Missing Link: Das Rätsel Dunkle Materie – und wenn es sie gar nicht gibt?

Seite 2: Darf der das? Dass der das darf…!

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Aber darf man das? Schließlich liegt dem µ-Term keinerlei physikalische Motivation zugrunde. Es gibt nicht einmal eine eindeutige Gestalt des Terms µ(a/a0), sondern es kursieren mehrere Varianten. Auch die Konstante a0 ist nicht näher begründet. Diese Größen sind empirisch gewählt, sie sind an die zu modellierenden Rotationskurven angepasst. Man darf das schon, viele Theorien haben zu Beginn auf empirischen Beziehungen aufgesetzt, man denke an die Keplerschen Gesetze. Aber eine theoretische Grundlage fehlt bei MOND bisher.

Nun werden MOND-Vertreter einwenden, das sei bei der Dunklen Materie ja nicht anders, sie werde im Modell auch nur genau so passend verteilt, dass die gewünschten Rotationskurven herauskommen. Es gibt aber den wesentlichen Unterschied, dass die Theorie der Dunklen Materie die vielfach verifizierten Naturgesetze unangetastet lässt und nur an den Ingredienzien dreht, die als tatsächlich vorhanden betrachtet werden – seien es WIMPs, sterile Neutrinos oder primordiale Schwarze Löcher. Vielmehr beruht das ursprünglich ebenfalls empirisch ermittelte Newtonsche Gravitationsgesetz mittlerweile auf der rein geometrisch begründeten Relativitätstheorie, und purzelt aus ihr als Spezialfall heraus. Im Gegensatz dazu entzieht sich das MONDsche Kraftgesetz dem experimentellen Nachweis im Labor und kann nur anhand von Beobachtungen an Galaxien überprüft werden – die ebenso gut durch Dunkle Materie erklärt werden können.

Die Annahme, dass es unentdeckte Teilchen gibt, ist gegenüber einer Modifikation des Gravitationsgesetzes die sparsamere, weniger radikale Theorie, die nach Ockhams Rasiermesser vorzuziehen ist. Man müsste die Teilchen der Dunklen Materie "nur" in der benötigten Menge aufspüren, dann wäre die "Dunkle-Materie-Teilchen-Theorie" belegt. Gemeinhin wird sie als CDM (kalte Dunkle Materie, "Cold Dark Matter") bezeichnet; kalt, weil die Teilchen sich langsam bewegen müssen, um den Galaxien nicht zu entfliehen. In Union mit der Raumexpansion unter dem Einfluss der Dunklen Energie Λ ist die Abkürzung ΛCDM für das Modell gebräuchlich.

Aus diesem Grund liefern sich einige Vertreter beider Lager zurzeit einen Widerlegungswettstreit. Der erste Präzedenzfall war der Bullet-Cluster. Für die Vertreter von ΛCDM ein klarer Fall: der Hauptteil der sichtbaren Materie steckt im Gas, die größte Masse aber in den Zentren der beiden Haufen, also kann ein modifiziertes Gravitationsgesetz, das sich auf die sichtbare Masse, also Gas und Sterne, bezieht, nicht erklären, warum ausgerechnet weitab vom Hauptteil der leuchtenden Masse die Gravitationslinsenwirkung auf Hintergrundobjekte am größten sein soll.

Einige MOND-Vertreter machen hingegen aus dem Bullet-Cluster ein Paradebeispiel gegen die Dunkle Materie: die Kollisionsgeschwindigkeit der Galaxienhaufen sei mit 3000 km/s viel zu hoch. Simulationen mit Dunkler Materie gemäß sollte so eine hohe Relativgeschwindigkeit nur in einem von 10 Milliarden Fällen auftreten (tatsächlich fand man mit den Weltraumteleskopen Hubble und Chandra unter 72 kollidierenden Galaxienhaufen 6, die sich ähnlich wie der Bullet-Cluster verhalten). Also müssen die Simulationen falsch sein.

Das mag sein (spätere Simulationen kamen auf ca. 6,4 zu einer Million), vielleicht wurde ein Aspekt außer Acht gelassen. Das macht MOND aber deswegen nicht richtig. Kann MOND den Bullet-Cluster überhaupt erklären? Laut einer Arbeit von Angus, Famaey und Zhao ja: sie fanden eine Verteilung mit mehreren Massenzentren, die genau dieselben optischen Verzerrungen verursacht, die man beim Bullet Cluster beobachtet und bei denen man von zwei Massenzentren (eines in jedem der beiden Galaxienhaufen) ausgeht. Das macht es nicht unbedingt wahrscheinlich, dass so eine Verteilung auch in der Realität zustande kommt.

Aktuell heiß diskutiert wird der Fall zweier Zwerggalaxien, NGC 1052-DF2 und -DF4, lichtschwache Nachbargalaxien der Spiralgalaxie NGC 1052, die anscheinend gar keine Dunkle Materie enthalten: die Sterne bewegen sich exakt so, wie es nach Sir Isaac Newton zu erwarten wäre. Pieter van Dokkum und sein Team entdeckten die Galaxien mit ihren Dragonfly-Kameras (daher "DF"), die Insektenaugen gleich aus einer Matrix von 36 mit CCD-Kameras bestückten großen Teleobjektiven bestehen und großflächig nach lichtschwachen Galaxien suchen. Die Messung der Spektralverschiebung der die beiden Zwerggalaxien umkreisenden Kugelsternhaufen ergab niedrige Geschwindigkeiten und damit eine geringe Masse der Galaxien, die ziemlich genau derjenigen entspricht, die für ihre aus der Leuchtkraft geschlossene baryonische Masse alleine zu erwarten wäre. Damit, so van Dokkum, sei endgültig bewiesen, dass es Dunkle Materie gebe und MOND falsch sei.

Wie jetzt, die Abwesenheit von Dunkler Materie beweist ihre Existenz? Ja, denn Dunkle Materie wäre damit etwas, das unabhängig von leuchtender Materie vorhanden sein kann – oder eben nicht. Weil MOND hingegen immer an die vorhandene Materie gekoppelt sein müsste, dürfte es bei MOND keine Galaxien geben, die sich Newtonsch verhalten.

Die "Galaxie ohne Dunkle Materie" NGC 1052-DF2 im Vergleich mit Zwerggalaxien in der Lokalen Gruppe um Milchstraße und Andromedagalaxie. Dargestellt ist auf der x-Achse die leuchtende Masse (Zehnerlogarithmus der Masse in Sonnenmassen, also 8 ≙ 108=100 Millionen Sonnenmassen) und auf der y-Achse die Streuung σ der Rotationsgeschwindigkeiten, die mit der Gesamtmasse nach oben hin zunimmt. NGC 1052-DF2 fällt aus dem Rahmen und liegt in der Nähe der unteren Massengrenze ohne Dunkle Materie.

Pawel Kroupa, Oliver Müller und andere wiesen jedoch umgehend darauf hin, dass es in der MOND-Theorie den sogenannten "Externen Feld-Effekt" gebe: wenn eine große Masse mit ihrem Schwerefeld in der Nähe sei (wie etwa NGC 1052), dann sorge ihre Schwerkraft dafür, dass die Umgebung wieder über die kritische Beschleunigung angehoben und damit Newtonsch werde. Milgrom selbst hatte diesen Effekt vorhergesagt, als Folge davon, dass sich die Schwerefelder mehrerer Massen aufgrund des modifizierten Abstandsgesetzes nicht vektoriell addieren wie bei Newton. Einem Newtonschen System wie etwa einem Stern, der von einem Planeten umkreist wird, wäre es gleichgültig, ob es sich alleine im weiten leeren Raum umkreiste, oder im Schwerefeld der Milchstraße. Nicht so bei MOND, wo sich das Schwerkraftgesetz in der Umgebung großer Massen ändert. Damit verletzt MOND eines der Grundprinzipien der Relativitätstheorie, das "Starke Äquivalenzprinzip", dem gemäß Experimente im freien Fall eines Schwerefelds nicht unterscheidbar sein sollten von solchen fernab jeder anziehenden Masse.

Die Sterne in den Satellitengalaxien befinden sich im freien Fall des Schwerefelds von NGC 1052 und sollen sich laut dem Externen Feld-Effekt genau deshalb anders umeinander drehen, als sie es im freien Raum täten.

Der Externe-Feld-Effekt: nach Newton und Einstein hat eine externe Gravitationsquelle (zum Beispiel die Milchstraße) keine Auswirkung auf den Umlauf eines Planeten um die Sonne. Die Kraft N zwischen Planet und Sonne wäre im Schwerefeld der Milchstraße exakt dieselbe wie weit draußen im intergalaktischen Raum. Der Externe-Feld-Effekt der Schwerebeschleunigung gext durch die Milchstraße ändert in MOND jedoch das Regime der wirkenden Gravitation über den Faktor µ. Nur deswegen sollen die Galaxien NGC 1052-DF2 und -DF4 so rotieren, als enthielten sie keine Dunkle Materie.

(Bild: Lorenzo Iorio, 2009)

So reklamiert die MOND-Seite den Sieg für sich, weil in DF2 und DF4 dank des Externen Feld-Effekts keine MONDsche Rotationskurve zu sehen ist – die Dunkle-Materie-Seite sieht sich als Sieger, weil sie die Rotationskurve mit abwesender Dunkler Materie begründen kann.

Dass die Modifizierte Newtonsche Dynamik mit dem starken Äquivalenzprinzip die vielfach überprüfte Allgemeine Relativitätstheorie verletzt, spricht natürlich nicht für sie; noch weniger, dass in ihr Impuls, Drehimpuls und Energie nicht erhalten sind, das funktioniert nur in 1/r²-Feldern. Darüber war selbst Milgrom unglücklich und er machte sich zusammen mit Jacob Bekenstein auf die Suche nach einer relativistischen Erweiterung von MOND. Es war Bekenstein, der 2004 die "Tensor-Vektor-Skalar-Gravitation" (TeVeS) vorstellte. TeVeS verletzt das Starke Äquivalenzprinzip nur in Umgebungen mit bisher experimentell noch nicht ausgelotet geringer Schwerkraft, hält es jedoch im Sonnensystem in vollem Umfang ein.

Die TeVeS-Theorie baut, genau wie die Allgemeine Relativitätstheorie, auf komplexer Differentialgeometrie auf. Der Name rührt von der Form ihrer Lagrange-Dichtefunktion her, die eine Tensor-, Vektor- und Skalarkomponente enthält. Die Lagrangefunktion (ohne Dichte) erlaubt in der Mechanik die Darstellung von Bewegungsgleichungen über die Differenz aus Bewegungs- und Lageenergie. Die Lagrange-Dichtefunktion wendet die Lagrangefunktion auf Felder an, an jedem Ort des Feldes. In der Physik ordnet ein Feld einfach jedem Punkt im Raum einen Wert zu: wenn der Wert eine ungerichtete (skalare) Größe ist, etwa die Temperatur, spricht man von einem Skalarfeld. Ist der Wert eine gerichtete Größe (Vektor) wie etwa die Richtung der Schwerkraft, dann spricht man von einem Vektorfeld, und bei einer Größe, die zur Darstellung eine Matrix benötigt, wie etwa die Beschreibung der Raumzeitkrümmung in der Allgemeinen Relativitätstheorie, dann erhält man ein Tensorfeld.

TeVeS hat von jedem etwas (wobei der Tensor derselbe wie in der Allgemeinen Relativitätstheorie ist), und damit zahlreiche Stellknöpfe zur Feinabstimmung und Anpassung. So wie MOND das Newtonsche Gravitationsgesetz mit einem Zusatzterm modifiziert, so modifiziert TeVeS die Allgemeine Relativitätstheorie.

Grob übersetzt postuliert TeVeS ein Äther-artiges Feld, das die Gravitationskonstante G von der lokalen Schwerebeschleunigung abhängig macht. Bei einer Schwerebeschleunigung in der Größenordnung des Sonnensystems liegt die Variation von G innerhalb von 10-16 des bekannten Werts, was weit unterhalb der Genauigkeit unserer Messungen liegt (6,67430±0,00015 m³ kg-1 s-², das heißt Unsicherheit schon in der vierten Nachkommastelle). Dennoch variiert G in TeVeS um einen Faktor 10 innerhalb von Galaxien und über das Alter des Universums, in welchem die wechselseitige Gravitation mit der durch seine Expansion abnehmenden Dichte fiel. Die zeitliche Variation würde dann gleichzeitig den beobachteten Effekt der beschleunigten Expansion des Universums erklären, bekannter unter dem Begriff der "Dunklen Energie".

TeVeS beschreibt die Bahn von Partikeln und Licht durch eine Krümmung der Raumzeit, wie es auch die Allgemeine Relativitätstheorie tut, allerdings mit modifizierter Raumzeit-Geometrie (Metrik), in die ein Vektorfeld und zwei Skalarfelder (ein zeitlich veränderliches und ein statisches) eingehen, die die Gravitation der Dunklen Materie ersetzen.

Somit kann TeVeS wie die Allgemeine Relativitätstheorie die Expansion des Weltalls, Schwarze Löcher (mit Problemen bei der Kausalität), Gravitationswellen und auch die Lichtablenkung im Schwerefeld erklären und sagt voraus, dass diese in schwachen Gravitationsfeldern stärker ausfällt, als in der Allgemeinen Relativitätstheorie. Wenn wir also die Allgemeine Relativitätstheorie auf die optischen Verzerrungen von Hintergrundgalaxien loslassen, kommen wir auf zu hohe Massenwerte, die uns die Existenz von zusätzlicher Dunkler Materie vorgaukeln. TeVeS kann auch die Struktur der kosmischen Hintergrundstrahlung teilweise reproduzieren, scheitert aber am Verhältnis der Höhen der zweiten und dritten Spitze in ihrem räumlichen Spektrum (siehe Teil 2 dieser Reihe). TeVeS hat auch keine bessere Erklärung als MOND für den Bullet-Cluster und die Galaxien ohne Dunkle Materie (bis auf den Externen Feld-Effekt).

Das Spektrum der kosmischen Mikrowellen-Hintergrundstrahlung laut Messungen des WMAP-Weltraumteleskops (Messpunkte und -intervalle), gemäß ΛCDM-Modell der Dunklen Materie (gepunktete Linie) und TeVeS. Die x-Achse ist ein Maß für den Winkelabstand (Multipolmoment), die y-Achse für die Ähnlichkeit der Strukturen bei diesem Abstand. ΛCDM reproduziert den von WMAP gemessenen Verlauf bei großen Winkeln (links) und vor allem bei kleinen (rechts) deutlich besser als TeVeS. Vor allem das Höhenverhältnis des dritten zum zweiten Maximum fällt bei TeVeS viel zu klein aus.

(Bild: Constantinos Skordis, 2009)

TeVeS sagt schließlich voraus, dass Licht anderen Geodäten folgt als Gravitationswellen, woraus sich ein Laufzeitunterschied zwischen Licht und Gravitationswellen ergibt, wenn sie durch die Schwerefelder von Galaxien laufen – und genau das wurde falsifiziert, als der Gravitationswellendetektor LIGO am 17. August 2017 die Verschmelzung eines Doppelpulsars maß, dessen Gammablitz parallel von den Gamma-Weltraumteleskopen Fermi und INTEGRAL registriert wurde. Laut einer Arbeit von Boran, Desai und anderen sagt die Einsteinsche Relativitätstheorie im Schwerefeld mehrerer Galaxien auf der Sichtlinie zur Quelle eine Laufzeitverzögerung (Shapiro-Verzögerung) durch die Raumzeitkrümmung von 400 Tagen voraus. Sowohl die Gammastrahlung als auch die Gravitationswellen erfahren in der Allgemeinen Relativitätstheorie eine identische Laufzeitverzögerung, denn sie folgen derselben Raumzeit-Geometrie. Zwischen dem Gravitationswellensignal und dem Gammablitz betrug die Laufzeitdifferenz jedoch nur 1,7 Sekunden. Das ist eine Zeitdifferenz, die problemlos dadurch erklärt werden kann, dass der Gammablitz von der leicht verzögerten Akkretion verbliebenen Restmaterials der zuvor durch die Gezeitenkräfte zerrissenen Neutronensterne herrührte.

Bei TeVeS sind die Metriken für Licht und Gravitationswellen hingegen verschieden: Licht spürt den Effekt der durch die Modifikation der Einsteinschen Metrik emulierten Dunklen Materie, während Gravitationswellen nur von der Metrik der baryonischen Materie beeinflusst werden. Nach TeVeS (und anderen alternativen Gravitationstheorien, die die Dunkle Materie emulieren) hätte der Gammablitz erst in der Größenordnung von 400 Tagen nach den Gravitationswellen eintreffen sollen, womit TeVeS falsifiziert ist. Da die TeVeS-Anhänger sich jedoch auf die kleine Wahrscheinlichkeit berufen können, dass das Gamma-Signal nur zufällig koinzident zu den Gravitationswellen gewesen sein könnte und gar nicht von derselben Quelle stammte, ist die Theorie nicht völlig tot, sondern zombiet noch durch die Fachliteratur.