Missing Link: Nichts Neues am LHC – Physiker in der Sackgasse?

Seite 2: Was ist los mit den Theoretikern?

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Um zu verstehen, was hier passiert ist, lohnt sich ein Blick in die Geschichte der Naturwissenschaften. Anfang des 20. Jahrhunderts haben Physiker die Grundlagen ihres Gebiets komplett überholt. Nicht nur fand Einstein heraus, dass Raum und Zeit zusammengehören und gekrümmt sind, auch bemerkte Heisenberg, dass die Materie einer unvermeidbaren Unschärfe unterliegt. Heisenberg, Schrödinger und einige andere hellen Köpfen, zogen damals den Schluss, dass Materie durch die Quantenmechanik beschrieben werden muss.

Die Quantenmechanik war dramatisch erfolgreich und das nicht nur, weil man damit die Ordnung des Periodensystems und die, damals schon lange bekannten, Atomspektren berechnen konnte. Die Quantenmechanik ist auch diejenige Theorie, auf der alle Technik beruhen, auf die wir uns heute so selbstverständlich verlassen: Halbleiter und Transistoren, Laser und Digitalkameras, Atomuhren, LEDs, und Magnetspinresonanz – alles das haben wir nur dank der Quantenmechanik. Da sind die Physiker zurecht stolz drauf.

Nachdem sie die Quantenrevolution abgehakt hatten, begannen Physiker dann, die Struktur der Materie auf kleineren und kleineren Abständen zu testen. Dabei fanden sie erst die Bestandteile der Atome, dann die Bestandteile der Atomkerne, und dann wiederum die Bestandteile der Bestandteile der Bestandteile. All diese Einsichten fassten sie in den 70er Jahren im Standardmodell der Teilchenphysik zusammen.

Die Theorie des Standardmodells beruht stark auf der Idee von Vereinheitlichung und Symmetrie. Vereinheitlichung deshalb, weil man erst die elektrische mit der magnetischen Kraft zusammenfügte, und danach die elektromagnetische mit der schwachen Kernkraft zur sogenannten "elektroschwachen Kraft". Die starke Kernkraft jedoch sitzt immer noch etwas im Abseits und will nicht so ganz mit der elektroschwachen zusammenpassen. Symmetrisch ist das, weil jede dieser Kräfte von recht einfachen Symmetrieprinzipien abgeleitet werden kann.

Nachdem sie also nun das Standardmodell hatten, dachten die Physiker, man könnte den bisherigen Erfolg auf dieselbe Art und Weise fortsetzen. Entsprechend versuchte man sich an der sogenannten "großen Vereinheitlichung" der drei Kräfte im Standardmodell oder gleich an der "Theorie von Allem", bei der auch noch die Gravitation mit drin sein soll. Aber diese Methode funktionierte nicht.

Verschiedene Ansätze zur großen Vereinheitlichung, die auf Symmetrien basieren, wurden schon in den 80er Jahren experimentell ausgeschlossen. Das war möglich, weil diese Theorien vorhersagten, dass Protonen zerfallen können, was nicht beobachtet wurde. Die Physiker aber wollten die Idee von Vereinheitlichung und Symmetrie nicht aufgeben. Daher haben sie seitdem immer weitere solcher schön symmetrischen Theorien vorgeschlagen. Die Theorien sind dabei zunehmend komplexer geworden sind, um weiterhin mit den Daten im Einklang zu sein.

Wie der Name schon vermuten lässt, steckt der Wunsch nach Symmetrie auch hinter der Theorie der Supersymmetrie. Die Supersymmetrie erweitert das Standardmodell durch die Hypothese von neuen Partnerteilchen, die zu den schon bekannten Teilchen passen sollen. Die Idee der Supersymmetrie wird von theoretischen Physikern auch bereits seit den 80er Jahren verfolgt und ist schon ganz zu Anfang in Konflikt mit Beobachten geraten. Anstatt die Theorie aufzugeben, haben Theoretiker die Supersymmetrie jedoch aufgepeppt, sodass der Widerspruch mit dem Experiment nun nicht mehr auftritt. Nach den supersymmetrischen Partnerteilchen wird derweil immer noch gesucht.

Ein weiteres Kriterium, das Physiker außer Symmetrien derzeit gerne zur Theorieentwicklung benutzen, ist, dass sie in einer Theorie nur bestimmte Zahlen haben wollen. Wir reden hier nicht von Zahlen mit Einheiten, wie zum Beispiel Längen, sondern reine Zahlen ohne Einheiten. Eine gute Theorie, so denkt man in den Grundlagen der Physik heute, sollte nur Zahlen haben die nahe an Eins sind. Nicht zu groß und nicht zu klein, sondern gerade richtig.

Einen besonderen Grund dafür gibt es nicht. Es wäre halt schön, wenn die Natur so wäre. Tatsächlich nennen Physiker solche hübschen Zahlen auch "natürliche Zahlen". Die Idee dazu kommt aus der Intuition, dass wir in unserem täglichen Leben sehr große oder sehr kleine Zahlen selten rein zufällig antreffen. Unnatürliche Zahlen brauchen normalerweise eine Erklärung.

Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie pflanzen Karotten, und eine von denen wird 1000 Mal so groß wie die anderen. Da glauben Sie doch, da muss etwas dahinterstecken! Genau so geht es den Physikern mit unnatürlichen Zahlen. Da muss eine Erklärung dafür her. Und dazu postulieren sie dann neue Teilchen oder Symmetrien. Die bereits erwähnte Kosmologische Konstante ist in etwa so ein Fall. Zu klein, sagen die Physiker, eine fünfte Kraft soll es richten. Es gibt noch ein paar andere solcher anstößigen Zahlen, die Masse vom Higgs-Boson zum Beispiel. Die Supersymmetrie soll erklären, warum die so klein ist.

Nun ist es aber so, dass Sie Ihre Riesenkarotte deshalb kritisch beäugen, weil sie schon viele Karotten gesehen haben. Wenn es um die "Theorie von Allem" geht, dann haben die Physiker aber keine Erfahrung, mit der sich das Erstaunen rechtfertigen ließe. Für die Zahlen in unseren Theorien können wir auch keine Erfahrung sammeln, denn wir können keine Universen mit anderen Grundgesetzen im Garten züchten. Es gibt daher keinen Grund zu erwarten, dass die Zahlen in den Theorien im Sinne der Physiker "natürlich" sein müssen.

Es war dieser Glaube, dass natürliche Zahlen irgendwie besser sind, wegen dem so viele Physiker dachten, dass der LHC neben dem Higgs-Boson noch etwas anderes sehen sollte. Dasselbe Argument steckt hinter der Hoffnung, dass man Teilchen mit dem Namen "Axionen" in einem der extra für sie gebauten Detektoren finden sollte. Und Zahlenspiele, die sich auf vermeintlich – aber nicht nachweisbar – unwahrscheinliche Zufälle stützen sind auch der Grund, warum viele Physiker dachten, Dunkle Materie sind eine Art Teilchen namens WIMPs (Weakly Interacting Massive Particles), die man ebenfalls nicht gefunden hat.