Mut zur Verschwendung

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Historisch betrachtet ist das keine Überraschung: Auch der große Eisenbahn-Boom des 19. Jahrhunderts war getrieben von massiv überhöhten Gewinnerwartungen. Schon damals waren die Folge ruinöse "burn rates", investiertes Kapital wurde mit nahezu absurder Geschwindigkeit "verbrannt". Als der Boom platzte, hinterließ er nicht nur Hunderte von bankrotten Investoren, sondern auch ein für damalige Verhältnisse überdimensioniertes Schienennetz. Die Frachtkosten fielen ins Bodenlose. Der Kaufmann Aaron Montgomery Ward erkannte seine Chance: Mit gerade mal 2400 Dollar Startkapital gründete er 1872 in Chicago den ersten Versandhandel der Welt, der mit einem Katalog für seine Produkte warb und eine Geld-zurück-Garantie bot. "Das war eine extrem disruptive Innovation", sagt Janeway. "Um 1880 gab es in den Vereinigten Staaten noch in nahezu jeder Stadt einen Schuhmacher. 1920, nur 40 Jahre später, wurden beinahe alle Schuhe in den USA in Brockton, Massachusetts hergestellt."

Effiziente, kühl rechnende Investoren hätten sich wohl niemals an solch ein abenteuerliches Unterfangen gewagt. "Wer Ressourcen nach der neoklassischen Wirtschaftslehre effizient verwendet, darf nur dort investieren, wo er mit der höchsten Wahrscheinlichkeit auch Gewinne erzielt", sagt Janeway. "Die Investitionen mit der größten Unsicherheit, die wahrscheinlich auch die innovativsten sind, werden Sie dagegen ignorieren."

Dass der erste PC im Forschungslabor des privaten Unternehmens Xerox gebaut wurde, widerlegt diese These nicht. Denn der "Alto", der Urvater aller heutigen PCs, entstand ge-gen den Widerstand des Xerox-Managements. 1970, auf dem Höhepunkt ihres wirtschaftlichen Erfolgs, entschloss sich die Xerox-Geschäftsführung, in das junge Feld der betrieblichen Datenverarbeitung einzusteigen. Damals waren Computer mächtige Zentralrechner, die 100.000 Dollar oder mehr kosteten und deren Rechenkapazität die Nutzer sich teilen mussten.

Auf sie setzte auch Xerox. Unter den jungen Wissenschaftlern, die Xerox zu diesem Zweck anwarb, befand sich auch Alan Kay, ein "ehemaliger Jazzgitarrist, ein zerknitterter, exzentrischer Informatiker und Schüler von Seymour Papert, dem Erfinder der Logo-Programmiersprache für Kinder", schreibt Alec Foege in seinem Buch "The Tinkerers". "Kay war ein neuer Typ von Wissenschaftler, der nicht in das Klischee des schüchternen, bebrillten Nerds im Laborkittel passte. Es trug lange, lockige Haare, einen Schnauzbart und verpasste der Computerei mit seinem schneidigen Auftreten eine bis dahin nicht gekannte Coolness."

Vor allem aber wollte er keine teuren Zahlenfresser bauen – er träumte vom Computer als Kommunikationsgerät, als eine Art "Fahrrad für den Geist". Beim Xerox-Management hatte Kay damit jedoch kein Glück. All seine diesbezüglichen Vorschläge wurden "von den Anzugträgern mit kalter Verachtung zurückgewiesen". Als jedoch Jerry Elkins, der für das Budget verantwortliche Manager, im Herbst 1972 für einige Monate außer Haus war, nutze Kay seine Chance. Laut Foege überredete er befreundete Techniker, an seiner Lieblingsidee zu arbeiten. Im Forschungszentrum war diese informelle Arbeitsorganisation nicht unüblich und unter dem Namen "Tom Sawyering" bekannt.

Vier Monate später war der erste echte Personal Computer fertig, der "Alto". Die Maschine war "ihrer Zeit so weit voraus, dass sie noch ein Jahrzehnt später alle verblüfft hat, die mit ihr in Berührung kamen" – so erzählt es John Markoff in seiner Geschichte der Computerkultur "What the Dormouse Said". "Zwei Drittel des Arbeitsspeichers beispielsweise wurden nur dafür gebraucht, das Display anzusteuern. Eine Idee, die bislang undenkbar war. Der Alto stellte die gesamte Computergeschichte auf den Kopf", schreibt Markoff.

Aus diesem rebellischen Hippiegeist erwuchs die berühmte Start-up-Kultur des Silicon Valley. Nun aber ist sie dabei, ihre eigenen Kinder zu fressen. "Scheiß auf die Start-up-Kultur", schreibt der israelische Software-Entwickler Shem Magnezi in einem wütend-ironischen Text auf der Online-Plattform Medium: "Scheiß auf die verrückten Arbeitszeiten. Niemand interessiert sich einen Dreck dafür, dass Elon Musk 100 Stunden pro Woche arbeitet und Marissa Mayer neben ihrer 130-Stunden-Woche noch ihr Baby stillen kann... Scheiß auf euch Produktivitäts-Freaks. Ihr wollt, dass ich mich schlecht fühle, weil ich erst um sechs Uhr morgens aufgewacht bin. Mist, du wachst um 4.30 Uhr auf, meditierst für 30 Minuten, reflektierst deine Quartalsziele für eine weitere halbe Stunde und schlürfst dabei einen leckeren Soylent-Shake. Scheiß auf eure Noise-Cancelling-Kopfhörer und Pomodoro-Timer, eure To-do-Listen, Apps, Notizzettel und Gott weiß, was ihr noch benutzt... Am meisten hasse ich dich, Start-up-Welt, aber dafür, dass du mich zu einem von euch gemacht hast."

So schwer sich etablierte Firmen mit der Start-up-Kultur tun – mit den Tricks der "Produktivitäts-Freaks" können sie sich augenscheinlich rasch anfreunden. Projekte wie die "Social Badges" des US-Start-ups Humanyze zeugen davon. Die kleinen tragbaren Sensorplattformen messen, wer sich wann und wo im Büro aufhält, wer mit wem spricht und wie hoch dabei Emotion und Stresslevel kommen. Obwohl die Badges keinerlei Gesprächsinhalte aufzeichnen, versprechen die Auswertungen erheblich effizientere Teams und eine "völlig neue Art, über die Organisation des Unternehmens nachzudenken". Ein gutes Dutzend führender US-Firmen hat das Unternehmen bereits als Kunden gewonnen und dabei seinen Angaben zufolge die Daten von 10000 Angestellten analysiert.

Die Entwicklung könnte ein Strohfeuer sein, genährt aus einer völlig überschätzten Bedeutung dieser Art von Daten. Momentan aber sieht es eher nach dem Gegenteil aus, wie der Erfolg des Unternehmens Global Corporate Challenge (GCC) zeigt. Es veranstaltet "Fitness Challenges" für Betriebe. Mehr als 350000 Menschen aus 185 Ländern haben 2015 nach Angaben von GCC daran teilgenommen. Der Hype erfasst nicht nur Konzerne wie Siemens, die Deutsche Bank oder IBM, sondern auch mehr und mehr mittelständische Unternehmen. Teams tun sich zusammen, schnallen sich Schrittzähler um, messen täglich die gelaufenen Meter, das Gewicht oder den Blutdruck, die Schlafqualität oder den Cholesterinspiegel. Das Team, das seine Gesundheitswerte während des Wettbewerbs am meisten steigert, gewinnt einen virtuellen Pokal – aber auch Prämienrückzahlungen von der Krankenkasse oder Gutscheine für Wellness.

"Glaubt man den Protagonisten der Digitalisierung, dann brauchen wir die Maschinen", erklärt der Soziologe Stefan Selke, der das Phänomen der Selbstvermessung wissenschaftlich untersucht. Denn Menschen haben angeblich "blinde Flecken" in ihrer Wahrnehmung, sie sind subjektiv und fehlbar. Maschinen dagegen sind unbestechlich und objektiv – und können uns angeblich dabei helfen, bessere Menschen zu werden. Es geht dabei "nicht nur um die Optimierung" der Gesundheit, kritisiert Selke. "Es geht letztlich um eine Kontrollillusion."

Denn unter den Menschen mache sich zunehmend das Gefühl breit, die Kontrolle über ihr tägliches Leben zu verlieren: Klimawandel, wachsende soziale Ungleichheit, Krieg, Terrorismus, Migration, globale Konkurrenz. "Gleichzeitig erleben wir einen Vertrauensverlust in die Politik und in die Institutionen", sagt Selke. "Das bewirkt eine starke Sehnsucht nach Vereinfachung und Beherrschbarkeit", sagt Selke. Was als scheinbar beherrschbar übrig bleibt, ist der eigene Körper.

So individuell diese Entscheidung auf den ersten Blick scheinen mag, hat sie doch gravierende Rückwirkungen auf die Gesellschaft. Dicke müssen abnehmen, Büromenschen sich bewegen, Manager Achtsamkeit üben. "Wir haben überall diese Aktivierungslogik, überall Sachzwänge und Wettbewerb", sagt Selke. Das bleibt nicht ohne Folgen: Selke sieht eine "neue Verdachtskultur" heraufziehen. Mehr noch: Die Benachteiligung von Menschen erhält einen rationalen und objektiven Deckmantel. "In dem Moment, in dem diese Datenerfassung nicht mehr nur freiwillig geschieht, sondern durch Konformitätsdruck erzwungen wird, kehrt sich die Beweislast um", sagt Selke und verweist auf die Oral Roberts University (ORU) in Tulsa, Oklahoma.

Das christliche College machte 2015 Schlagzeilen, weil es als erste Universität in den USA seine Studierenden verpflichtet, Fitnesstracker zu tragen, deren Daten auch für die Benotung verwendet werden.