Missing Link: Die "Ölkrise" von 1973 – Anstoß zu einer modernen Energiepolitik​

Die leeren Straßen waren vor allem ein Appell: Mit der Ölkrise begann 1973 eine außer dem Energiesparen alle Ressourcen einbeziehende, globale Energiepolitik.

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Polizisten kontrollieren Autofahrer auf ihre Sondergenehmigung auf der Eckernförder Straße, Ecke Sylter Bogen in Suchsdorf.

(Bild: Magnussen, Friedrich CC BY-SA 3.0 DE)

Lesezeit: 8 Min.
Inhaltsverzeichnis

1973 sah sich die Bundesregierung durch die sogenannte Ölkrise veranlasst, vier autofreie (genauer: KFZ-freie) Sonntage zu verordnen, beginnend mit dem 25. November – gestern vor 50 Jahren. Für die vier Wochen galten zudem Tempo 100 auf Autobahnen und 80 km/h auf der Landstraße. Weniger prominent waren unter anderem auch Hallenbäder geschlossen, auf Weihnachtsbeleuchtung verzichtet und zu kürzerem Duschen aufgerufen worden. Für jeden sichtbar jedoch hatten sich die Spritpreise von rund 70 auf knapp 84 Pfennig pro Liter erhöht, das Boulevardblatt "Bild" prophezeite mit den gewohnt großen Lettern auf dem Titel schon eine Mark – was tatsächlich erst mit der "zweiten Ölkrise" 1979 eintrat.

Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) und Wirtschaftsminister Hans Friedrichs (FDP) riefen die Bevölkerung zum freiwilligen Sparen auf, die Medien warnten vor Stromausfällen und Heizölknappheit im bevorstehenden Winter. Das machte Eindruck auf breite Schichten. 70 Prozent der Bevölkerung sollen damals ihren Energieverbrauch eingeschränkt haben. Die Menschen sparten Strom, regelten die Heizungen herunter und fuhren langsamer.

Zum Wohngeld wurde im Dezember 1973 ein einmaliger Heizkostenzuschuss von 300 Mark ausgezahlt. Späteren Schätzungen zufolge hat das Sonntagsfahrverbot rund knapp zehn Prozent Benzinersparnis bewirkt – in etwa so viel wie das Verhalten der Bürger nach den Sparappellen im Winter 2022.

Die Deutschen waren mehrheitlich beunruhigt, eine vor allem in den Medien gut sichtbare Minderheit jedoch reagierte auf die autofreien Tage mit der Wiederbelebung der zu der Zeit der Studentenbewegung modern gewordenen Happenings. Zu sehen waren Sit-Ins auf (fast) leeren Straßen, Wettbewerbe für "Benzinfreie Fortbewegungsmittel", Menschen auf Rollschuhen und Rössern, vor allem aber Radfahrer und Spaziergänger. Wir sind damals von zu Hause zur nächstgelegenen Bundesstraße 304 gegangen, die A99 war damals noch im Bau, zum "Autos schauen". Also, wie viele Autos wirklich noch unterwegs waren. Es gab ja dank zahlreicher Ausnahmegenehmigungen noch Verkehr, nur eben sehr viel weniger.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Der Gestank, den die noch durchweg katalysatorlosen Autos verbreiteten, war weg. Woher ich als damals Achtjähriger mit konservativ eingestellter Familie das Interesse am Thema "Umweltschutz" hatte, ist mir heute ein Rätsel. Mein Bauchgefühl sagte aber ganz deutlich: "Endlich tun die Erwachsenen mal was." Ich fühlte mich euphorisiert. Umfragen ergaben später, dass ich damit vielleicht einer der jüngsten war, aber weitaus nicht der einzige.

Ausgelöst hatten Verknappung und die marktgesetzlich folgende Verteuerung die von arabischen Staaten 1968 aus der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) ausgegründete Organisation OAPEC. Sie wollte westliche Länder zwingen, ihre israelfreundliche oder neutrale Haltung aufzugeben, die sie angesichts des am 6. Oktober 1973 von Ägypten und Syrien begonnenen vierten arabisch-israelischen Kriegs eingenommen hatten. Dieser je nach Beteiligten als "Jom-Kippur-", "Ramadan-" oder "Oktoberkrieg" in die Geschichtsbücher eingegangene Versuch der Rückeroberung der Golanhöhen und des Sinai war allerdings bereits am 26. Oktober durch eine UN-Resolution wieder beendet worden.

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Kuwaits Meldung vom 25. Dezember 1973, die Produktion wieder hochzufahren, markierte das Ende der Verknappung. Als die Politik die Beschränkungen verhängte, wusste niemand, wie sich die Dinge entwickeln würden. Wir sollten die damalige Ungewissheit Kopf behalten, wenn wir über die Maßnahmen urteilen.

Dass die vier autofreien Sonntage 1973 keinen nennenswerten Spareffekt bringen würden, dürften die Referenten den Politikern allerdings schon vorher ziemlich genau ausgerechnet haben. Dass die Regierung unter Willy Brandt sie damals trotzdem auf Grundlage des am 9. November 1973 neu geschaffenen "Gesetzes zur Sicherung der Energieversorgung bei Gefährdung oder Störung der Einfuhren von Mineralöl oder Erdgas" (Energiesicherungsgesetz) verordnete, war vor allem gekonnte Symbolpolitik. Sie umfasste die Botschaften: "Wir kommen ohne Euer Öl aus" nach außen und "wir schaffen das" nach innen.

Etwas davon klingt durchaus an in den damaligen Worten des Kanzlers: "Die politisch motivierte Verknappung und Verteuerung des Öls auf der Welt, ihre Begleitumstände und ihre Konsequenzen sind eine Herausforderung an die Vernunft. Sie sind auch eine Herausforderung an die schöpferische Phantasie."

Die Maßnahme passte gewissermaßen in eine Zeit, in der erstmals Zweifel an einem unbegrenzten Aufschwung in die Köpfe einer breiteren Öffentlichkeit eingesickert waren. Die erste Rezession in Deutschland 1966/67 nach stetigen Nachkriegs-Wachstumsrekorden war ein präsentes kollektives Trauma. 1972, im Jahr vor der Ölkrise, hatte der Club of Rome unter dem Titel "Grenzen des Wachstums" eine aufrüttelnde Prognose über die Endlichkeit der globalen Ressourcen veröffentlicht. Das vom damaligen OECD-Direktor Alexander King und dem Industriellen Aurelio Peccei 1968 gegründete Forum um den MIT-Wissenschaftler Dennis Meadows markiert mit dieser Publikation den Beginn der Erkenntnis, dass das Wirtschaftswachstum unter anderem auch von den Energiereserven abkoppelt werden müsse.

Ihre erstmals im großen Maßstab auf Computersimulation gestützten Erkenntnisse bezogen sich nicht in erster Linie direkt darauf, doch war aus ihnen klar auf eine mögliche ökologische Katastrophe zu schließen. Weit her war es damals in vielen wirtschaftswunderverwöhnten Köpfen freilich noch nicht damit, trotz eines Auftritts des Themas im 1968ff populären Musical "Hair".

Der mitgliedermächtige ADAC hatte Aufkleber drucken lassen, auf denen "Freie Bürger fordern freie Fahrt!" zu lesen war. Ein unvergessener Slogan, den heute kein Autoclub mehr so prägen dürfte. Er dürfte unter dem Eindruck einer Mitgliederbefragung 1966 in der "Motorwelt" entstanden sein, in der ein Tempolimit von sieben zu acht Befragten abgelehnt wurde.

Der klar populistische und heute oft als Bekenntnis zum Rasen missverstandenen Slogan lässt sich aber auch gut als Absage an eine empfundene Gängelung und einen gleichzeitigen Appell an den gesunden Menschenverstand verstehen. Denn der Club führte auf seinen Straßenwachtfahrzeugen auch großformatige Aufkleber mit, auf denen zu lesen war: "Bitte fahren Sie langsam: 1/3 weniger Gas spart 25 % Sprit".

Obwohl 1972 in Stockholm der erste Umweltgipfel der Vereinten Nationen stattfand, änderte sich das Verhalten der Verbraucher nur langsam. Bis heute ist ihr Handeln weniger phantasie- als vor allem kostengetrieben. Damals war die von Brandt geforderte "Schöpferische Phantasie" nicht nur wegen Lobbyismus, Betonköpfigkeit und Denkfaulheit schon bald nicht mehr gefragt; die "Herausforderung" war weggefallen: Schnell hatten die Erdölförderländer USA, Sowjetunion, VR China, Mexiko, Norwegen und Nigeria den politisch agierenden Energiegroßmächten Saudi-Arabien und den Emiraten ihre rund 75-prozentige Vormachtstellung abgenommen.

Lieferengpässe gab es über die ganze Zeit praktisch keine, man erkannte, dass es sich um eine "Ölpreiskrise" gehandelt hatte. Obwohl die volkswirtschaftlichen Schäden gravierend waren, konnte das Thema zur Erleichterung vieler wieder auf ein rein ökonomisches Problem heruntergespielt werden. Die Diskussion über den Wachstumszwang des Kapitalismus war jedenfalls aufgeschoben.

Die Wirtschaft begann nach Alternativen zu suchen, baute dabei die Offshore-Ölförderung, aber auch Kernenergie aus: 40 deutsche Kernkraftwerke sollten gebaut werden. Und, ja, auch an erneuerbare Energien begann man zu denken. Die Politik begann, die EU besser zu vernetzen und eine breiter aufgestellte Energiestrategie zu entwickeln: Sicherheitspolitik als Reaktion auf die Globalisierung.

Bereits am 8. Januar 1974 sprach sich Willy Brandt gegen weitere Fahrverbote aus. Im darauffolgenden Frühjahr war das Tempolimit gegen die CDU/CSU-Mehrheit im Bundesrat schon nicht mehr zu halten. Als Schwundstufe blieb uns lediglich die Richtgeschwindigkeit.

Autofreie Tage sind auf Grundlage des diesbezüglich entschärften Energiesicherungsgesetzes schon seit 1975 nicht mehr möglich. Sie sind es auch heute nicht, nachdem Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) das heute 50 Jahre alte Gesetz wegen der Energiekrise nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine vor rund einem Jahr erneut überarbeiten lassen musste.

(fpi)