetterbedingungen und ein übersichtliches Straßennetz. Das Fahrzeug wird wie bei einer Taxi-App bestellt und ein Aufnahmepunkt, meist die nächste Straßenecke oder etwa ein Supermarktparkplatz, gewählt. Das Fahrzeug kommt, per App wird die Tür geöffnet und der Kunde kann Platz nehmen.

In Waymos "Early-Rider-Programm" konnte ein ausgewählten Benutzerkreis erstmals den gesamten Ablauf, von der Bestellung eines autonomen Taxis, der Fahrt, der Bezahlung – testen, allerdings noch mit Sicherheitsfahrer an Bord. Im Oktober 2018 erhielt Waymo als erstes Unternehmen dann die Genehmigung, seine Autos ohne Sicherheitsfahrer an Bord zu betreiben.

Im Zuge der Corona-Pandemie wurden zunächst – wie bei der Konkurrenz auch – sämtliche Testfahrten auf öffentlichen Straßen eingestellt. Doch seit September ist Waymo wieder dabei. Der Service kann – seit Oktober 2020 erstmals ohne Einschränkungen – von jedermann genutzt werden in ausgewählten Testorten wie Phoenix. Auch ökonomisch sind die Testbetriebe gereift, Waymo verlangt Preise ähnlich wie bei einer Uber-Fahrt. Als direkte Folge der veränderten Sicherheitswahrnehmung durch die Corona-Pandemie ist der Sicherheitsfahrer ist verschwunden. Dieser war standardmäßig immer noch an Bord, um dem subjektiven Sicherheitsbedürfnis der Fahrgäste zu entsprechen, die sich in ihrer Mehrzahl unwohl fühlten ohne einen solchen.

Der gesetzlich vorgeschriebenen Eingriffsmöglichkeit im Disengagement-Fall wird durch Fernüberwachung genüge getan. Sobald das Fahrzeug eine Situation nicht bewältigen kann, übernimmt ein Robo-Taxi-Lotse, der in einem entfernten Kontrollzentrum sitzt, die Steuerung, ähnlich wie bei Fluglotsen: Ein Profi übernimmt die Steuerung in diesen Situationen per Fernwartung. Das mitfahrende Sicherheitspersonal kann so perspektivisch eingespart werden, was einen wesentlichen Kostenfaktor des Geschäftsmodells eliminiert. Noch ist die Sensorik und Hardware für die Fahrzeuge sehr teuer, ein weiterer Grund, warum der Betrieb einer Flotte mit ihrer hohen Auslastung der Fahrzeuge naheliegt, in der sich die hohen Anschaffungskosten der Fahrzeuge rasch amortisieren können.

Im September publizierte das Unternehmen einen Sicherheitsreport, der eine sehr detaillierte Unfallbilanz enthält. In einem Zeitraum von knapp zwei Jahren und einer insgesamt gefahrenen Strecke von fast 10 Millionen Kilometern waren Waymo-Fahrzeuge in 47 Unfälle verwickelt, meist Auffahrunfälle durch andere Fahrzeuge. Es gab keine Verletzten, und "schuldig" war in 100 Prozent der Fälle die Gegenseite. Waymo agiert – anders als Tesla und Uber mit ihren Testläufen – extrem vorsichtig und geht davon aus, dass sich die Technologie nur durchsetzt, wenn sie nahezu unfallfrei von Statten geht,

Die Corona-Pandemie hat also dem Geschäftsmodell nach kurzfristigem Shutdown einen ordentlichen Schub gegeben. "COVID-19 hat deutlich gemacht, wie vollständig selbstfahrende Technologie sichere und hygienische persönliche Mobilitäts- und Lieferservices bieten kann", gab CEO John Krafcik zu Protokoll.

Auch in China testen zahlreiche Startups und auch potentere Player wie Apollo, das zur chinesischen Suchmaschine Baidu gehört, Robo-Taxis in mehreren Städten. Seit 2019 haben chinesische Unternehmen, darunter Baidu, DiDi und AutoX ihre Robo-Taxi-Flotten verdoppelt auf derzeit 260 Fahrzeuge. Wie in den USA auch wurden Pandemiebedingt alle Testläufe eingestellt, konnten aber mehrere Monate früher wieder an den Start gehen – wertvolle Zeit im Rennen mit der Konkurrenz aus Kalifornien.

Autonome Autos kommen (28 Bilder)

Im Herbst 2015 stattete Tesla sein Model S per Software-Update mit einem Autopiloten aus.
(Bild: Tesla)

Staatliche Förderung und Installierung von flächendeckendem 5G in den Städten trägt ebenfalls dazu bei, dass die Experimente Aussicht auf Erfolg haben. So sollen bis Ende des Jahres 90% der Autobahnen in China mit der Vehicle-to-Everything (V2X) Technologie abgedeckt sein. Peking hat Ende Februar die Devise ausgegeben, bis 2025 ein Drittel aller in China produzierten Autos "selbstfahrfähig" sein sollen, berichtet das Wall Street Journal.

Die schiere Größe des chinesischen Binnenmarkts ist dabei das gewichtigste Argument für ein lukratives Geschäft. Jianxiong Xiao, Chef von AutoX, das in der südchinesischen Stadt Shenzhen einen Testlauf mit selbstfahrender Flotte unterhält: "Wenn sie es in einer Stadt geschafft haben, können sie die gleiche Technologie, das gleiche Geschäftsmodell auf 200 weiteren Städte übertragen."

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Technologisch und wirtschaftlich dürften die US-Firmen derzeit noch eine Führungsrolle einnehmen. Bei der breiten Umsetzung in einem Massenmarkt könnte jedoch sogar China das Rennen machen. Bei uns ist von solchen Flottenexperimenten mit automatisiertem Passagiertransport bislang wenig zu sehen. Die Dominanz des Privat-PKWs und der damit verknüpften "Fahrerperspektive" ist deutlich, die Autokonzerne besitzen die Definitionshoheit und Diskursmacht beim Stichwort "autonomes Fahren". Gleichzeitig verfügen wir in Deutschland über einen vergleichsweise guten öffentlichen Verkehr.

Die Entwicklungspfade der Autoindustrie dominieren hierzulande, und es gibt keine Digitalkonzerne, die Vergleichbares hier versuchen würden. Neue Mobilitätsformen haben es traditionell schwer bei uns, Uber hat es nicht geschafft, sein Geschäftsmodell in Deutschland zu etablieren. Als Nischenprodukt sind Testbetriebe mit autonomen Shuttles verbreitet, die jedoch technologisch, was die kommerzielle Nutzung und die Skalierbarkeit angeht, über prototypische Kleinprojekte bislang nicht hinausgehen.

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Die Frage stellt sich, ob es nicht Aufgabe des ÖPNV wäre, hier Dinge voranzutreiben, statt das Feld der Autoindustrie bzw. den Digitalkonzernen zu überlassen. Denn: Ist das was Waymo macht nicht weniger Konkurrenz zum ÖPNV, sondern vielmehr ganz im Gegenteil dessen Zukunft? Auch der Taxiservice mit Fahrerinnen und Fahrern, wie wir ihn kennen, ist schließlich Teil des ÖPNV. Es handelt sich dabei ja um ein System der Passagierbeförderung, für alle – Kinder, Blinde, Schüler, Alte, Männer und Frauen (vorausgesetzt, sie können es sich leisten), und es ist – wie bei jeder Flotte, etwa Taxis oder Lieferfahrzeuge, maximale Auslastung angestrebt. Warum nicht dafür sorgen, dass auch der fahrerlose Passagiertransport, autonome Shuttles und eine breiter Palette weiterer fahrerloser Transportmittel Teil desselben wird?

Impulse kommen erstaunlicherweise aus dem sonst so Autofreundlichen Verkehrsministerium. Dort wird derzeit an einer Novelle der Straßenverkehrsordnung gearbeitet, die erstmals autonomes Fahren auf Stufe 4 (vollautomatisiertes Fahren) reguliert – das wäre die weltweit die erste Regelung dieser Art. Sie soll bereits nächstes Jahr verabschiedet werden und Signalwirkung in Richtung einer europäischen Regelung entfalten. Derzeit befindet sich der Gesetzentwurf in der Ressortabstimmung, worauf eine Phase der Anhörungen mit Länder- und Verbandsvertretern geplant ist. Das Gesetz braucht die Zustimmung des Bundesrates. Es ist zudem gedacht als "Übergangslösung, bis auf internationaler Ebene harmonisierte Vorschriften vorliegen", so das BMVI.

Angesichts der skizzierten Situation mutet dieses vollmundige Statement des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur seltsam entrückt an. Aber Deutschland bzw. die EU haben immerhin die Chance, zum Vorreiter bei der Regulierung zu werden. Gelänge dies, würde sich so die Geschichte der Europäischen Datenschutzgrundverordnung wiederholen, die ja auch zum weltweiten Leitlinie geworden ist.

(bme)