Missing Link: Kampf dem Online-Schrotthandel!

Der Online-Fernhandel unterläuft Schutzstandards. Die Verbraucher sind selbst mit Schuld daran - die Politik muss sie dennoch wirksamer schützen.

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Beschlagnahmte Kartons und Produkte in einem Lager.

Vom Zoll beschlagnahmte Produkte.

(Bild: Zoll)

Lesezeit: 11 Min.
Inhaltsverzeichnis

Eines haben sie gelernt und darauf verlassen sich die Bürger bei jedem Griff ins Supermarktregal, im Kaufhaus, beim Onlineshopping, im Restaurant und beim Bäcker: Was in Deutschland in den Verkehr gebracht wird, also verkauft wird, ist nach menschlichem Ermessen und fachlicher Einschätzung grundsätzlich sicher. Zumindest dann, wenn es ordnungsgemäß benutzt wird und keine Fehlfunktionen oder Fehler in der Produktion oder Lieferkette auftreten.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Denn wer möchte schon die Leber seiner Kinder wegen ein paar günstiger, aber giftiger Plastiksandalen gefährden? Oder sich bleihaltig die Zähne putzen? Oder sich beim Rasentrimmen die Klingen um die Füße fliegen lassen? Die EU listet auf ihrem Warnportal Safety Gate dabei nur jene Produkte auf, die den Marktüberwachungsbehörden überhaupt aufgefallen sind – mit hoher Wahrscheinlichkeit ist das nur ein Bruchteil der hochproblematischen Produkte. Und Nahrungsergänzungsmittel etwa, einer der gesundheitsgefährdenden Problembereiche, fallen gar nicht unter die Kategorie Produkte, denn regulatorisch betrachtet sind sie in der EU Nahrungsmittel.

Dabei hat der ganz praktische Schutz der Verbraucher eine lange Tradition: Lug und Betrug waren historisch immer wieder Anlass für Ärger, vom zu kleinen Brötchen bis zum manipulierten Gewicht. Doch die Bäckertaufe hat ausgedient, der Wiegemeister am Markt ebenso. Im Zuge von Industrialisierung, Massenproduktion und Konzentration auf per Zentraleinkauf beliefertem Einzelhandel statt Direktverkauf vom Hersteller wuchs dabei die Gefahr, dass einzelne Produkte unterhalb des vernünftig erwarteten Standards produziert wurden und zugleich eine große Menge Betroffener verursachten. Dieses Risiko wird zum einen durch Kontrollen und zum anderen durch den Markt geregelt, auch wenn dessen Funktionieren regelmäßig unterstützt werden muss.

Gewährleistungspflichten stellen dabei sicher, dass Verbraucher bei einem Defekt innerhalb der ersten 12 Monate ihren Verkäufer zur Nachbesserung auffordern können – und noch nicht einmal nachweisen müssen, dass der Schaden nicht von ihnen zu vertreten ist. In den folgenden 12 Monaten dreht sich das zwar um – doch im Zweifel können die Kunden ihr Recht einklagen.

Verbraucherschutzrecht und technische Normierung, Kennzeichnungen und Informationspflichten hielten über die Jahrhunderte und vor allem die vergangenen Jahrzehnte Stück für Stück Einzug. Mit der Folge: die meisten Menschen kennen weder ihre Rechte noch die Pflichten der Verkäufer oder Produzenten. Es ist jener unsichtbare Teil des Marktes, der dafür sorgt, dass möglichst einfach konsumiert werden kann. Produzent und Verbraucher kommen dabei im Regelfall gar nicht direkt in Kontakt. Sie interagieren über Zwischenhändler, die Produkte gegebenenfalls importieren, den Versand- oder Einzelhandel. In allen Fällen gibt es eine verantwortliche Stelle als Verkäufer, die juristisch greifbar ist. Und genau an dieser Stelle läuft derzeit eine gewaltige Umwälzung des Handels. Denn zwei Dinge kommen zusammen: Die deutlich bessere Logistik – und die Möglichkeiten des Internets.

Für die Verbraucherstandards ist das der nahezu perfekte Sturm – ausgelöst ausgerechnet von den Verbrauchern selbst. Denn den massiven Werbeversprechungen ("Shoppe wie ein Milliardär") folgend, stürzen sie sich wie Lemminge auf Onlinemarktplätze, lassen sich von den Betreibern mit billigen psychologischen Tricks wie Countdowns für Supersonderangebote oder angeblich endende Lagerbestände verleiten, impulsiv Jagd auf Billigprodukte machen. Der Kunde sitzt mit dem Smartphone auf der Couch, der Händler und Produzent dagegen oft in chinesischen Sonderwirtschaftszonen – dort, wo auch sonst ein großer Teil der Produkte hergestellt wird.

Erst kommt der Bestell-Klick, dann folgt die Logistik. Absurde Mengen Päckchen, Pakete und Warensendungen gehen auf die Reise. Die EU-Kommission nennt derzeit die Zahl von etwa 4,6 Milliarden Billigprodukten, die 2024 nach Europa eingeführt wurden – 97 Prozent aller Direktimporte. Eine gigantische Menge einzelner Warensendungen, die per Post und Kurierdienst in die Haushalte gelangen und dafür eine Weltreise hinter sich gebracht haben.

Was viele Besteller dabei nicht wissen: Der Kern des heutigen Verbraucherschutzrechts besteht darin, dass derjenige, der ein Produkt in die Europäische Union einführt, dafür zu sorgen hat, dass es den geltenden europäischen gesetzlichen und technischen Normen entspricht.

In der alten Welt funktionierte das nach einem einfachen Prinzip: Ein Container voller Produkte kommt im Hafen an – der Zoll prüft die Frachtpapiere und kann stichprobenhaft kontrollieren, ob tatsächlich das angegebene Produkt enthalten ist. Und kann, wenn der Zöllner vermutet, dass die Produkte vielleicht nicht den EU-Regeln entsprechen, die zuständige Marktüberwachungsbehörde einschalten. Kommt etwa ein Container voller Glasfaser-Router an, greift der Zoll einmal in eine zufällige Kiste – und die Bundesnetzagentur schaut sich das Gerät an: Hat es die notwendigen Konformitätserklärungen? Entspricht die tatsächliche Ausführung dem, was in den Dokumenten steht? Bestellen die Nutzer aber nun selbst direkt außerhalb Europas, dann können sie nur hoffen, dass der Händler sich an die Standards hält. Es gibt keinerlei Garantie dafür.

Denn das System von Zoll- und Marktüberwachungsbehörden ist heillos überfordert: Eine realweltliche Distributed- Denial-of-Service-Attacke – bei der die Vielzahl der Warensendungen die vorhandene Prüfinfrastruktur außer Gefecht setzt. Die ist dabei in Deutschland unendlich zersplittert: Von kommunalen Aufsichtsbehörden über größere Prüfanstalten bei Regionalverbänden bis hin zur Bundesnetzagentur sind die Aufgaben verteilt. Und bei den wenigen Sendungen, deren Inhalt tatsächlich geprüft wird, schlagen die Marktüberwachungsbehörden regelmäßig Alarm: Was geprüft wird, ist oft schlicht gefährlicher Schrott. Die Quote der Treffer für unsichere Produkte ist unglaublich: bei der nur für kleine Teile zuständigen Bundesnetzagentur waren 2024 gleich 92 Prozent der geprüften Warensendungen problematisch.

Die Hersteller und Händler unterlaufen teils in vollem Wissen um diese Problematik die geltenden Standards. Denn die zu erfüllen ist teuer: von wenigen hundert bis zu vielen tausend Euro kann allein die CE-Konformitätsprüfung kosten, die in Europa Pflicht ist. Wer etwa Spielzeug auf den EU-Markt einführt, muss dabei ebenfalls die CE-Konformität sicherstellen – je nach Produkt fallen unterschiedliche Anforderungen an: Was Kleinkinder in den Mund nehmen könnten, muss andere Kriterien erfüllen als der Chemie-Experimentierkasten. Ein Schaukelpferd unterliegt anderen Anforderungen als Seilbahnteile im Sinne der EU-Seilbahnverordnung. Europas Vorschriftenlandschaft für die Produktsicherheit ist komplex – und lebt davon, dass die Einhaltung auch durchgesetzt werden kann.

Doch nur dann, wenn der Hersteller oder Importeur auch für Schäden geradestehen muss, kann dieses System überhaupt funktionieren. Bislang aber gilt: Rechtlich reicht es schon, wenn ein "gesetzlicher Vertreter" in der EU für den Händler benannt ist. Dieser ist nach Digital Services Act Pflicht für Onlinemarktplätze, muss aber keine besondere Qualifikation, keine adäquate finanzielle Ausstattung, keine Fachkunde mitbringen.

Was aber passiert, wenn der angebliche gesetzliche Vertreter in Wahrheit nur ein Strohmann ist? De facto: Nichts – außer, dass der Strohmann gewechselt wird. Ein Phänomen, das aus ganz anderen Bereichen zur Genüge bekannt ist und sich nun beim Onlineshopping wiederholt. Die Marktplatzbetreiber wiederum verdienen dennoch an jedem Produkt mit, egal ob zulässig oder nicht, ob gefährlich oder gesundheitsschädlich, ob mit korrekt angegebenen Daten der Händler oder nicht.

Dadurch wird das Ganze ein strukturelles Problem: Wie kann sichergestellt werden, dass das, was auf den Markt kommt, auch tatsächlich sicher ist? Die stichprobenhaften Überprüfungen der Marktüberwachungsbehörden sind praktisch nicht in der Lage, die Vielfalt an unterschiedlichen Produkten zu prüfen. Die lückenhaften Kontrollen zahlen derzeit die Steuerzahler, die meinen, an anderer Stelle sparen zu können und aus einer unendlichen Auswahl an Produkten bestellen zu können. Doch ist es das wirklich wert, nur um möglichst billig möglichst viel Kram per Post liefern zu lassen?

Diese Entwicklung hat nämlich auch in noch größerer Dimension Rückwirkungen: Mit der Billigimport-Konkurrenz, die Standards unterläuft, funktioniert der Markt für standardkonforme Anbieter nicht mehr. Die gesamte Idee der Standardisierung gerät ins Wanken, dass es ein gemeinsames Mindestniveau für Produktsicherheit gibt und der Markt oberhalb dieser durch Werbung, Produktdifferenzierung und Preise für beide Seiten funktioniert. Und das ist mittelfristig ein echtes Problem – und zwar eines für die Verbraucher. Denn fallen Importeure standardkonformer Produkte auf längere Sicht aus, weil der Markt wegbricht, geht automatisch die Auswahl zurück.

Nun wäre es falsch, zu sagen, dass der Direkthandel mit Firmen im EU-Ausland insgesamt schlecht für die Verbraucher wäre. Denn durch den Wegfall einiger Zwischenhändler können sie theoretisch bares Geld sparen. Doch darf das nicht zulasten der Produktstandards gehen, die sie schützen. Und auf die sie – aus Gewohnheit – derzeit blind vertrauen. Doch die Produktstandards sind an anderen Orten der Welt nun einmal deutlich niedriger und die Kontrolldichte ist noch geringer als hier – wenn die Standards für zum Export vorgesehene Produkte denn überhaupt gelten. Hier müssen die Verbraucher tatsächlich vor sich selbst geschützt werden, weil sie von falschen, ehemals zutreffenden Voraussetzungen ausgehen.

Es sind also viele Gründe, warum die Politik dringend gefordert ist, hier zu agieren. Immerhin wachsen Temu und Shein rasant. Ein Teil der Vorschläge liegt dabei bereits auf dem Tisch: Mit Änderungen am Zoll-System sollen Waren umfassender digital deklariert werden müssen – was die praktische Bearbeitung bei der Einfuhr verbessern kann. Denn die Zollbehörden können dann anhand der Beschreibung zumindest oberflächlich einfacher prüfen, ob das, was angeblich enthalten ist, auch tatsächlich in einer Warensendung steckt.

Ein weiterer Vorschlag: Eine Bearbeitungsgebühr, die für jede Sendung erhoben wird. Das könnte selbst bei relativ kleinen Gebühren den derzeitigen Direktimport-Preisvorteil gegenüber dem Massenimport mit anschließendem Versand aus Europa schnell auffressen und den irrsten Auswüchsen entgegenwirken – etwa wenn einzelne Centartikel per Flugzeug nach Europa kommen. Außerdem könnten Kontrollen so vereinfacht und das Geschäftsmodell des Direktimports mit europäischen Verbrauchern unter Umgehung geltender Standards strukturell unattraktiver werden. Die Alternative: Händler aus Nicht-EU-Ländern müssten eine Pflichtversicherung in der EU abschließen, die eventuelle Schäden durch Nichtkonformität ausgleicht. Ohne diese dürfte dann hier nicht mehr gehandelt werden, für die Einhaltung müssten die Marktplätze geradestehen.

Beides würde für die Kunden einen gewissen Aufpreis bedeuten, der sich aber lohnen könnte. Denn der wohl wichtigste Part kommt auch in Zukunft den europäischen und deutschen Shopping-Kunden zu: Sie müssen verstehen, dass das, was sie für günstig halten, oft im schlechtesten Sinne billig ist. Alles andere könnte für die Verbraucher auf Dauer ganz schön in die Hose gehen.

(mack)