Missing Link: Weltuntergang war schon - SF kann mehr als die Zukunft vorhersagen
Science Fiction hat auch Debatten in der Pandemie vorweggenommen. Sie kann aber viel mehr – zumindest seit die "erste Science Fiction" zu Grabe getragen wurde.
Im Frühjahr 2020, als die SARS-CoV-2-Pandemie noch niemandem erzählt hatte, dass sie überhaupt nicht mehr aufhören will, berichtete ich einem Journalistenkollegen von einem Science-Fiction-Bühnenprojekt, mit dem ich damals befasst war. Inzwischen sitzt dieses Projekt mit langem Gesicht auf einer noch längeren Bank, neben tausend anderen Vorhaben. Damals aber stand ich vor der Frage, wie man eigentlich von einem völlig verwandelten Leben erzählt. Die zentrale dramaturgische Idee bestand in einer Mischung von Szenen aus der verwandelten Welt einerseits mit knappen Rückblickmomenten andererseits. Umrisshaft sollte ein Katastrophengeschehen erkennbar werden, das die Verwandlung des Lebens bewirkt hatte.
Dietmar Dath, Schriftsteller (unter anderem „Die Abschaffung der Arten“, 2008, „Neptunation“, 2019), Filmkritiker und Redakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist auch Autor der fast tausendseitigen historischen und theoretischen Untersuchung der Science Fiction „Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine“ (2019).
Große Ideen und zersplitterte Ordnungen
Der Kollege fand das reizvoll: „Es klingt wie das Gegenteil von dem, was wir im Journalismus machen – du nimmst dir nicht tausend kleine Nachrichten vor, in China ein Virus, in Amerika eine Demokratiekrise, auf der ganzen Welt wirtschaftliche Lieferketten, und versuchst im Laufe der Berichterstattung einen Sinn oder ein Muster oder einen Trend zu erkennen, sondern du hast umgekehrt eine einzelne, große, knallige Idee, vielleicht: Das WWW bricht zusammen, oder: Ein Meteorit schlägt ein. Und dann malst du dir die Konsequenzen aus.“ Ich konnte das nicht ganz bestätigen: „So war’s in der Science Fiction und in ihren Vorformen früher, sagen wir, im späten 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Man nimmt sich die Riesenidee, an der entlang man die Weltgeschichte in die Spekulation hinein verlängert, also Außerirdische oder neue Waffen, als Keim und Kristall der Story, im festen Vertrauen darauf, dass das Leben, wenn es solche Sensationen enthält, die alles ändern, sich überhaupt erzählen lässt.
Dieses Verfahren nennt John Clute, einer der besten Science-Fiction-Kenner, Historiker und Kritiker des Genres, gern ‚first SF‘, die ‚erste Science Fiction‘. Aber inzwischen geht’s in der Science Fiction eher um das Problem, ob das überhaupt so geht, ob die Verwandlungen, die wir erleben, noch in Geschichten passen. William Gibson, der Mann, der das Wort ‚Cyberspace‘ erfunden hat, schreibt zum Beispiel in seinem Roman ‚Peripheral‘ von einer Zukunft, die er von unserer Gegenwart nicht durch einen einzeln, großen, klaren Einschnitt trennt – er sagt, es gab zwar den ‚Jackpot‘, eine Art Riss in der Zivilisationsgeschichte, aber dieser große Krach sei eben kein Kometeneinschlag gewesen, nichts, was man wirklich als Atomkrieg bezeichnen konnte, sondern jede Menge total verschiedenes Zeug, das mehr oder weniger direkt mit der großräumigen Veränderung der irdischen Biosphäre zusammenhing: Dürre, Wasserknappheit, Missernten, Bienensterben, Wegbrechen anderer Schlüsselarten, Antibiotika noch unwirksamer als jetzt schon, und Krankheiten, die nie die eine große Pandemie waren, aber verbreitet genug für eine historische Tragweite.
SF spinnt heute nicht mehr einfach Ideen aus, bei denen es keine weitere Regel gibt als ‚eine Ursache, viele Wirkungen‘, sondern muss sich eher anstrengen, im Gewirr der Optionen, die Welt zu deuten, Ursachen und Wirkungen dingfest zu machen.“ Der Kollege stutzte: „Aber SF sagt doch immer noch die Zukunft voraus, nicht?“