Missing Link: Die kosmische Inflation – der Knall des Urknalls

Seite 2: Higgs-Roulette im Sombrero-Hut

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Im Falle der GUT von Georgi und Glashow betraf die Unterkühlung den Zustand des Higgs-Felds – oder vielmehr der Higgs-Felder, denn Guth und Tye gingen von der Existenz mehrerer solcher Felder aus. Wir haben heute (erst) eines nachgewiesen, dessen Anregungsteilchen das Higgs-Boson ist (alle Teilchen sind in der Quantenfeldtheorie Anregungszustände der ihnen zugrunde liegenden Felder, so wie etwa das Photon das Anregungsteilchen des elektromagnetischen Felds ist). Das Higgs-Feld interagiert mit den Elementarteilchen – außer dem Photon, dem Gluon und den Neutrinos – und verleiht ihnen ihre Ruhemassen. In einer GUT mit mehreren Higgs-Feldern kann man die Feldstärke eines jeden einzelnen von ihnen an jedem Ort des Raums durch einen eindimensionalen (skalaren) Wert an diesem Ort angegeben, analog dazu, wie man für jeden Ort eine Temperatur und einen Luftdruck angeben kann.

Der augenblickliche Zustand aller Higgs-Felder zusammen kann durch eine Koordinate in einem Koordinatensystem angegeben werden, das je eine Achse pro Higgs-Feld enthält (etwa Feld 1: x-Achse, Feld 2: z-Achse). Eine weitere Achse (y-Achse) bildet die Energie (besser: das Potenzial) ab, das sich aus der Kombination der Feldstärken auf x- und z-Achse ergibt. Dieses bildet eine gewölbte Oberfläche. (Dasselbe Konstrukt wäre auch mit 3 und mehr Higgs-Feldern mathematisch beschreibbar, aber nicht mehr in 3 Dimensionen anschaulich darstellbar). Die möglichen Kombinationen je zweier Higgs-Felder bilden in der Theorie eine Fläche, die ungefähr die Form eines mexikanischen Huts mit einer zentralen Hutspitze, einer umlaufenden Vertiefung und einer nach außen ansteigenden Krempe hat (tatsächlich geht die Krempe nach außen gegen unendlich).

Der aktuelle Zustand der Higgs-Felder an einem Ort kann dann durch eine Roulettekugel symbolisiert werden, die sich an der Oberfläche über der gerade am betreffenden Ort gültigen Kombination der Werte aller Higgs-Felder aufhält. Die Höhe der Kugel über der Grundfläche bestimmt gleichzeitig den Betrag der in den Higgs-Feldern steckenden Vakuumenergie, die an diesem Ort herrscht.

Das Potenzial der Higgs-Felder soll die Form eines Sombreros haben. Der Zustand der Higgs-Felder an einem beliebigen Ort im Raum kann durch eine Kugel dargestellt werden, die sich irgendwo auf der Oberfläche aufhält. Stabil sind nur der Mittelpunkt und alle Orte in der Vertiefung der "Krempe". Im angeregten Zustand bewegt sich die Kugel jedoch wild im Diagramm umher. Erst bei Abkühlung findet sie sich in einem der stabilen Zustände ein.

(Bild: Wikimedia Commons, gemeinfrei)

Der Zustand der Higgs-Felder sollte wie gefrierendes Wasser einen Zustandsübergang durchmachen können. Bei hohen Temperaturen rast die Roulettekugel, deren Ort die aktuell gültigen Feldstärken der Higgs-Felder charakterisiert, wild über die Fläche des "Sombreros", ähnlich wie sich Wassermoleküle mit allen möglichen Geschwindigkeiten in einer Flüssigkeit umherbewegen (mit einer mittleren Geschwindigkeit, die für die Wassertemperatur charakteristisch ist). Der mittlere Ort liegt auf der Hutspitze, wo alle Teilchen masselos sind. Nach fortgesetzter Abkühlung fällt die Kugel schließlich irgendwo in die Krempe hinein und rollt dort aus, bis sie irgendwo liegen bleibt und der Übergang vollzogen ist. Im Analogon gefrierenden Wassers hören die Moleküle auf, wild miteinander zu stoßen, sondern beginnen, sich zu einem Eiskristall anzuordnen und schwingen nur noch leicht um ihre neue Position.

Um einen unterkühlten Zustandsübergang hervorzubringen, wie Guth und Tye ihn benötigten, müsste der "Sombrero" in der Hutspitze eine Delle haben. So bestünde die Chance, dass die Roulettekugel statt in der Krempe zu enden zunächst in der Delle der Hutspitze landen könnte. Bei fortgesetzter Abkühlung reichte – klassisch betrachtet – seine Energie nicht mehr aus, die Delle zu verlassen, die Higgs-Felder würden in einem Zustand hoher Vakuumenergie gefangen bleiben. Die Physiker sprechen von einem "falschen Vakuum", da das Feld nicht die dem "echten Vakuum" eigentlich für diese Temperatur zustehende, geringst mögliche Vakuumenergie hätte, sondern einen viel höheren Wert.

In der Quantenphysik gibt es jedoch den sogenannten "Tunneleffekt", der es zum Beispiel Teilchen erlaubt, eine klassisch unüberwindbare Potenzialbarriere mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit dennoch zu durchstoßen. So kann beispielsweise ein Kernteilchen eines radioaktiven Atomkerns diesem trotz seiner eigentlich unüberwindlichen Bindung an den Kern mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit entkommen – so funktioniert Radioaktivität. Auch das Higgsfeld wäre nicht komplett eingefroren, sondern die Roulettekugel könnte irgendwo und irgendwann zufällig durch den Rand der Delle hindurch tunneln und an zufälliger Stelle die Hutspitze herunterrollen, um irgendwo in der Krempe in einem echten Vakuumzustand liegen zu bleiben.

Vielleicht haben Sie schon einmal eine unterkühlte Flasche aus dem Eisfach genommen und beim Öffnen begann ihr Inhalt vom Verschluss aus rasch nach unten hin zu gefrieren. Ähnlich würde das entstandene echte Vakuum die Higgs-Felder in seiner Umgebung auf den gleichen Zustand in der Hutkrempe herunterziehen und dieser Zustand sich mit Lichtgeschwindigkeit blasenförmig im Vakuum ausbreiten – man spricht vom Zerfall des falschen Vakuums. Beim Vakuumzerfall entstünden dann erst die Monopole. Bei verzögerter Abkühlung (niedrigerer Temperatur - wir reden hier über etwa eine Billionen Billionen Kelvin – 1024 K) würden weniger Monopole entstehen. So kamen Guth und Tye auf eine plausible Zahl von Monopolen in der GUT von Georgi und Glashow.

Guth grübelte an einem Wochenende vor der Veröffentlichung seiner Arbeit zum unterkühlten falschen Vakuum darüber, ob dieses einen Einfluss auf die Expansion des Universums haben würde und er kann sehr schnell zu dem Schluss, dass dies in der Tat der Fall wäre – und was für einen! Im letzten Teil über die Dunkle Energie (deren Entdeckung zur Zeit von Guths Arbeit noch fast 20 Jahre in der Zukunft lag) habe ich ausführlich dargelegt, dass eine Energiedichte des Vakuums einen negativen Innendruck und in dessen Folge eine abstoßende Gravitation verursacht, die das Weltall beschleunigt expandieren lässt (der stark negative Druck des falschen Vakuums ist übrigens genau der Grund, warum eine Blase normalen Vakuums sofort wachsen würde – in ihr ist der Druck viel weniger negativ, also viel größer, als im falschen Vakuum, und so drängt es das falsche Vakuum sofort in jeder Richtung zurück). Die Energiedichte der heutigen Dunklen Energie ist jedoch sehr klein – die Dunkle Energie macht 70 Prozent der kritischen Dichte für ein flaches Universum aus. Wir reden hier von einem Energieäquivalent von rund 5 Protonenmassen oder 10‑30 Gramm pro Kubikmeter.

Bei Guths falschem Vakuum sollte die Energiedichte hingegen bei 1080 g/cm³ liegen – das sind 65 Zehnerpotenzen mehr als die Dichte eines Protons, 1050 Sonnenmassen auf einem Kubikzentimeter, das sind folglich 1028 Mal mehr als die Masse aller Sterne im beobachtbaren Universum – pro Kubikzentimeter! Wobei das beobachtbare Universum zu dieser Zeit weitaus kleiner als ein Kubikzentimeter war.

Guth erkannte, dass diese unvorstellbar hohe Energiedichte laut Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie, wie im vorigen Artikel erläutert, zu einer immens starken abstoßenden Gravitation führen musste, die das falsche Vakuum rasant exponentiell wachsen ließ (anstatt es zu einem Schwarzen Loch kollabieren zu lassen): Alle 10‑37 Sekunden würde sich eine gegebene Strecke verdoppelt haben. Alle 2·10‑37 Sekunden vervierfacht. Alle 3·10‑37 Sekunden verachtfacht. Alle 10·10‑37 = 10‑36 Sekunden etwa vertausendfacht. Nach 2·10‑36 Sekunden um den Faktor eine Million vergrößert haben. Und so weiter. Nach 100 Verdopplungen oder 10‑35 Sekunden wäre es bereits um den Faktor 1030 gewachsen. Niemand kann sich solche Zeiträume vorstellen, die im Vergleich zu einer Sekunde viel kleiner sind als diese im Vergleich zum Weltalter – das Universum ist gerade erst 4,3·1017 Sekunden alt. Und auch beim Vergrößerungsfaktor versagen alle menschlichen Vergleichsmaßstäbe: Der Durchmesser eines Wasserstoffatoms würde um den Faktor 1030 vergrößert von der Erde bis etwa zum Zentrum der Milchstraße reichen.

Die Theorie der kosmischen Inflation besagt, dass das Universum binnen winziger Bruchteile einer Sekunde um einen Faktor von mindestens 1026-1052 anwuchs. Das lässt sich zwar in einem doppelt-logarithmischen Diagramm darstellen, trotzt jedoch jeglicher Vorstellungskraft.

(Bild: Mughal, Ahmad, Guirao, CC BY 4.0)

Die Theorie wird heute als "kosmische Inflation" bezeichnet. Der Urknall war definitiv keine gewöhnliche Explosion, aber wenn beim Urknall irgendetwas knallte, dann war es jedenfalls die kosmische Inflation.

Da das falsche Vakuum nicht mit Materie gefüllt war, sondern nur von Higgs-Feldern erfüllt, wurde seine Dichte bei der Expansion nicht verdünnt, wie es bei einer gewöhnlichen Explosion von Materie der Fall wäre, sondern es gebar fortwährend weiter falsches Vakuum mit derselben hohen Energiedichte. Betrachtet man ein Anfangsvolumen, das mit der Expansion wächst, so nimmt die in ihm enthaltene Energie (= Energiedichte × Volumen) mit der dritten Potenz seines Radius auf unermessliche Werte zu. Schließlich tunnelte das falsche Vakuum auf den echten Vakuumzustand bei weit geringerer Vakuumenergie. Was passierte nun aber mit der ganzen Vakuumenergie aus den Higgs-Feldern des unterkühlten falschen Vakuums? Sie wurde als Strahlung freigesetzt! Aus dem expandierenden, unterkühlten falschen Vakuum wurde ein enorm heißes, echtes Vakuum geboren – genau so eines, wie es zu Beginn des Urknalls erwartet wird, und aus dessen nun verfügbarer Energie Materie entstehen konnte. In der Kosmologie spricht man vom "Reheating", dem "Wiederaufheizen" des Vakuums.

Aber was ist mit der Energieerhaltung? Gilt die etwa nicht? Hier entsteht doch jede Menge Energie aus dem Nichts! Überraschenderweise ist die Energieerhaltung laut Guth trotzdem gewährleistet: Die Energie ist vom Gravitationsfeld nur geborgt, wie ein Baukredit, von dem man sich ein Haus baut, das den Gegenwert zum geliehenen Geld bildet (wobei man es allerdings versäumt, den Kredit mit Zinsen zurückzuzahlen). Die freigesetzte Energie verhält sich nicht mehr wie eine Vakuumenergie mit abstoßender Gravitation, sondern wie gewöhnliche Materie, die ein Gravitationsfeld mit anziehender Gravitation hervorbringt. Der Energiegehalt dieses Gravitationsfelds leistet einen negativen Beitrag zur Energiebilanz des Universums, wie folgendes Gedankenexperiment zeigt:

Zum Verständnis benötigen wir das "Newtonsche Schalentheorem", welches besagt, dass die Schwerkraft in einer Hohlkugel überall Null ist. Befindet man sich im Zentrum der Hohlkugel, dann zieht die Gravitation der Kugelschale aus allen Richtungen mit genau der gleichen Stärke, also hebt sie sich insgesamt auf. Aber auch an jedem anderen Ort innerhalb der Schale ist sie Null: nähert man sich der Schale von innen, so verkleinert man zwar den Abstand zur in einem bestimmten Raumwinkel eingeschlossenen Masse auf der näheren Seite und deren Anziehungskraft wächst mit 1/r² – dafür wächst die Kugeloberfläche im selben Raumwinkel auf der gegenüberliegenden ferneren Seite mit r². Das hebt sich genau auf und daher ist die Schwerkraft überall in einer Hohlkugel Null.

Nun zum Gedankenexperiment: man denke sich eine Hohlkugel, die außen ein Schwerefeld hat und innen mit obigem keines. Nehmen wir an, die Kugel sei nicht massiv, sondern kompressibel, wie ein Gas, das heißt, ihre Hülle könnte unter ihrem Eigengewicht schrumpfen und dabei dichter werden. Durch die Kompression würde das Gas verdichtet und aufgeheizt, das heißt die Schrumpfung setzt Energie frei (die als Wärmestrahlung die Kugel verlassen würde). Am Ende hat man eine kleinere Hohlkugel mit zusätzlichem Raum außerhalb, der nun mit einem Gravitationsfeld gefüllt ist, wo vorher keines war. Da wir dem System Energie entziehen konnten, muss das neu gebildete Gravitationsfeld einen negativen Energiebetrag enthalten, der so groß ist, wie die abgestrahlte Wärmeenergie.

Die im Schwerefeld der Vakuumenergie steckende Energie schlägt also negativ zu Buche. Man kann zeigen, dass sie genau so groß ist, wie der Betrag der frei gewordenen Vakuumenergie selbst, denn diese entstammt ja der abstoßenden Gravitation aus der Expansionsphase – beide addieren sich zu Null. Man spricht daher auch vom "Nullenergie-Universum". Lawrence Krauss ist heute einer der bekanntesten Proponenten des Null-Energie-Universums.

[Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass nicht alle Kosmologen mit dem Nullenergie-Universum übereinstimmen und vielmehr den Standpunkt vertreten, dass in einer expandierenden Raumzeit überhaupt keine sinnvolle Definition der Energie möglich sei und diese daher auch nicht erhalten werde. Ich lasse das mal so nebeneinander stehen.]

Guth hatte somit einen Mechanismus entdeckt, mit dem er nicht nur sein Monopol-Problem lösen konnte, sondern gleichzeitig erklären konnte, wie beim Urknall die Materie und Strahlung eines kompletten Universums buchstäblich aus dem Nichts entstehen konnte. In Anlehnung an die Redewendung "there ain't no such thing as a free lunch" ("es gibt kein kostenloses Mittagessen"), dessen Aussage ist, dass sich hinter jedem vermeintlichen Geschenk ein versteckter Gegenwert verbirgt, oder allgemeiner formuliert, dass nichts von nichts kommt, nannte er die Inflation "the ultimate free lunch" – die ultimative kostenlose Mahlzeit.

Und mehr noch: die kosmische Inflation konnte nebenbei zwei heiß diskutierte Probleme der Urknalltheorie lösen: das Flachheits- und das Horizontproblem.