Missing Link: Chinas neue Autoindustrie zielt auf den elektrischen Weltmarkt

In der E-Mobilität gelingt China zunehmend die Produktion weltmarktfähiger Produkte. Ziel ist der europäische Markt, vor allem aber der Globale Süden.

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(Bild: Tatohra/Shutterstock.com)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Timo Daum
Inhaltsverzeichnis

Was hat der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva mit seinem usbekischen Amtskollegen Shavkat Mirziyoyev gemeinsam? Beide präsentierten kürzlich ihren neuen, rein batterieelektrischen Dienstwagen. Auch der Hersteller der präsidialen Staatslimousinen ist in beiden Fällen derselbe: BYD (Build Your Dreams) aus Shenzhen, Provinz Guandong, Volksrepublik China. Die meisten anderen Staatschefs – darunter der deutsche Bundeskanzler – lassen sich wie gewohnt von einem Verbrennerfahrzeug kutschieren.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Die Fahrzeugwahl kommt nicht von ungefähr: BYD hat die brasilianische Stadt Camaçari (Bahia) gewählt, um hier sein erstes Werk außerhalb Asiens zu errichten. Die Fabrik wird eine Kapazität für 150.000 Elektroautos pro Jahr haben. Präsident Lula gibt auf der Plattform X seiner Hoffnung Ausdruck, dass dort "mehr als 10.000 Arbeitsplätze geschaffen und 3 Milliarden Real (umgerechnet ca. 560 Millionen Euro) investiert werden, was die lokale Wirtschaft ankurbeln und zu einer größeren Produktion von nachhaltigen Fahrzeugen mit sauberer Energie beitragen" werde.

BYD – ein ehemaliger Elektronikbauteile-Zulieferer hat es zum größten Elektroautohersteller der Welt – noch vor Tesla – gebracht (siehe: Missing Link: China – Aus Tech-Unternehmen und Zulieferern werden Autohersteller). Zusammen mit vielen weiteren lokalen Herstellern dominiert es den chinesischen Binnenmarkt. 80 Prozent der Elektrofahrzeuge, die in China zugelassen werden, stammen aus heimischer Produktion – darunter lag allerdings im vergangenen Jahr das Tesla Model Y etwa auf Platz 2 der Neuzulassungen, das unter anderem auch in China produziert wird.

Export von NEVs nach Regionen

(Bild: Sinolytics)

BYD expandiert weiter, in Zhengzhou – bekannt als "iPhone-Stadt" wegen der dort angesiedelten Foxconn-Produktionsanlagen – entsteht gerade die weltgrößte Autofabrik. Aber auch im Ausland expandiert das Unternehmen. In Mexiko soll 2025 ein Werk entstehen, um von dort aus den nordamerikanischen Markt zu bedienen. Um für den europäischen Markt zu produzieren und mögliche Strafzölle der EU zu umgehen, hat BYD Ende Januar BYD den Kauf eines Grundstücks im ungarischen Szeged besiegelt.

BYDs internationale Optionen unterstreicht ein Marketing-Coup, der dem Unternehmen gerade geglückt ist: BYD verdrängt Volkswagen als Hauptsponsor der Fußball-Europameisterschaft 2024. Damit unterstreicht es eindrücklich das Selbstbewusstsein und die weltweiten Ambitionen des ehemaligen Batterie-Startups aus der Sonderwirtschaftszone Shenzhen.

Europa hat 2021 Asien als Chinas größter Absatzmarkt für Elektrofahrzeuge aus China abgelöst. Fast die Hälfte aller E-Auto-Exporte gingen 2023 nach Europa, über 600.000 Fahrzeuge. Fahrzeuge mit dem Logo MG sind bislang am erfolgreichsten, die ehemals britische Sportwagenmarke gehört dem chinesischen Hersteller SAIC (Shanghai Automobile Industry Corporation).

In Deutschland kommen chinesische Fahrzeuge noch nicht gut an, BYD konnte im vergangenen Jahr nur 16.000 ausgelieferte Autos vermelden. Dennoch dürfte BYD auch in Europa zum erfolgreichsten Hersteller werden, nicht zuletzt dank des Deals mit dem Autovermieter Sixt. Die Pullacher Autovermieter orderten ab 2022 die Lieferung von insgesamt 100.000 Fahrzeugen vom Typ Atto 3 bei BYD.

Derzeit eröffnet das Unternehmen Showrooms in Deutschland, zum Beispiel in der Stuttgarter Innenstadt in Rufweite der deutschen Premiumhersteller. Weitere sind in diesem Frühjahr in Frankfurt, Hamburg und Berlin geplant.

Die neuen chinesischen Auto-Unternehmen zielen zunehmend auf den Weltmarkt. China hat 2022 Deutschland bei den Automobilexporten überholt und ist in 2023 auch an Japan vorbeigezogen. 60 Prozent aller weltweit hergestellten Elektrofahrzeuge (Hybrid und batterieelektrisch) werden in China gebaut, 2023 waren es 9,5 Millionen. Damit ist China zum weltweit größten Automobilexporteur geworden.

Chinas Aufstieg zum führenden Anbieter von Elektrofahrzeugen wurde durch großzügige staatliche Unterstützung erst möglich. Und auch die weltweite Expansion chinesischer Autobauer steht auf der Agenda der Partei- und Staatsführung. Hintergrund ist die Entwicklungsdoktrin der "Dualen Zirkulation", auch "Zwei Kreisläufe" genannt.

Die Entwicklungsdoktrin der "Zwei Kreisläufe" bedeutet keine Abkopplung vom Weltmarkt, sondern eine Stärkung des Binnenkonsums bei gleichzeitiger exportfähiger Technologieführerschaft – insbesondere im Bereich "grüner Technologien" – Solar, Wind, E-Mobilität.

Die Dekarbonisierung ist politisch gewollt, die Partei- und Staatsführung schlägt drei Fliegen mit einer Klappe: eine heimische industrielle Basis im Bereich "grüner Technologien" schaffen, den Binnen- und den Außenmarkt bedienen und zugleich gegen die Umweltverschmutzung im eigenen Land vorgehen.

China versteht sich selbst noch als Land in Entwicklung, das nach "ökologischer Zivilisation" strebt – so steht es sogar in der Verfassung des Landes. Wobei diese ökologische Entwicklung mit einer "Kombination aus einer dienstleistungsintensiven Wirtschaft, Effizienz in der Produktion und umweltfreundlichen Technologien" angestrebt wird, erläutert der Anthropologe Stevan Harrel, der an der Universität Washington lehrt, in seiner Geschichte von Chinas Umweltpolitik seit der Staatsgründung.

Zuletzt deutet sich an, dass China auch im Globalen Süden seine Elektrifizierungs-Agenda vorantreiben will. Im Jahr 2022 übertrafen Chinas Exporte in den Globalen Süden erstmals diejenigen in die G20-Staaten. Besonders interessanter Zielmarkt ist der afrikanische Kontinent.

China hat die EU und die Vereinigten Staaten als bedeutendsten Wirtschaftsakteur in Afrika überholt. Heute ist es die wichtigste Quelle ausländischer Direktinvestitionen auf dem Kontinent. Darüber hinaus ist China mittlerweile auch Afrikas zweitgrößter Handelspartner nach der Europäischen Union, mit einem Umsatz von rund 261 Milliarden Euro im Jahr 2023.

Denn auch afrikanische Staaten setzen zunehmend auf Elektrifizierung, insbesondere beim öffentlichen Verkehr. In Kenia und Nigeria werden erste Schritte in diese Richtung unternommen. Auch Marokko positioniert sich als Produktionsstandort für Elektrofahrzeuge – und chinesische Unternehmen stehen im Mittelpunkt dieser Pläne.

Chinas Rezept einer Elektrifizierung des heimischen Marktes für private und öffentliche Fahrzeuge gepaart mit dem Aufbau einer heimischen Industrie, die diese Fahrzeuge liefern kann, ist auch für Länder des Globalen Südens attraktiv.

In der nigerianischen Hauptstadt Lagos streben die dortigen Verkehrsbetriebe die Elektrifizierung ihrer Busflotte an. Die Lagos Metropolitan Area Transport Authority (Lamata) plant in den nächsten sieben Jahren in der größten Stadt Afrikas den Einsatz von 12.000 Elektrobussen – das wäre nach Shenzhen die weltweit größte elektrische Busflotte. Sie ist dazu eine Partnerschaft mit Oando Clean Energy eingegangen, einer Tochterfirma von Nigerias größtem Energieunternehmen Oando, die laut Vereinbarung auch die Finanzierung der Busse und Ladestationen übernimmt.

Die Busse kommen vom chinesischen Nutzfahrzeugbauer Yutong und sollen an Produktionsstätten vor Ort montiert werden. Yutong mit Hauptsitz in Zhengzhou in der Provinz Henan ist neben BYD einer der weltweit größten Bushersteller. In Nigeria und Äthiopien verfügt Yutong über eigene Produktionsstätten.

Auch die kenianische Hauptstadt Nairobi bereitet sich auf eine batterieelektrische Zukunft vor. Im Juli 2023 unterzeichneten das kenianische Elektrofahrzeugunternehmen Autopax und der chinesische Autohersteller SGMW eine Partnerschaftsvereinbarung zur Produktion kostengünstiger Elektrofahrzeuge. Der in China erfolgreiche Elektro-Kleinwagen Wuling Mini, der dort nur umgerechnet 5000 US-Dollar kostet, soll vor Ort als Lizenzbau gefertigt werden. Kenia verfügt heute über eine Stromerzeugungsquote von 80 Prozent aus erneuerbaren Energien und ein wesentlich stabileres Netz als noch vor Jahren.

Auch Marokko wird zum E-Mobilitätsschwerpunkt. Das nordafrikanische Land verfügt über wichtige Mineralien, bietet Steueranreize und kann mit einem Lohnniveau punkten, das weit unter dem des benachbarten Spaniens liegt. Zudem ist Marokko als Automobilstandort bereits etabliert, Stellantis und Renault produzieren jährlich etwa eine Million Fahrzeuge. Vor allem die Nähe zum europäischen Markt macht den Standort für chinesische Unternehmen attraktiv.

Im Jahr 2016 besuchte Chinas Staatspräsident Xi Jinping Marokko, bei dieser Gelegenheit kündigte er gemeinsam mit König Mohammed die Errichtung des Wissenschafts- und Technologiezentrums "Mohammed VI Tangier Science and Technology City" an. Nach einigen Verzögerungen kommt das Projekt jetzt in Gang.

Unter den Firmen, die dort demnächst produzieren wollen, ist Gotion High-Tech, die eine 5,5 Milliarden Euro teure Fabrik zur Herstellung von Batterien für Elektroautos plant. Das Batterie-Startup aus Shenzhen ist hierzulande bekannt durch sein Joint Venture mit Volkswagen, gemeinsam bauen die beiden Unternehmen in Salzgitter eine Batteriefertigung auf. Angekündigt hat sich auch der chinesische Hersteller von Batterieteilen CNGR Advanced Material, der mit einem lokalen Partner 2 Milliarden Euro in eine Fabrikationsanlage investieren will.

Der chinesische Botschafter in Marokko, Li Changlin ist zuversichtlich, dass China so "zum wichtigen Player in der marokkanischen Elektrofahrzeugindustrie" werden wird und "Industrialisierungsprozess Marokkos" beitragen wird, berichtet die South China Morning Post.

Diese Äußerung verdeutlicht den chinesischen Blick auf Infrastrukturen als Motor des Fortschritts im Globalen Süden.

In einer Studie zu Chinas internationaler Entwicklungszusammenarbeit erläutert Marina Rudyak, Sinologin an der Universität Heidelberg und Expertin für Chinas Entwicklungspolitik, diese Perspektive: "Während China die Vorstellung von Afrika als einem Land voller Möglichkeiten fördert, wird der Westen von Afrika so wahrgenommen, als würde er den Kontinent immer noch hauptsächlich unter humanitären und sicherheitsbezogenen Gesichtspunkten betrachten und nicht als einen Ort strategischer Möglichkeiten."

Aus chinesischer Perspektive ist Afrika in erster Linie ein Kontinent mit Entwicklungspotenzial, unter anderem für eine möglicherweise vorwiegend elektrische Motorisierung.

Hierzulande sieht man Afrika in kolonialer Tradition nach wie vor in erster Linie als Lieferant von Rohstoffen – von Metallerzen, Erdöl oder neuerdings auch von "grünem Wasserstoff".

(bme)