Missing Link: Der Angriff auf das offene Internet und die Ethik des Netzes

Seite 2: "Das Netz selbst gibt die Werte vor"

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heise online: Die Frage ist, ob von oben orchestriert wird? Können die Chapter da selbst eine eigene Note einbringen?

Andrew Sullivan: Das wirkt manchmal vielleicht etwas schwach. Es gibt da durchaus Kritik und auch Warnungen vor einer Kluft. Meine bisherige Erfahrung - und ich würde mal sagen, es ist vielleicht noch etwas früh dafür - immerhin meine Erfahrungen als Chapter-Mitglied sind, dass die regionalen Büros der Organisation [wie etwa das Büro in Brüssel, Anm.d.Red.] teilweise recht eng zusammenarbeiten mit den nationalen Chaptern. Das bedeutet nicht automatisch, dass jede nationale Priorität auf der regionalen oder internationalen Ebene aufgegriffen wird, genauso wie umgekehrt. Wir versuchen, über unsere jeweiligen Kampagnen gemeinsame Ziele zu definieren und ich finde, man kann erkennen, dass wir bei aller Diversität international in eine Richtung marschieren. Denn eigentlich gibt das Netz selbst die Werte vor, die wir gemeinsam verfolgen.

heise online: Sie sprechen selbst von Schwächen bei der Zusammenarbeit, was wollen Sie verbessern?

Andrew Sullivan: Ich glaube, wir müssen den Chaptern und Special-Interest-Gruppen (die zu bestimmten Themen arbeiten) stets klar vermitteln: Die Internet Society ist ohne sie wenig "Society". Ohne sie können wir unsere Arbeit nicht tun. Wenn sich die Leute das ISOC-Budget anschauen ...

heise online: Rund 42 Millionen US Dollar und einhundert Mitarbeiter ...

Andrew Sullivan: Ja, rund einhundert und ein relativ großes Budget. Aber bedenken Sie, welche Interessen auf der anderen Seite sind. Unser Budget ist öffentlich, jeder kann sehen, wie viel wir ausgeben. Die Zahlen entsprechen so ungefähr den Bonuszahlungen einiger Firmen ... Regierungen haben unbeschränkt mehr Ressourcen. Also, das sieht wie ein Haufen Geld aus. Aber wenn man international arbeitet und Gegner hat, deren Ziel es ist, das Internet in eine Richtung zu verändern, die den Interessen der Nutzer und des Netzes selbst zuwiderlaufen, hat man eine Menge zu tun - und dann ist das gar nicht mehr so viel Geld.

Letztlich müssen wir uns auf eine andere Form der Macht verlassen, die, die uns die Mitglieder, die nationalen Chapter und die Mitstreiter in den Kampagnen verleihen. Das ist eine andere Art von Macht als die, die man mit Millionen kaufen kann.

heise online: Sie haben von Gegnern gesprochen, die sie bekämpfen. Wer ist der Feind?

Andrew Sullivan: Lassen Sie uns nicht von Feinden sprechen, sondern von Akteuren, die fundamental missverstanden haben, wofür das Internet gut ist. Historisch waren die Vorteile der Vernetzung offensichtlich. Klar gibt es immer jemand, der neue Technologien für eine dumme Idee hält, Angst hat oder eigene Interessen bedroht sieht. Aber die Vorteile standen im Vordergrund. Heute stehen wir Kräften gegenüber, die schon immer gegen ein offenes Netz waren. Eine bestimmte Art von Regierungen, manche Unternehmen, die gerne totale Kontrolle über ihr geistiges Eigentum, über ihre Botschaften und die Erfahrungen ihrer Nutzer haben wollen.

Man sollte diese Interessen nicht von vornherein rundweg als negativ abtun. Aber wenn wir keine Debatte darüber zulassen, wie wir den Ausgleich von Interessen regeln wollen, wenn wir stattdessen die Durchsetzung der jeweiligen Partikularinteressen einfach nur zulassen, verlieren wir den Wert, den uns ein offenes, vertrauenswürdiges und globales Netz bringt. Wir geben die Attribute auf, die den Optimismus der frühen Jahre (des Internet) gerechtfertigt haben. Da war vielleicht manches geschönt, zu naiv bezüglich der Konsequenzen. Im Kern aber bleibt unbestreitbar, dass ein Netz, das Sender und Empfänger ohne Boss in der Mitte verbindet, ein wunderbares System ist. Das müssen wir erhalten.

heise online: Wo liegen die größten Gefahren, was steht auf der Agenda?

Andrew Sullivan: Ich nenne mal Internet-Shutdowns als Beispiel, gegen die wir zusammen mit AccessNow eine Kampagne machen. Internet-Shutdowns sind einfach nicht gut. Lassen wir mal kurz die betroffenen Nutzer außer Acht. Es ist einfach so, dass ein Netz, das zu gemacht wird, über kurz oder lang seinen Wert verliert.

Das schlichte Erfolgsrezept des Internet besteht darin, dass sich Netze freiwillig zusammenschalten. Wenn ich mich mit deinem Netz verbinde, aber du immer wieder vom Radar verschwindest, höre ich auf, dich als verlässliche Verbindung zu betrachten. Und irgendwann kannst du dich nicht mehr mit mir verbinden, oder ich lasse dich dann dafür bezahlen. Wer dieses Grundprinzip nicht verstanden hat, neigt zu allzu simplen Schlüssen und unterminiert den Betrieb seines Netzes.

heise online: Welche aktuelle gesetzliche Regelung sehen sie als besondere Bedrohung, könnten Sie ein Beispiel nennen?

Andrew Sullivan: Ein Beispiel? (Lacht). Da ist die Auswahl so reichhaltig. Anstatt ein einzelnes Gesetz herauszugreifen, lassen Sie uns lieber über die grassierende Idee reden, dass verschlüsselte Netze knackbar sein müssen, um eine legitime Strafverfolgung zu erlauben. Die Strafverfolger haben hier ein echtes Problem. Ich bin selbst sehr dafür, dass Gesetze auch durchgesetzt werden können. Die meisten Gesetze sind sinnvoll und übrigens wollen die allermeisten Leute nicht, dass Dinge in die Luft gesprengt werden oder ähnliche schlimme Dinge passieren.

Das Problem dabei ist, es geht nicht, und wir weisen immer wieder auf die technischen Gründe dafür hin. Wenn man die Möglichkeit sabotiert, sich im Netz über einen verschlüsselten Kanal zu verbinden, sodass ich sicher bin, dass ich auch mit der gewünschten Person kommuniziere, untergräbt man den Grundsatz eines sicheren, vertrauenswürdigen Netzes. Ohne diese Vertrauenswürdigkeit können wir die Vorteile, die das Netz zu bieten hat, nicht nutzen. Natürlich kann man sagen, ich nutze diese Vorteile immer dann, wenn ich sie nutzen will. Genau das funktioniert aber eben nicht. Weil man nicht weiß, ob man dann diese Vorteile dann noch kriegen kann. Das ist etwas, was wir sehr klar machen müssen.

heise online: Wenn die IETF im aktuellen Streit darüber, ob es Mechanismen zur Aufschlüsselung durch die Strafverfolger geben sollte, nachgeben würde, sollte die ISOC ihr dann den Geldhahn zudrehen?

Andrew Sullivan: Nein. Neutralität und Funktionalität der Technologie sind erklärte Ziele der Standardisierung der IETF. Das ist übrigens auch der Grund für den Konsens, dass die permanente massenhafte Überwachung ein Angriff auf das Netz darstellt. Dieser Beschluss war keine politische Entscheidung nach dem Motto Verschlüsselung ist gut oder schlecht. Es ist eine völlig Netzwerk-orientierte Position, die schlicht sagt, wir wollen, dass dieses Netz nach den ihm eigenen Grundsätzen funktioniert.

Massenhafte Überwachung unterminiert diese netz-eigenen Grundsätze. Ich nenne das die Ethik des Netzes. Vielleicht kommt jemand irgendwann mit einer Alternative zur Verschlüsselung, um das Netz vertrauenswürdig zu machen, Keine Ahnung. Vorerst, glaube ich, muss die Internet Society weiter dafür streiten, dass das Netz die Fähigkeit behält, vertrauenswürdige Kommunikation zu ermöglichen, und die Technologien, die es dazu braucht. (jk)