Missing Link: Internet für alle – eine Revolution von unten (Vera Heinau)

Seite 5: Raueres Klima im Klicki-Bunti Netz

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Fast Forward, was würden Sie sagen, ist aus dem Internet geworden? Ist das heutige Internet Neuland für die Pioniere? Wer hat sich mehr verändert, das Netz oder seiner frühen Macher?

Na, auf jeden Fall das Netz. Als Mensch ist man mit einem gewissen Style aufgewachsen und den legt man nicht so einfach ab. Aufgefallen ist mir, man ist heute viel, viel vorsichtiger. Ich hatte früher null Probleme, mich mit meinem Realnamen in den News zu bewegen, Mails zu verschicken oder den auch mal auf eine Webseite zu setzen. Heute überlege ich immer zweimal. Natürlich kann ich nicht mehr rauskratzen, was ich in den Jahren hinterlassen habe. Aber für mich persönlich habe ich entschieden: kein Facebook, kein Whatsapp, kein Instagram, kein Twitter oder wie sie alle heißen. Das hat auch ein wenig damit zu tun, dass ich meine Kommunikationskanäle nicht wechseln wollte. Irgendwann muss man sich entscheiden, wo man sich herumtreibt, schon allein deshalb, weil man gar nicht alle Kommunikationskanäle auf einmal bedienen kann, zumindest nicht, wenn man noch ein Leben haben möchte.

Sie nutzen weiter E-Mail...

Ich nutze nach wie vor E-Mail und Mailinglisten, News natürlich weniger. Informationen stelle ich selbst auf Webseiten und nicht auf YouTube zur Verfügung. Für mich persönlich – und bitte, nur für mich – habe ich auch entschieden, dass die alten Kanäle effizienter sind. Ich habe lieber eine klassische Textmail als eine Tofu-Nachricht, die dann noch mit Bildchen, Smilies und Links garniert ist, bis dann kommt, ok, dann treffen wir uns morgen. Bei vielen Webseiten geht es mir ähnlich. Die sehen toll aus, sind grafisch aufgemotzt, aber oft wird der Blick auf die wesentliche Information, nach der ich suche, verstellt. Und schließlich, auch das ist eine sehr persönliche Einschätzung: mir ist in den vergangenen Jahren der Sumpf einfach zu groß geworden. Wenn man einen Kanal aufmacht oder auch verfolgt, muss man das auch konsequent machen. Die ganze, ich will nun gar nicht sagen, Hetze, aber die ganzen technisch völlig unqualifizierten Dinge, die da verbreitet werden, das muss man sich doch eigentlich nicht antun. Natürlich kann ich meine Kollegen verstehen, die sagen, aber meine ganze Familie benutzt WhatsApp, was soll ich machen. Meine Familie benutzt für persönliche Chats teils Telegram – auch nicht besser. Aber sie weiß, dass sie mich so nicht erreicht. Wer mich erreichen will, schickt mir eine Mail oder ruft an.

Sie sind viel vorsichtiger, sagen Sie. Sind sie schon vorsichtiger in den Äußerungen, im Usenet hat man ja doch eine klare Sprache gepflegt…

...nett ausgedrückt.

Was bringt so ein Urteil wie das, das Renate Künast erstritten hat, nachdem "gehirnamputiert" schon zur Preisgabe von persönlichen Daten für eine zivilrechtliche Verfolgung berechtigt? Müssen Sie da auch vorsichtiger werden?

Kein Problem für mich. Ich halte eh nichts davon, sich so auszudrücken, weder im professionellen noch im privaten Bereich. Bei aller Höflichkeit sage ich aber durchaus, was ich meine. Wenn man aber manche Reaktionen sieht, überlegt man sich natürlich, ob man mit vollem Namen kommentieren will. Ich würde das im Usenet durchaus tun. An vielen Stellen muss ich mich aber fragen: soll ich mir nur wegen meines weiblichen Vornamens bescheuerte Kommentare anhören, die mit den Sachfragen, um die es geht, wirklich nichts zu tun haben?

Was würden Sie sagen, wie sich die wachsende Komplexität in den Netzen auswirkt auf die Arbeit von Providern, ist es heute nicht viel schwieriger, einen Mailprovider zu betreiben?

Ja und nein. Man muss mehr auf der Höhe sein, um neue Trends zu erkennen. Zugleich hat man heute mehr Möglichkeiten, Technik extern einzukaufen. Man kann in die Cloud gehen, kann sich einen Server bei Hetzner kaufen, nur als Beispiel. Klassische Provider brauchen ein Rechenzentrum, Monitoring. Wenn man das nicht will, kann man den Provider Betrieb auslagern. Schwieriger ist es aus meiner Sicht, weil die Kundschaft schwieriger ist. Ich kann nicht so für den Firmenbereich sprechen. Nutzervereinbarungen, FAQs, Hotlines zur Fehlerbewältigung – man muss einen ganz schönen Aufwand betreiben. Früher haben Nutzer akzeptiert, dass sie sich auch selbst kümmern mussten. Einerseits ist es gut, wie verbreitet das Netz heute ist. Andererseits sind die Ansprüche ganz schön gewachsen. Ich betreue die technische Hotline hier an der ZEDAT teils mit. Da gibt es öfter Unverständnis, wenn ein technisches Problem einmal nicht sofort gelöst wird. Wir haben in der Regel drei Leute, die sich um Trouble-Tickets kümmern, bei rund 35.000 Studierende und 6000 Beschäftigte. Mit wenigen Leuten einen Provider starten, ist heute kaum noch möglich.

Es ist also technisch einfacher, aber...

Es ist technisch einfacher, insbesondere Hardware-technisch. Man muss sich mehr um neue Trends kümmern…

Da wollte ich einhaken. Bei E-Mail sprechen manche von einer Krise wegen vieler neuer Standards, sind also die Anforderungen so groß, dass nur noch die Hyperscaler das schaffen?

Zumindest können nur die Einfluss nehmen. Die Hyperscaler setzen immer mehr die Regeln. Das sieht man beim CA/Browser Forum. Die entscheiden mal schnell, Zertifikate dürfen nur noch so und so alt sein, und schon müssen alle nachziehen, auch das DFN.

Was ist mit immer neuen Standards?

Wir haben eigentlich wenig Probleme mit den experimentellen neuen Standards, weil wir sie derzeit nicht einsetzen. Trotzdem nehmen uns die meisten noch unsere Mails ab. Google will wohl auf unsere Mails auch nicht verzichten. Bei E-Mail kommt hinzu, man versucht ein altes Protokoll gegen die Wirrungen der neuen Zeit abzusichern. Als Mail erfunden wurde, waren das alles Freunde, mit denen man sich ausgetauscht hat. Die haben einen nicht zugespammt. Klar muss man sich als Provider um die neue Technik kümmern, muss Ressourcen dafür einplanen. Dabei braucht man aber auch ein Händchen, um jeweils zu entscheiden, was ist ein Hype und was könnte sich tatsächlich langfristig durchsetzen.

Was, wenn ausgerechnet die Großen sich nicht an Standards halten, und die verbliebenen kleinen Anbieter blocken?

Ich habe es noch nicht direkt erlebt, dass kleine Provider wirklich geblockt wurden. Wir nehmen selbst seit einiger Zeit zum Beispiel keine Mails mehr, die alte Microsoft Dokumentformate im Anhang haben. Wir haben das schon lang hinausgezögert, denn an einer Uni halten sich alte Formulare hartnäckig. Letztlich denke ich, so wie wir sehr kleinteilig auf unsere Nutzer reagieren, können das kleine Provider auch tun. Provider wie das Individual Network können ihre eigenen Filterregeln noch selbst konfigurieren. Sie wollen noch mehr verstehen, was passiert. Klar, das ist ein Kostenfaktor, während wir an der Uni für diesen Dienst bezahlt werden.

Sind die Nutzer zu wenig mit gewachsen? Hat man ihnen in den ersten 40 Jahren Internet zu wenig Basiswissen mitgegeben, damit sie in etwa verstehen, was passiert und warum etwas schiefgeht?

Das stimmt in gewisser Weise. Noch schlimmer finde ich aber, wenn Unternehmen, wie etwa Microsoft werben: Hier ist dieses neue Paket, alles ganz easy, nur klicken. Man muss nichts verstehen. Da kann gar nichts schiefgehen. Das im vollen Bewusstsein, dass so ein riesiges neues Office-Programm von niemandem mehr überblickt wird und man im Grund nur auf die Rückmeldungen der Nutzerschaft wartet, um alle möglichen Scharten auszuwetzen. Aber den Nutzern wird Fehlerlosigkeit suggeriert, nicht work-in-progress. FAQs, die es hier und da immerhin gibt, sind dabei oft nicht allgemeinverständlich genug. Vielleicht ist das aber auch der Zug der Zeit. Ich fahre lange Auto und habe natürlich früher meinen Ölwechsel selbst gemacht, den Keilriemen getauscht und auch die Elektrik repariert. Heute kann ich das nicht mehr. Wenn mein Auto heute ein Problem hat, fahr ich in die Werkstatt. Ich bin ein reiner User geworden. Immerhin ist es gut, dass es dafür genügend Werkstattbetriebe gibt.

Fehlt die Internetwerkstatt?

Ja, ein bisschen fehlt das für Rechner, Gadgets und ganze Netzwerke. Vielleicht müsste es Rentner-Minijobs für Rechnerreparaturwerkstätten geben, die Computerfreaks kommen ja auch langsam ins Rentenalter (lacht).

Wie beurteilen Sie den Streit um die Regulierung der Plattformen?

Bei Facebook könnte ich mir vorstellen, dass es Konkurrenz geben kann. Bei Google mit seinen Suchalgorithmen bin ich skeptisch. Was ich für heikel halte, ist die anonyme Nutzung. Ich sehe das Problem in autoritären Staaten. Die Gesellschaft muss sich auch was einfallen lassen, wie sie mit Verbrechen in dem Umfeld umgehen will. Mit Blick auf die Marktmacht, das wird schwierig. Ich mag globale Unternehmen, denn das Netz ist global, zugleich sind sie dann eben zu mächtig. Sinnvoll wäre gewesen, wenn die EU vor 10 Jahren gesagt hätte, wir machen eigene Programme. Es ist ein bisschen scheinheilig, dass alle Microsoft einsetzen, aber zugleich beklagen, dass Microsoft ihre Daten verarbeitet.

Was würde Interoperabilität im Digital Market Act bringen? Standardschnittstellen, die Portabilität und auch den Austausch etwa von Messages oder Ähnliches erzwingt? Ist Interoperabilität ein gutes Tool gegen Marktkonzentration?

Ich denke schon, das wäre eine sinnvolle Lösung, weil der Umzug von einer Plattform zur alternativen dann einfacher wäre. Die DSGVO geht ja ein wenig diesen Weg. Offengelegte Schnittstellen wären auch gut, dann könnte man notfalls auch etwas eigenes programmieren. Wie erfolgversprechend das sein kann, da bin ich allerdings nicht ganz sicher.

Wenn man das Internet gestern und heute vergleicht, was ist der größte Unterschied?

Ich finde super toll, dass es in unseren Gesellschaften für jeden zur Verfügung steht. Man redet zwar immer so viel von den Hasstiraden, aber die allermeisten benutzen das Netz ja friedlich. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal mit meinen über 80-jährigen Eltern über E-Mail kommuniziere oder per Skype pandemische Weihnachten feiere. Das ist sehr viel wert. Was ich vermisse, ist die Kollegialität. Klar, je größer das wird, desto weniger kennt man sich. Was mich auch nervt, sind die vielen Sicherheitsmaßnahmen, die man heute als Provider treffen muss. Das hält von der eigentlichen Arbeit ab und man hinkt den Angreifern einfach immer hinterher. Ich betreibe also einen Riesenaufwand zur Absicherung, aber der eigentliche Nutzeffekt bleibt der gleiche, denn ich verschicke anschließend immer noch E-Mail. Früher hat man sich zu wenig Gedanken gemacht. Dass die Sicherheit heute immer der erste Gedanke ist, das ist schade und trifft uns als Provider. Eine Sache geht mir heute auch ab im Vergleich zu früher. Man konnte früher die Leute mit dem Herstellen von Konnektivität echt glücklich machen. Nach der Wende haben wir eine Modemverbindung von der FU nach Magdeburg aufgebaut. Der DAAD hat das Modem gespendet – und die in Magdeburg waren so happy, dass sie endlich eine Verbindung in den Westen hatten. Die Mails, die wir da bekommen haben! Wir haben uns über Jahre getroffen. Man hatte menschliche Erfolgserlebnisse, nicht nur technische.

Frau Heinau, vielen Dank für das Gespräch.

(bme)