Missing Link: Weltuntergang war schon - SF kann mehr als die Zukunft vorhersagen
Seite 3: Gründe und Ursachen in bestürzender Fülle
Gemeinsam ist allen vier Formen der inter- und extrapolativen Ergänzung unvollständiger Erfahrungsmuster (Zukunft, verborgene Gegenwart, verborgene Geschichte und Alternativgeschichte) ein Zugang zur Welt, der diese Welt als einen Mechanismus mit fixen und beweglichen Teilen betrachtet, mit Invarianten und Variablen. Die fixen Momente sind dabei so etwas wie die Naturgesetze und die Naturkonstanten in der Physik, oder auch etwas wie das Wertgesetz im dialektischen und historischen Materialismus, die beweglichen Momente sind dagegen etwas wie das wissenschaftliche erkenntnisleitende Interesse oder der Marxsche „subjektive Faktor“.
Der Abschied von der „first SF“ mit ihren wie auf Perlenschnüren aufgereihten Ereignissen, die eine Folge von Ursachen und Wirkungen sein soll, und der Übergang zu multiperspektivischen Strukturen wie in Gibsons „Peripheral“ (und der noch interessanteren Fortsetzung „Agency“ 2020) ist durch historische Erschütterungen mitverursacht – die beiden Weltkriege etwa oder die Hegemonialkämpfe nach dem Zusammenbruch der Staaten des Warschauer Vertrags. Die spekulativen Künste haben gelernt, was die ganze Menschheit seit 1914 lernen musste: eine Reihe harter Lektionen in „ungleichmäßiger Entwicklung“. Spätestens in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts war dem Bewusstsein von Milliarden Menschen das Auseinanderfallen von historischer Logik (also das, womit man Geschichte erklärt) einerseits und historischer Wirklichkeit (also „wie es war“) andererseits erkennbar geworden.
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Die Logik setzt die notwendige Bedingung eines Ereignisses vor die hinreichende („erst musst du ein Mensch sein, bevor du ein glücklicher Mensch sein kannst“), die Chronologie aber hält sich daran nicht durchgängig – will man zum Beispiel im Lotto gewinnen, so ist zwar das Abgeben des ausgefüllten Lottoscheins notwendig und das Angekreuzthaben der korrekten Zahlen hinreichend, in der wirklichen Reihenfolge aber kreuzt man die Ziffern erst an und gibt den Wisch dann ab. Darüber hinaus kann ein Ereignis nicht nur mit mehreren möglichen Folgen, sondern auch mit mehreren Ursachen verknüpft sein: Du hast einen Vater, aber zwei Großväter, vier Urgroßväter und so fort… die Irrlehre, die dergleichen bestreitet, heißt „Reduktionismus“, sie bildet sich ein, auch die komplizierteste Lage ließe sich auf einfache Voraussetzungen runterrechnen.
Das ist die verbohrte Übertreibung der in der Erkenntnisarbeit manchmal angezeigten Verfahrensweise, sich unter mehreren Voraussetzungen eines Sachverhaltes nur für ganz bestimmte zu interessieren, deren Kenntnis den auf bestimmte Zwecke gerichteten Eingriff in Kausalketten begünstigt. Das hat natürlich seinen Platz in Wissenschaft und Technik, fällt aber nicht, wie der Reduktionismus wähnt, insgesamt mit beiden zusammen.
Von der SF des Schicksals zum Schicksal der SF
Der Untergang der „first SF“ war etwas wie ein Weltuntergang fürs Genre, er hat sich vor allem in den großen Abgesängen an den breiten und im Genre lange dominanten Erzählstil „Weltraumoper“ in den 70er-Jahren abgespielt. Bis dahin hatte SF die Welt als ein Puzzle betrachtet, dessen Teile irgendein Urknall irgendwann mal auseinandergesprengt haben musste, damit das Genre sie zu seinen Geschichten zusammensetzen konnte. Das Erstaunliche an dem speziellen Weltuntergang, der im Zerfall der „first SF“ bestand, ist wohl, dass die SF als eigenständige Unterart der Phantastik ihn überlebt hat und dabei zu einem neuen Weltbild fand – der Kosmos ist für die SF seither ein Zahlschloss, an dem viele Finger fummeln, nicht nur (aber auch) die der SF, sondern viele politische, wirtschaftliche, soziale, wissenschaftlich-technische.
Es gibt in der SF von heute einen Phantomschmerz über den Verlust der „first SF“, der in chiffrierter Form den Figuren aufgebürdet wird: In „Devs“ ist es die kleine Tochter des von Nick Offerman gespielten Computerkonstrukteurs Forest, die für das „im Gestern verschwundene bessere Morgen“ steht, in Gavin Rotherys Film „Archive“ ist es die verstorbene Liebste des von Theo James dargestellten Forschers George Almore. Und in Seth Larneys „2067“ lebt der Plot davon, dass ein Signal aus der Zukunft von einer Erholung der Biosphäre nach gewaltigen Umweltkataklysmen zeugen könnte, vielleicht aber auch das Abhandenkommen der Menschheit bedeutet, wie wir sie kennen.
In „Star Trek: Picard“ figuriert das Motiv der verlorenen Zukunft in Gestalt der Trauer um den einer Krankheit erliegenden Helden, den dann aber eine Zivilisation synthetischer Menschen (also im übertragenen Sinn: „unsere Kinder“) in einem künstlichen Leib wiederbelebt, der freilich, damit der Gerettete nicht allzu befremdliche Erfahrungen darin machen muss, fast alle Macken (Alterung, Gebrechen…) des verstorbenen natürlichen Körpers reproduziert (mit der bequemen Ausnahme der tödlichen Krankheit, an der jener eingegangen ist).
Schöner kann man das Verhältnis zwischen der unplausibel gewordenen Phantasiemechanik der „first SF“ und dem, was SF heute leistet, wohl nicht erzählen. Die Moral dieses Erzählens ist klar: Wir haben, da wir, so schwierig die Zeiten sind, immer noch denken, erzählen, spekulieren und spinnen können, nicht das Recht, die Bemühungen unserer Vorfahren um die argumentierende Phantastik und die phantastische Argumentation der SF durch Untätigkeit zum Absterben zu verurteilen.
(mho)