Missing Link: Nichts Neues am LHC – Physiker in der Sackgasse?

Seite 3: Das Argument Schönheit hat Geschichte

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Schon in der Vergangenheit haben Schönheitsargumente Physiker oft in die Irre geführt, denn viele wissenschaftliche Theorien, die einst für schön gehalten wurden, waren schlicht falsch. Zum Beispiel die Idee, dass die Planeten sich auf Kreisbahnen bewegen, wie die Astronomen lange dachten. Eigentlich sind es Ellipsen. Oder, wie Kepler dachte, dass die Durchmesser dieser Kreisbahnen durch reguläre Polyeder, die Platonischen Körper, bestimmt sind. Stimmt aber nicht. Oder dass Atome eigentlich Knoten in einem unsichtbaren Aether sind. Leider auch falsch.

Auf der anderen Seite sind da die hässlichen Theorien, die gut funktionieren. Die Quantenmechanik, zum Beispiel, die finden viele Physiker heute immer noch hässlich. Sie ist aber ausgesprochen erfolgreich. Oder das sich dynamisch entwickelnde Universum. Vor 100 Jahren fanden die Physiker diese Idee abstoßend, sie ist aber wahr.

Man lernt von diesen historischen Beispielen zweierlei. Erstens ist das, was schön ist, nicht immer wahr. Zweitens, was Wissenschaftler als schön bezeichnen, hat sich im Laufe der Zeit geändert und wird sich wohl auch weiter ändern. Wenn Sie heute einen Astronomen fragen, ob Ellipsenbahnen hässlich sind, tippt der sich vermutlich nur den Kopf. Wenn ich jedoch meinen Kollegen in den Grundlagen der Physik solche historischen Beispiele dafür vorhalte, dass Schönheit eine Theorie nicht vielversprechend macht, sagen sie mir, dass solche alten Ideen, die einst für schön gehaltenen wurden, ja eigentlich auch nicht schön waren. Hinterher ist man eben immer klüger.

Um zu rekapitulieren: In den Grundlagen der Physik verlässt man sich seit den 70er Jahren auf Schönheitsargumente. Diese funktionieren nicht und die Vorhersagen treffen nicht ein. Dennoch korrigieren die Physiker ihre Methoden nicht. Was geht hier vor sich?

Für mein Buch "Das hässliche Universum" habe ich mit vielen Physiker in den betroffenen Gebieten darüber gesprochen, warum sie denn so dickköpfig an Methoden festhalten, die nur falsche Vorhersagen produzieren. Erst einmal bekomme ich da oft das Argument von der Erfahrung: Hat doch vorher funktioniert. Wie die oben genannten Beispiele belegen, stimmt das aber nicht. Es ist eher so, dass Physiker sich vorzugsweise an die Fälle erinnern, wo schöne Theorien erfolgreich waren, wie in der Entwicklung des Standardmodells und der Allgemeinen Relativität.

Mein Eindruck ist vielmehr, dass Physiker an schönen Theorien arbeiten, weil sie das gerne machen. Und weil Ihre Kollegen das auch gerne machen, kann man zu solchen Theorien gut wissenschaftliche Artikel veröffentlichen, die dann – ganz wichtig – auch von anderen Physikern gerne zitiert werden. Aus der Sicht der Theoretiker sieht das wie Fortschritt aus. Es wird veröffentlicht, es wird diskutiert, man hält Konferenzen. Alles ist gut. Ob man dabei was über die Natur lernt, spielt eine untergeordnete Rolle. In seinem 1996 erschienenen Buch "An den Grenzen des Wissens" prägte der US-amerikanische Wissenschaftsjournalist John Horgan dafür den Ausdruck "ironische Wissenschaft".

Dass man Theorien auf Schönheitsargumente aufbaut, die nicht funktionieren, ist daher heute in den Grundlagen der Physik allgemein akzeptierte wissenschaftliche Praxis. Man lernt das so. Alle anderen machen das auch. Und das gibt Physikern den Eindruck, sie machen alles richtig. Wenn nun einer etwas anders machen will, dann ist das schwierig. Das dauert länger und dann wird es nicht ordentlich zitiert. Wissenschaftler, die etwas anders machen wollen, finden daher heute keine Forschungsgelder und keine Stelle. Sie steigen aus. Und so bleibt der Status Quo erhalten.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Dass sich erfolglose wissenschaftliche Methoden in Wissenschaftskollektiven festsetzen können, gibt es natürlich nicht nur in der Physik. Das Schönheitsgefasel ist ein spezielles Problem der Physiker, aber das grundlegende Problem, dass Wissenschaftler heute an dem arbeiten müssen, was schnelle Ergebnisse liefert und bei den Kollegen populär ist, findet sich in allen Fachbereichen.

In der Psychologie, zum Beispiel, sind jahrzehntelang statistische Analysemethoden benutzt worden, von denen lange bekannt war, dass sie zu Trugschlüssen führen. Warum? Weil es einfach war und alle das machten. In der Medizinforschung führt man auch weiterhin die meisten Studien an Mäusen durch, obwohl bekannt ist, dass die Ergebnisse von Mäusen schlecht auf Menschen übertragbar sind. In vielen Fällen lassen sich die Ergebnisse von Mäusen nicht mal auf Ratten übertragen. Wieso hält man also in den Mäusen fest? Mäuse sind billig und einfach und jeder benutzt sie. Also bleibt man dabei.

Wir brauchen dringend eine Reform des Wissenschaftssystems, um solchen Unfug in der Zukunft zu verhindern. Ein größerer Teilchenbeschleuniger wird dieses Problem nicht lösen. (mho)