Missing Link: Die wichtigste Sitzung in der BMW-Geschichte

Die Übernahme durch Daimler-Benz hätte aus BMW nur einen Zulieferbetrieb gemacht. Sie war nur noch eine Formsache. Chronik einer Firmenrettung.

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Missing Link: Die Rettung von BMW vor Mercedes-Benz

Der BMW 700 begeisterte die Fachpresse und das Publikum auf der IAA 1959.

(Bild: Rudiecast / Shutterstock.com)

Lesezeit: 21 Min.
Von
  • Christian Lorenz
Inhaltsverzeichnis

Vor fast genau 60 Jahren entschied ein Tag darüber, ob es die Marke BMW überhaupt weiterhin geben sollte. Zum Jubiläum zeichnen wir diesen Schicksalsmoment von BMW nach.

Die 104-jährige Geschichte von BMW hat heise Autos bereits in drei Teilen illustriert:

Der 9. Dezember 1959 war der vielleicht wichtigste Tag in der Firmengeschichte von BMW. Der Untergang schien unvermeidlich, eine Übernahme durch Mercedes war seit gut einer Woche bereits fertig formuliert. Fortan würde Milbertshofen wohl ein Mercedes-Werk werden. Am Morgen des 9. Dezember strebten die BMW-Aktionäre der Messehalle auf der Münchner Theresienhöhe zu. Vorstand und insbesondere Aufsichtsrat hatten es bereits als einzige Möglichkeit erklärt, den Konkurs der BMW AG abzuwenden. Doch es sollte alles anders kommen, und keiner ahnte an diesem Morgen, dass der Tag zur zweiten Stunde Null von BMW werden würde.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Tatsächlich hatte sich dieses stolze, bayerische Vorzeigeunternehmen nach dem Krieg immer mehr in Richtung Abgrund manövriert. Begonnen hatte das mit der grandiosen Fehlentscheidung, 1951 den "Barockengel“ 501 auf den Markt zu bringen. Der Konstrukteur Alfred Böning und die Vorstände Kurt Donath und Fritz Fiedler hatten sich in eine teure, mit einem anfälligen, schwachen Vorkriegssechszylinder aus dem BMW 326 und der altbackenen Rahmenbauweise gehandicapten Limousine verrannt. Die Vorstellung, mit ihr und der Motorradproduktion das Geld für die Massenfertigung eines "Mittelwagens“ zu verdienen, verschloss die Augen vor der Marktsituation.

Die Leute wollten finanziell erreichbare Autos, keine Motorräder mehr. Für Luxus gab es in den frühen 50ern kaum einen Markt. Die Herren von BMW waren aber nicht gewohnt, den Markt zu befragen. Vor dem Krieg fand alles reißenden Absatz, wo BMW drauf stand. Beim ersten Motorrad R32 war es so gewesen. Obwohl teurer als andere, war es 1923 vom Stand weg ein Riesenerfolg geworden. Beim ersten Auto 3/15 hatte es sich wiederholt. Erst nach der Überarbeitung unter BMW wurde der Dixi-Nachbau des Austin Seven 1929 zum Riesenerfolg. BMW legte ein Debüt als Autohersteller hin, das es so bisher nicht gegeben hatte. Das führte zu einer Arroganz, die sich in den 50er-Jahren als beinahe tödlich erwies.

Zwar hatte man dem "Barockengel“ seine Kinderkrankheiten schnell ausgetrieben und mit dem BMW 502 den ersten deutschen V8 der Nachkriegszeit vorgestellt. Seine Fahreigenschaften waren zudem sehr überzeugend. Aber die V8-Modelle waren zeitlebens ein riesiges Verlustgeschäft für BMW. Je nach Modell machte das Werk pro Fahrzeug bis zu 5000 Mark Minus. Zur groben Orientierung: Damals verdiente ein mittlerer Angestellter 350 DM im Monat. Die Sturheit, am V8 festzuhalten, grenzte an Wahnsinn.

Die Isetta konnte die Verluste kurzzeitig mindern. Das Kleinstgefährt war für Iso in Italien zum Flop geworden. Die Italiener sahen darin eine Missgeburt. In Deutschland, mit dem BMW-Faktor und entscheidenden Verbesserungen der Milbertshofener Ingenieure, wurde das "Motocoupé" für ein paar Jahre zum Erfolg. Bis die Leute im Wirtschaftswunder mehr verdienten. Sie wollten nun auch "richtige“ Autos haben. BMW hatte da nichts anzubieten. Der skurrile BMW 600 war eine Totgeburt. Einen Microbus auf Isetta-Basis wollte trotz technischer Avantgarde wie der ersten Längslenker-Hinterachse niemand haben.

So wies die Bilanz von 1956 einen Verlust 6,5 Millionen DM aus. Obwohl BMW von den amerikanischen Streitkräften Mieteinnahmen für den Standort Allach erhielt, wo sie Garagen und Werkstätten für ihre Lastwagenflotte unterhielten. Hinzu kamen Teilverkäufe aus dem Vermögen des Allacher Werkes. Insgesamt waren der BMW AG damit Einnahmen von 4,8 Millionen DM zugeflossen. Damit summierte sich der reale Verlust im Jahre 1956 auf 11,3 Millionen DM. Bei 30 Millionen DM Gesamtaktienkapital war das ein mehr als nur alarmierendes Ergebnis.

Doch in Wahrheit war die Lage noch viel schlimmer. Seit dem Ende des Krieges hatte BMW bis 1956 60 Millionen DM Verlust aus dem Automobilbau angesammelt. Das waren 38 Prozent des Automobilgesamtumsatzes. 21,5 Millionen DM Einnahmen aus dem Teilverkauf von Allach an die MAN und 14 Millionen DM Mieteinnahmen durch die US Army hatten sich schon in einem Fass ohne Boden verflüchtigt.

In einer gänzlich anderen Situation war im Jahr 1959 Daimler-Benz. Die modernen Ponton-Modelle 180 und 190 fanden so reißenden Absatz, dass sich Kunden auf bis zu 18 Monate Wartezeit einstellen mussten. Da erschien die BMW-Übernahme dem Daimler-Benz-Vorstandsvorsitzenden Fritz Koenecke und insbesondere Friedrich Flick, dem schillernden Hauptaktionär von Daimler-Benz als geniale Lösung. Über 5500 Facharbeiter von BMW stellten einen Wert dar. Hinzu kam, dass sich die Übernahme günstig einfädeln ließ. Der stellvertretende BMW-Aufsichtsratsvorsitzende Hans Feith war gleichzeitig Vorstandsmitglied der Deutschen Bank, welche wiederum Großaktionär sowohl bei BMW als auch bei Daimler-Benz war. Er leitete den Aufsichtsrat, da die Stelle des Vorsitzenden unbesetzt blieb.

Das auf den Tag der Aktionärsversammlung am 9. Dezember 1959 befristete Übernahmeangebot von Daimler-Benz sah einen Aktienschnitt vor. Der Buchwert des bestehenden Aktienkapitals sollte halbiert werden. Nominell wäre also jede 100-DM-Aktie nur noch 50 Mark wert. Dafür sollten neue Aktien ausgeschüttet werden, von deren Bezugsrecht allerdings die gestutzten Altaktionäre ausgeschlossen wären. Die neuen Aktien sollten ausschließlich ein Bankenkonsortium zusammen mit Daimler-Benz übernehmen dürfen.

Die treuen Kleinaktionäre fühlten sich aber nicht nur finanziell betrogen. Ihnen dürfte auch klar gewesen sein, dass sie das Ende der Marke BMW besiegeln sollten. Denn Zuschnitt und Situation von Mercedes ließen es als ziemlich unglaubwürdig erscheinen, dass es nach der Mercedes-Übernahme noch Fahrzeuge mit dem weiß-blauen Emblem geben würde. Schließlich konnte Mercedes gerade seinen eigenen, lukrativen Ponton-Modelle nicht in ausreichender Stückzahl herstellen. Einen erfolgreichen Typ von BMW gab es aber nicht.

BMW-Modelle von 1932 bis 1972 (6 Bilder)

BMW R32

BMW R32 – Das erste Motorrad von BMW, der Vorläufer "Helios" wurde als Produkt der Bayerischen Flugzeugwerke verkauft. Baujahr ab 1923.
(Bild: francesco cepolina / Shutterstock)

Dabei wurde vollkommen ignoriert, dass BMW erst im September 1959 mit einem überwältigenden Echo und unterschriebenen Kaufverträgen für die gesamte Jahresproduktion eines neuen Modells von der IAA in Frankfurt zurückgekommen war. Der BMW 700 begeisterte die Fachpresse und das Publikum gleichermaßen. Er war ein formschöner Kleinwagen mit italienischen Michelotti-Formen, der herausragenden Fahrwerkstechnik des 600 und selbsttragender Karosserie. Klar ist, dass die Herren von Daimler und der Deutschen Bank den zu erwartenden Erfolg des 700 ignorierten. Schließlich gefährdete er die Übernahme.

Unglaublich erscheint heute aber, dass der 700 zunächst auch bei BMW auf Ablehnung stieß. Das lag daran, dass er nicht bei BMW selbst unter dem technischen Vorstand Wilhelm Black entwickelt worden war. Der 700 war das Werk von Wolfgang Denzel, eines Dilettanten aus Wien. Zumindest sahen ihn so die Ingenieure und technischen Vorstände von BMW. Sie wollten nicht gelten lassen, dass der österreichische BMW-Importeur, Autokonstrukteur und Rennfahrer schon mit Eigenkonstruktionen auf Volkswagenbasis großen Respekt geerntet und Knowhow bewiesen hatte..

Die Aufgabe, ein kleines formschönes Auto mit selbsttragender Karosserie auf der Plattform des 600 herzustellen, hatte der Vorstandsvorsitzende Heinrich Richter-Brohm dem Wiener Denzel als letzten Ausweg aus der Verzweiflung gegeben. Die eigenen Ingenieure und Vorstände glaubten, Richter-Brohm, der erst zwei Jahre vorher als Sanierer zu BMW gekommen war, habe keine Ahnung von Autos. Jedoch war es dieser angeblich ahnungslose Richter-Brohm gewesen, der innerhalb eines Jahres im Alleingang das Projekt "Mittelwagen“ ausarbeitete.

Er nutzte seine engen familiären Kontakte zu Fiat in Turin, die nach dem Krieg als erste Marktforschung in der Automobilindustrie etablierten. Der Kaufmann Richter-Brohm entwarf in einem halben Jahr ziemlich konkrete Züge des rettenden Fahrzeugs, das die stolzen Ingenieure von BMW in fast zehn Jahren nicht einmal anzudenken in der Lage waren. Die schlichte Limousine sollte einen extrem kurzhubigen 1,6-Liter-Motor mit 80 PS haben. Es sollte ein leistbarer Familienwagen mit dynamischen Fahreigenschaften werden. Durch seine Kurzhubigkeit waren Hubraumerweiterungen und der Ausbau zu einer ganzen Motorenfamilie bei Bedarf kostengünstig und schnell zu realisieren.

Doch die internen Reibereien mit hochmütigen Entwicklungsexperten einerseits und einem ebenso überheblich auftretenden "Generaldirektor“ Richter-Brohm bremsten das Projekt stark ein. Hinzu kam die Geldknappheit und die Unmöglichkeit, Kredite für den "Mittelwagen“ aufzutreiben. Das mag einerseits an dem teils ungeschickt auftretenden Richter-Brohm gelegen haben. Andererseits wurde ihm mit Hans Feith von der Deutschen Bank ein geschäftsführender Aufsichtsratschef vor die Nase gesetzt, der in dem Mittelwagen nur ein Hirngespinst sah und deshalb tunlichst zu verhindern wusste, dass Geld in diese weitere Totgeburt, wie er sie sah, gesteckt werden sollte. Wahrscheinlich hatte nicht einmal Richter-Brohm selbst daran geglaubt, wie glücklich sich seine Entscheidung erweisen sollte, Wolfgang Denzel mit dem kleinen Auto mit 600er-Technik zu betrauen.

Bereits vier Monate später, im Juni 1959, stellte Denzel in Feldafing am Starnberger See dem BMW-Vorstand und den größten Händlern das 700 Coupé vor, das die Anwesenden voll überzeugte. Nur eine Limousine mit vier Sitzplätzen wurde neben dem Coupé gefordert. Sie wurde ebenfalls in Zusammenarbeit mit der Turiner Karosserieschmiede Vignale und dem Designer Giovanni Michelotti noch bis zur IAA im September verwirklicht.

Generaldirektor Heinrich Richter-Brohm (links) beauftragte den Wiener Importeur und talentierten Konstrukteur Denzel damit, auf Basis des 600 ein kleines, richtiges Auto zu bauen. Das Ergebnis mit Vignale-Karosserie stellte Denzel im Juni 1959 in Feldafing am Starnberger See vor. Das 700 Coupé begeisterte alle Anwesenden. Sie hatten den richtigen Riecher: der kleine 700er wurde vom Stand weg ein Riesenerfolg.

(Bild: BMW Group)

Doch am Morgen des 9. Dezember 1959 war das anscheinend alles nichts mehr wert. Den Kleinaktionären war bewusst, dass die Deutsche Bank als Mehrheitsaktionär die Abstimmung für sich entscheiden konnte. Damit war die Übernahme durch Mercedes eine beschlossene Sache, BMW würde untergehen und München-Milbertshofen ein Zulieferwerk für Mercedes-Benz werden. Allerdings sollten sich die hohen Herren aus Vorstand und Aufsichtsrat auf eine Welle der Empörung gefasst machen. Man würde ihnen zumindest noch einmal die Meinung sagen, und zwar in aller Ausführlichkeit, da jeder Aktionär unbegrenztes Rederecht auf der Hauptversammlung hat. Die Herren an den langen Tischen auf der Bühne des Saales, allen voran Friedrich Richter-Brohm und Dr. Hans Feith, dürften mit einer unangenehmen Sitzung gerechnet haben.

Der damals 31-jährige Darmstädter Kohlenhändler Erich Nold hatte sich bereits eine gewisse Berühmtheit erarbeitet. Er nutzte seinen weit gestreuten Aktienbesitz, um lautstark für die Rechte der Kleinaktionäre einzutreten. Deshalb wurden ihm immer öfter auch Stimmrechte von anderen Kleinaktionären überschrieben. So auch bei BMW, wo ihm von einer großen Menge Kleinaktionäre das Stimmrecht über insgesamt 800.000 Mark Aktienkapital übertragen worden war.

Der Vorwurf lag im Raum, dass sich die BMW-Führung nicht wirklich um Alternativen zur jetzt als "einzigen Ausweg“ präsentierten Daimler-Übernahme mit Aktienschnitt bemüht hatte. Zumal der BMW-Triebwerksbau in Allach völlig außen vor gelassen wurde. Die Sparte hatte nach dem Krieg tatsächlich nur Geld gekostet, da die alliierten Siegermächte eine Produktion von Flugzeugtriebwerken zunächst in Deutschland nicht haben wollten.

Das noch recht junge Verteidigungsministerium, das mit dem Bayern Franz-Josef Strauß schon seinen zweiten Minister an der Spitze hatte, stellte jedoch einen 300-Millionen-DM-Auftrag für Starfighter-Triebwerke für das Allacher Werk in Aussicht. Bedingung sei aber die rechtliche und wirtschaftliche Abspaltung des Triebwerksbaus vom Rest der BMW AG. Es handelte sich dabei um eine Forderung der Alliierten. Mit der MAN wäre ein Käufer nicht weit. Schließlich hatte sie bereits Teile des Allacher Werks übernommen. Es schien unglaublich, dass BMW selbst auf diese Idee noch gar nicht gekommen war.

Da erkannte Nold den damals 52-jährigen Frankfurter Rechtsanwalt Dr. Friedrich Mathern in der Menschenansammlung vor der Messehalle. Er hatte den Aktienrechtsexperten schon in eigener Sache engagiert und war sehr zufrieden gewesen. Mathern war im Auftrag eines Zusammenschlusses von BMW-Händlern, die gleichzeitig Anteilseigner waren, nach München gereist.

Mathern stand, wie es ein Teil der Quellen berichtet, in Verhandlungen mit Hermann Reusch, dem Generaldirektor der Gutehoffnungshütte in Oberhausen, der Muttergesellschaft der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg (MAN). Reusch, erklärter Gegner von Flick und damit des Übernahmedeals von Mercedes, sollte ein Angebot für den Triebwerksbau in Allach machen. Käme dies zustande, könnte dies die Rettung für BMW sein und die Mercedes-Übernahme obsolet machen.

Nold konnte Mathern im Gegenzug die Zeit für die Verhandlungen verschaffen, in dem er sein Rederecht rigoros ausnützen wolle. Er könne stundenlang reden, wenn es sein müsste. Das Aktienrecht gebe ihm dazu das Recht. Er habe keine Probleme damit, sich notfalls zum Affen zu machen. Schließlich sei alles zu einem guten Zweck. Unklar ist heute, ob Nold tatsächlich für Matherns Verhandlungen mit MAN Zeit gewinnen wollte, es diese überhaupt gab oder ob er auf den Ablauf des Daimler-Ultimatums um 24 Uhr spekulierte.

Der damals 31-jährige Darmstädter Kohlenhändler Erich Nold war ein nicht gern, aber oft gesehener Gast auf Aktionärshauptversammlungen, der sein Wort stellvertretend für die kleinen Aktionäre ergriff. Er war bekannt für seine gute Vorbereitung und dafür, Vorstände und Aufsichtsräte mit unerbittlichen Fragen ins Schwitzen bringen zu können.

(Bild: Felicitas Timpe)

Mathern war bestens vorbereitet auf der Hauptversammlung erschienen. Er war im Auftrag der BMW-Händler drei Tage zuvor in London beim Rootes-Konzern gewesen, hatte mit der American Motors Corporation (AMC) und Ford Kontakt aufgenommen. Dabei musste Mathern feststellen, dass Hans Feith mit all diesen Partnern, deren Übernahmeangebote angeblich geplatzt waren, gar nicht richtig in Verhandlungen eingestiegen war. Lord Rootes vom englischen Rootes-Konzern war noch nicht einmal ein Besichtigungstermin in Milbertshofen ermöglicht worden. Offensichtlich hatte Feith nur als Alibi mit anderen Autoherstellern verhandelt, während er mit aller Kraft den Mercedes-Deal vorantrieb.

Die Zeit, die Mathern Nolds Redemarathon verschaffte, war für ihn aber Gold wert. Tatsache ist, dass sich hier ein Gespann fand, das BMW retten konnte. Erich Nold verlas Briefe von Aktionären und einen ganzen Spiegel-Artikel zur Causa BMW. Im Zuge der immer heftiger werdenden Veranstaltung war zur Sprache gekommen, dass Hans Feith als geschäftsführender Aufsichtsratsvorsitzender der BMW gleichzeitig im Vorstand der Deutschen Bank saß.

Inzwischen war Mittag vorbei und Erich Nold hatte sich geradezu verausgabt. Er war heiser, psychisch angegriffen von den immer feindseliger werdenden Zwischenrufen. Er bat Feith um eine Pause, der Saal hatte sich sowieso schon stark geleert. Einige Aktionäre hatten um eine Benachrichtigung in der Vorhalle gebeten, wenn Nold endlich geendet habe. Dann wollten sich alle wieder einfinden. Die Sache schien ohnehin entschieden, man sollte sie jetzt zu Ende bringen. Schon am frühen Vormittag hatte ein Dr. Wills von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz vergeblich für eine Vertagung der Versammlung gekämpft. Seine Argumente, dass die BMW-Führung sich zu wenig um Alternativen zum Mercedes-Deal bemüht habe, leuchtete zwar den Aktionären ein, aber sie hatten einfach keine Mehrheit.

Jetzt, als endgültig alles verloren schien und Nold die letzten Kräfte zu verlassen drohten, trat Dr. Friedrich Mathern an das Rednerpult. Er fragte zunächst, ob es richtig sei, dass 30.000 unterschriebene Bestellungen für den BMW 700 vorlagen. Ernst Kämpfer, stellvertretender Vorstand und Einkaufs- und Finanzchef der BMW AG, bestätigte die Zahlen, wies allerdings darauf hin, dass diese Vorbestellungen keine Abnahmeverpflichtung begründeten. Mathern fragte weiter, ob der Preis des 700 (4900 DM für die Limousine, 5200 DM für das Coupé) so kalkuliert sei, dass pro Fahrzeug ein branchenüblicher Gewinn erzielt werde. Feith bejahte das diesmal selbst. Man müsse jedoch mit hohen Mehrkosten bis zum Produktionsanlauf im nächsten Jahr rechnen.

Mathern ignorierte diesen Einwand und fragte, ob man mit der MAN wegen des Triebwerksbaus in Kontakt getreten sei. Sei es richtig, dass im Oktober der englische Rootes-Konzern Interesse an einem Eintritt bei BMW signalisiert habe. Zudem führte Mathern aus, in der Bilanz seien die Immobilien und Produktionsstätten von BMW mit einem Wert von 13 Millionen Mark angegeben. Sie seien aber mit über 44 Millionen Mark versichert. Zudem tauche der Facharbeiter-Stamm und der Wert der Marke BMW überhaupt nicht in den Bilanzen und den Preisabsprachen mit Daimler-Benz auf.

Außerdem sei die Aufstockung des Aktienkapitals zum alleinigen Gunsten Dritter, also wie hier von Daimler-Benz und den Banken unter Ausschluss der Altaktionäre in Reichsgerichtsentscheidungen als unsittlich verworfen worden. Zu guter Letzt könne er schließlich ein Angebot der MAN für den Triebwerksbau in Allach für 30 Millionen DM auf den Tisch legen, das er innerhalb weniger Stunden aushandeln habe können. Wobei das nicht das richtige Wort sei, vielmehr habe er offene Türen eingerannt. Damit sei BMW nicht nur aus eigener Kraft überlebensfähig, sondern könne sogar mit einem guten Polster in das nächste Betriebsjahr starten.

Dr. Mathern legte ein Kaufangebot der MAN für den Triebwerksbau in Allach für 30 Millionen DM auf den Tisch und focht die Bilanz wegen der Abschreibung aller Entwicklungskosten des 700 als Verlust für das Geschäftsjahr 1958 an. Damit gelang ihm die Vertagung der HV gegen die Stimmenmehrheit der Deutschen Bank. Bei Bilanzanfechtungen reichen nämlich laut Aktiengesetz nur 10 Prozent aller Stimmanteile, um eine Vertagung herbeizuführen.

(Bild: Der Spiegel, gemeinfrei)

Dementsprechend stellte Mathern den Antrag, die Hauptversammlung zu vertagen. Die Verwaltung unter ihrem Wortführer Dr. Feith hielt dagegen. Mit "Ja“ solle stimmen, wer die Hauptverhandlung vertagt wissen wollte, um das MAN-Angebot zu prüfen. Dazu war die Mehrheit des gesamten Aktienstimmrechts notwendig. Das bedeutete 70 Prozent des im Saal vertretenen stimmberechtigten Kapitals musste sich für Feith und gegen eine Vertagung aussprechen, wenn er die Mercedes-Übernahmen retten wollte. Das Ergebnis war denkbar knapp, 70,5 Prozent für Feith, die Banken und Daimler hatten scheinbar gesiegt.

Jetzt stand aber, wie Hörst Mönnich in seinem Buch "BMW – eine deutsche Geschichte“ schreibt, Wolfgang Denzel, der Schöpfer des 700 und Wiener BMW-Importeur auf. Er hatte sich, wie es bei Mönnich heißt, im Vorfeld mit Roy Chapin, dem Vizechef des amerikanischen Autokonzerns AMC beraten. Er war mehr als irritiert darüber, dass die Entwicklungskosten für den 700 insgesamt als Verlust in der 1958er-Bilanz ausgeschrieben war.

Chapin hatte ihn darin bestärkt. In den USA sei es absolut unzulässig, ein Produkt vor Serienablauf komplett als Verlust abzuschreiben. Denzel wandte sich nun an den Vertriebschef und fragte: "Wie lange sind Sie mit dem 700er ausverkauft?“ "Auf zwei Jahre“, antwortete dieser. "Und im Export?“ "Drei Jahre“, lautete die Antwort. "Und da wagt man es die Güte dieses Produktes anzuzweifeln und schreibt es einfach ab?“, fragte Denzel empört in den Saal.

Nun sprang Mathern Denzel bei. Er trat an das Mikrofon, während er gleichzeitig in einem Büchlein blätterte. Es handelte sich um einen Kommentar zum Aktienrecht und er hatte die richtige Seite schnell gefunden. "Laut Paragraph 125, Absatz VII des Aktiengesetzes genügen 10 Prozent der Stimmen des Aktienkapitals zur Vertagung, wenn die Bilanzfeststellung beanstandet wird“, verkündete Mathern, "und wir beanstanden sie.“ Bei der Anfechtung der Bilanzfeststellung durch Mathern sind sich alle Chronisten wieder einig und auch bei deren Grund, der Abschreibung des 700 im Bilanzjahr 1958. Unklar ist jedoch, ob Wolfgang Denzel tatsächlich selbst mit dieser Idee aufgetreten war.

Letztendlich konnte Hans Feith nur noch feststellen, dass die Beschlussfassung über die Herabsetzung des Grundkapitals und damit die Mercedes-Übernahme vertagt wurde. Er wollte die Versammlung damit schon beenden, als sich Mathern noch einmal das Wort erbat. Alles stehe und falle jetzt damit, was die BMW-Führung in den kommenden wenigen Wochen bis zur neuen Hauptversammlung unternehmen werde. Würde sie diese Zeit genauso ungenutzt verstreichen lassen wie bisher, sei "alles für die Katz gewesen." Deshalb wolle er, Mathern, eine Antwort auf die Frage, ob sich die BMW-Führung um die aufgezeigte Alternative zum Mercedes-Deal bemühen würde. Dr. Feith antwortete: "Herr Mathern, selbstverständlich wird die Verwaltung die nächsten Wochen nutzen.“

Der Großindustrielle Herbert Quandt war bei der neunstündigen HV in München anwesend. Ihn beeindruckte, wie die Händler und Aktionäre für dieses Unternehmen kämpften. Er beschloss, sich mit seinem eigenen Vermögen im großen Stil bei BMW zu engagieren, wenn ihn der Prototyp des Mittelwagens überzeugen sollte. Und er überzeugte ihn voll und ganz.

(Bild: BMW Group)

Damit ging nach über neun Stunden die 39. Aktienhauptversammlung der BMW AG zu Ende. Das um 0 Uhr ablaufende Ultimatum von Daimler-Benz war damit gegenstandslos geworden. Tief beeindruckt hatte ein überaus vermögender Großindustrieller aus Bad Homburg mit engen Kontakten zu Flick die Versammlung verfolgt. Dieser Herbert Quandt hatte den Übernahmeplan sogar mit Flick zusammen entwickelt. Allerdings hatte es ihm widerstrebt, dass Flick anscheinend nicht an einer Weiterführung der Marke BMW interessiert war.

Diese Marke mit überzeugten Händlern und treuen Aktionären war für Quandt auf dieser Versammlung greifbar geworden. Außerdem waren schon in der Automobilpresse vielversprechende Vorberichte über den kommenden Mittelwagen zu lesen gewesen. Ausgewählte Journalisten hatten einen Blick in die Entwicklungsabteilung nehmen dürfen. Wenn ihn der Prototyp selbst überzeugte, wollte Quandt mit seinem eigenen Vermögen diese vielversprechende Firma in eine große Zukunft führen. Der BMW 1500 überzeugte nicht nur Quandt, sondern wurde 1962 zur endgültigen Rettung von BMW. Der Rest ist eine andere Geschichte. (bme)