Mut zur Verschwendung

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Die nächste Grenze wird Selke zufolge dann überschritten, wenn die gesammelten Daten für automatisierte Entscheidungen verwendet werden. "Es gibt in Hongkong bereits jetzt eine Firma, die eine KI in den Rang eines Vorstandsmitglieds erhoben hat." Ob das ein reiner PR-Gag ist, geht aus der entsprechenden Presseerklärung von Deep Knowledge Ventures naturgemäß nicht hervor. Ganz unwahrscheinlich ist die Geschichte aber nicht. Das Unternehmen hat unter anderem in die Bekämpfung von Krebs mithilfe der KI investiert. Zu den Gründern zählt der moldawische Millionär Dmitry Kaminskiy, ein bekennender Transhumanist, der einen Preis von einer Million Dollar für den ersten Menschen ausgelobt hat, der das Alter von 123 Jahren erreicht.

"Die Entfesselung der anarchischen Märkte hat zum Aufstieg eines kennzahlengesteuerten neuen Taylorismus in Unternehmen geführt", bestätigt Leonhard Dobusch, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Innsbruck. Selbst Google, lange der Inbegriff für gewagte Projekte, kann sich dem nicht mehr entziehen. Die Konzernmutter Alphabet schränkt den finanziellen Spielraum von riskanten Moonshot-Projekten ein, indem sie auf absehbare Zeit nicht profitable Projekte in eigene Unternehmenstöchter auslagern will. Google Fiber ist das schon passiert: Das ehrgeizige Glasfaserprojekt des Konzerns zog daraufhin die Notbremse und dampfte seine Pläne erheblich ein. Ähnliches könnte schon bald mit den selbstfahrenden Autos, Ballons und Flugdrohnen geschehen. Dobusch hat lange erforscht, wie sich Kreativität in Unternehmen organisieren lässt. Heute ist er überzeugt: "Wer sein Unternehmen mithilfe von Big Data bis ins Allerletzte durchleuchten und darauf aufbauend steuern will, bekommt ein unkreatives Unternehmen."

Natürlich liegt der Situation ein Dilemma zugrunde: Zu viel Effizienz lähmt, aber Überfluss ist auch kein Garant für Innovation. Die große Kunst ist die richtige Balance. Wir brauchen eine neue Sichtweise auf die Digitalisierung. "Die Wirtschaft untersucht sehr vieles erst einmal unter dem Aspekt: Wie können wir damit Geld sparen? Wie können wir Personalkosten reduzieren?", sagt Ulrich Weinberg, Leiter der School of Design Thinking am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam. Viel wichtiger wäre allerdings: "Welche Möglichkeiten bietet uns die Vernetzung? Ich habe Digitalisierung nie ausschließlich unter dem Aspekt der Einsparung gesehen, sondern immer auch als eine Entwicklung, die viele Chancen und neue Möglichkeiten bietet."

Genau dieses Potenzial will Weinberg freilegen. Sein Ansatz ist eine radikale Fokussierung auf Teamarbeit – weg von Konkurrenz und optimierter Performance des Einzelnen. "Wir haben versucht, alles aus den Arbeitsumgebungen zu entfernen, das Ich-Qualitäten fördert", sagt Weinberg. "Flipcharts zum Beispiel sind ideale Werkzeuge, mit denen ein Einzelner versucht, einer Gruppe zu erklären, was er sich so gedacht hat. Versuchen Sie daran mal in einer Gruppe gemeinsam an einem Projekt zu arbeiten." Also wurden Flipcharts verbannt, genau wie Besprechungsecken und Konferenztische. Stattdessen stehen die kleinen Gruppen an "Kollaborationsmöbeln", die an OP-Tische erinnern.

"Sie arbeiten im Stehen, auf engem Raum, multidisziplinär und gemeinsam", sagt Weinberg. Die Tische stehen auf Rollen und lassen sich ganz schnell umgruppieren. "Zudem schaffen wir bewusst einen geschützten Raum des Scheiterns." Keine Incentives, keine Strafpunkte, alles ist möglich und nichts wird bewertet. "Dadurch setzen wir Potenziale frei, die man normalerweise in einem bewerteten Kontext nicht freisetzen würde." Selbst äußerst komplexe Probleme lassen sich so schrittweise lösen. "Es braucht eine Weile, aber dann gehen die Köpfe und die Herzen auf", schwärmt Weinberg.

Hoffentlich behält er recht. "Unsere Gesellschaft steht vor existenziellen Problemen", mahnt Dirk Helbing von der ETH Zürich. "Die Unfähigkeit, den Klimawandel zu begrenzen, politische Instabilitäten, Massenmigration und globaler Terror sind nur Symptome eines grundsätzlicheren Problems: Dass wir nicht nachhaltig wirtschaften", sagt Helbing. "Die Lösung dieser Probleme erfordert ein riesiges Ausmaß an Innovation." (wst)