Missing Link: Sommerzeit ade

Seite 2: "In absoluter Dunkelheit zur Schule"

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Gegen eine dauerhafte Sommerzeit spricht sich der Schlafforscher Prof. Dr. Till Roenneberg aus. Für ihn wäre sie eine Katastrophe, sinnvoll wäre eine ganzjährige Normalzeit. Der Deutsche Lehrerverband rief die Bundesregierung im Frühjahr 2019 "dringend" dazu auf, eine dauerhafte Sommerzeit verhindern, denn sonst hätten insbesondere Schulkinder und Jugendliche unter gravierenden gesundheitlichen Auswirkungen zu leiden. Die Wahrscheinlichkeit für Schlaf- und Lernprobleme, Depressionen und Diabetes werde nachweislich massiv erhöht. Über 10 Millionen Schülerinnen und Schüler in Deutschland müssten zwei Monate länger bei absoluter Dunkelheit ihren morgendlichen Schulweg antreten. Das würde die Unfallhäufigkeit in die Höhe treiben.

Unabhängig von der Diskussion über die Zeitumstellung ist hinlänglich bekannt, dass Kinder und Jugendliche wegen des für ihre innere Uhr zu frühen Schulbeginns ein Schlafdefizit anhäufen, wie die Chronobiologin Eva Winnebeck von der TU München Anfang dieses Jahres gegenüber TR online sagte. Sie hatte eine Schule in Aachen begleitet, die für die Oberstufe einen optionalen späteren Unterrichtsbeginn eingeführt und Vorteile für die Jugendlichen gesehen hatte: Sie gaben an, ihnen falle es leichter, sich zu konzentrieren – und wer später kam, schlief in der Regel mehr. Erkenntnisse, die durch Studien während der Schulschließungen in der Coronavirus-Pandemie gestützt wurden. Die Schule sollte besonders für Pubertierende morgens besser um 9 anfangen, manche Schlafforscher meinen sogar, besser um 10 Uhr.

Auch falls die Erkenntnisse der Chronobiologen die Entscheidungsträger in Deutschland überzeugen sollten, kein EU-Land kann einfach aus der momentanen Zeitregelung aussteigen. Seit 2001 verpflichtet die EU-Richtlinie 2000/84/EG nämlich unbefristet alle Mitgliedstaaten, am letzten Sonntag im März auf die Sommerzeit umzusteigen und am letzten Sonntag im Oktober wieder auf ihre Standardzeit zurückzusteigen. Ach EU-Richtlinien hatten sich seit 1981 mit der Sommerzeit befasst und die – damals noch jeweils befristeten Regelungen – dabei zunehmend harmonisiert.

2018 legte die EU-Kommission einen weiteren Richtlinienvorschlag zur Zeitumstellung vor. Allerdings schrieb sie dabei im Wesentlichen lediglich davon, dass alle EU-Mitgliedsstaaten nicht mehr saisonal die Uhr umstellen, aber nicht, welche Zeitregelung danach EU-weit gelten soll. Diesen Ball warf die EU-Kommission dem EU-Rat zu, wie sie es selbst gegenüber heise online ausdrückte. Schließlich könnten die Mitgliedsländer am besten selbst entscheiden, ob sie Sommer- oder Winterzeit dauerhaft beibehalten wollen. Gleichzeitig solle es aber nicht zu einem Flickenteppich kommen.

Im EU-Rat wurde zuletzt im Dezember 2019 über das Thema Zeitumstellung gesprochen, seitdem hat sich dort nichts mehr getan. Möglicherweise nimmt Schweden, das als nächstes Land ab dem 1. Januar 2023 dem Europäischen Rat vorsitzt, das Thema in sein Arbeitsprogramm auf. Dort hat aber gerade erst die Regierung gewechselt, deshalb wohl bekam heise online von dort noch keine Stellungnahme zu dem Thema. Im März 2022 hieß es aus Schweden, die Regierung habe noch keine Entscheidung darüber getroffen, ob die Zeitumstellung abgeschafft werden, und falls ja, welche Zeit dann zur Normalzeit werden sollte.

Schweden hatte 1980 die Sommerzeit eingeführt, um sich Dänemark anzugleichen, das wiederum Deutschland damit folgen wollte, die Uhr umzustellen. So wollte Schweden mögliche Probleme mit den Verkehrsverbindungen zum südlichen Nachbarn über den Öresund vermeiden. Die damals neuen und schnelleren Verkehrsverbindungen zwischen den Ländern durch die Eisenbahn, ließen es auch schon im 19. Jahrhundert notwendig erscheinen, überhaupt Standardzeiten und größere Zeitzonen einzuführen. Bis dahin konnte in Deutschland die Zeit zwischen zwei benachbarten Orten um Minuten voneinander abweichen, da große Städte ihre Ortszeit selbst nach dem Sonnenstand um Mittag festlegten. So gab es in Deutschland mehr als 60 Zeitzonen, die die insbesondere die Eisenbahn vor Probleme stellte. Aus der Zeit Ende des 19. Jahrhunderts, als im Deutschen Reich die MEZ eingeführt wurde, stammt übrigens die Vorschrift, nach der jeder Eisenbahner und insbesondere jeder Lokführer eine genau gehende Uhr mit sich zu führen hat. Sie gilt noch heute.

Ein Gutachten der schwedischen Aufsichtsbehörde Statskontoret zu den Auswirkungen der Zeitumstellung stellte keine eindeutigen Effekte zum Energieverbrauch fest. Eine Auswertung des schwedischen und norwegischen Strommarkts in den Jahren 2003 bis 2009 habe gezeigt, dass schwedische Haushalte in der Sommerzeit 1 Prozent weniger Strom verbrauchen, jährlich insgesamt etwa 175 MWh. Die derzeitige Zeitumstellung habe negative Effekte für bestimmte Risikogruppen und positive, die sich auf die breite Bevölkerung verteilen. Es sei schwierig, beide gegeneinander abzuwägen, heißt es zusammenfassend in dem Gutachten. Mit Einführung der Sommerzeit hörbare Klagen aus der Landwirtschaft – unter anderem wegen verschobener Melk- und Fütterungszeiten – hätten dank Automatisierung solcher Vorgänge nachgelassen.

Abgesehen von der saisonalen Zeitumstellung gibt es in Europa aber noch andere Überlegungen zur Zeit, vor allem in Spanien. Das Land liegt in der Zone der Mitteleuropäische Zeit (MEZ, UTC + 1 h), die sich von dort im Westen bis nach Polen im Osten zieht. Dabei wird die MEZ durch den 15. Längengrad östlich des Nullmeridians durch Greenwich definiert, die Zeitzone umfasst einen geographischen Bereich von +/- 7,5 Grad um den 15. Längengrad. Dieser geht exakt durch Görlitz, der östlichsten Stadt Deutschlands. Somit sind Deutschland im Westen und Polen im Osten die Länder, in denen die gesetzliche Zeit genau im Bereich der MEZ liegt. Dazu kommen in Europa Schweden im Norden sowie unter anderem Tschechien, Österreich, Ungarn und Italien im Süden. Die Länder weiter westlich, Benelux und Frankreich, liegen schon im Bereich der WEZ, in der das Vereinte Königreich, Irland, Portugal und Island liegen.

Die europäischen Zeitzonen (blasse Hintergrundfarben) basieren auf dem jeweiligen Sonnenstand. Die soziale Zeit vieler Länder (kräftige Farben) passt allerdings schon in der Winterzeit (links) nicht dazu. In der Sommerzeit (Mitte) ist die Diskrepanz noch stärker. Die Karte rechts zeigt den Vorschlag des Schlafforschers Till Roenneberg: Die chronobiologisch passende Einteilung in Zeitzonen wäre durch die Ländergrenzen recht genau vorgegeben.

(Bild: Prof. Dr. Till Roenneberg)

Spaniens Mittelmeerküste liegt nur unweit westlich vom Greenwich-Meridian, der durch London geht und die GMT beziehungsweise WEZ markiert. In Vigo in Galicien gilt die gleiche Zeit wie in der polnischen Hauptstadt Warschau, die 3200 Kilometer voneinander entfernt sind. In der portugiesischen Stadt Porto hingegen, die 150 Kilometer fast genau südlich von Vigo entfernt liegt, gilt die WEZ.

Benelux, Frankreich und Spanien haben gewissermaßen jetzt schon so etwas wie eine dauerhafte Sommerzeit, die durch die Zeitumstellung im März noch verschärft wird. Spanien hatte während der Franco-Diktatur 1940 die Sommerzeit eingeführt, erklärt der spanische Ökonom und Verkehrsexperte José Enrique Villarino. Anders als eigentlich vorgesehen sei die Uhr dort aber nicht wieder im Herbst zurückgestellt worden, die Sommerzeit wurde zur Normalzeit, Spanien gehörte zur MEZ. 1941 passten sich Großbritannien und Frankreich an die MEZ an; Großbritannien stellte die Uhr nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zurück, Frankreich und Spanien nicht.

Es dauerte 72 Jahre, bis das spanische Parlament einen Unterausschuss für die Rationalisierung von Zeitplänen installierte, der wiederum zu untersuchen empfahl, wie sich ein Anschluss Spaniens an die WEZ auswirken würden. Seit 2019 liegt der spanischen Regierung eine Studie vor, in der die Comisión Nacional para la Racionalización de los Horarios Españoles empfiehlt, sich wenigstens für die Abschaffung der Zeitumstellung einzusetzen. Darauf hat die Regierung nicht reagiert, vielmehr hat sie die Termine für die Sommerzeiten von 2022 bis 2026 schon veröffentlicht. Ein Grund für Spanien, gewissermaßen in der falschen Zeitzone zu bleiben und auch die Sommerzeit beizubehalten, dürfte sein, dass der Tourismus in dem Land eine gewichtige Rolle spielt und viele Menschen im Urlaub in der Lage sind und dazu neigen, später als im Alltag aufzustehen.

In Sachen Zeitumstellung sind die USA Europa voraus. In diesem Jahr hat der US-Senat ohne Gegenstimme dafür votiert, die jährliche saisonale Zeitumstellung abzuschaffen und komplett auf die – bis jetzt so genannte – Sommerzeit umzustellen. Der "Sunshine Protection Act of 2021" liegt momentan dem Repräsentantenhaus und dort einem Unterausschuss des Wirtschafts- und Energieausschusses vor. Falls das Repräsentantenhaus wie der Senat stimmen sollte, würde damit die "Sommerzeit" als Unterscheidungsmerkmal zur Normalzeit abgeschafft, denn dann würde sie ja zur Normalzeit.

Dann würde in den USA eine Idee zu Dauerinstitution, die Ende des 18. Jahrhunderts Benjamin Franklin in die Welt gesetzt hatte, einer der Gründerväter des Landes. Der findige Mann rechnete im Journal de Paris vor, wie viel Wachs und Talg eine Zeitumstellung vom 20. März bis 20. September eingespart würden, wenn die Pariser erst später am Tag ihre Kerzen anzündeten. Auch ihm war es also schon darum gegangen, Ressourcen zu schonen. Allerdings meinte Franklin seinen Vorschlag nicht ganz ernst, anders als der neuseeländische Entomologie George Hudson, dem die Idee der Zeitumstellung oft zugeschrieben wird. Wäre es nach ihm gegangen, würden wir allerdings die Uhr im März um zwei Stunden vorstellen.

(anw)