Myst wird 30: Das Grafik-Adventure, das ein Genre zerstörte​ ​

Seite 2: Revolutionär? Eher nicht.

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In Retrospektiven wird "Myst" gerne als technisch revolutionär bezeichnet. Das stimmt allerdings nur teilweise. Die Mac-Urversion bestand "nur" aus einem gigantischen Stapel HyperCard-Karten, die Grafiken und mitunter eingebettete QuickTime-Videos wiedergaben. Eine richtige Game-Engine wurde erst für die Windows-Version entwickelt. Dem Vernehmen nach waren an der Entwicklung der Mohawk-Engine mehr Personen beteiligt als am eigentlichen Spiel.

Von der Grafik her war "Myst" sogar ein leichter Rückschritt gegenüber dem sechs Monate früher erschienenen "The 7th Guest": Zwar bot keines der Spiele die Möglichkeit zur freien Bewegung, aber The 7th Guest punktete bei der Videoqualität und mit fließenden, vorgerenderten Übergängen zwischen den Szenen. Bei "Myst" bewegen sich Spieler hingegen ruckweise von einer statischen Ansicht zur nächsten; Richtungswechsel sorgen schnell für Verwirrung.

Warum wurde "Myst" mit über 6 Millionen verkauften Exemplaren dennoch zum Verkaufsschlager? In einem Wort: Atmosphäre. Nach heutigen Maßstäben ist die Grafik geradezu lachhaft primitiv, doch mit damaligen Augen sah "Myst" glänzend aus: malerische Szenerie, stimmungsvolles Licht, konsistente Farbgebung, natürlich erscheinende Objekte. Insgesamt besteht das Spiel aus ca. 2500 Einzelbildern, alle zeitraubend in Strata 3D auf Macintosh Quadra-Rechnern gerendert. Unterlegt wurde das Ganze mit passenden Naturgeräuschen und einem minimalistischen, aber extrem effektiven Soundtrack. Wären die Puzzles nicht so knackig, könnte "Myst" als meditative Erfahrung durchgehen.

Wenn sich etwas so gut verkauft wie "Myst", will die Konkurrenz schnell auch eine Scheibe vom Kuchen abhaben. So kamen in den nächsten Jahren zahlreiche "Myst"-Klone auf den Markt; "traditionelle" 2D-Adventure-Spiele aus der LucasArts- und Sierra-Schule wurden hingegen immer rarer.

Wie es bei Klonen häufig der Fall ist, waren die meisten "Myst"-Nachahmer von minderwertiger Qualität: Mal waren die Puzzles schlecht, mal fehlte die Atmosphäre, mal versagte die Story. Das Ergebnis: im besten Fall langweilig. "Amerzone", "Lighthouse", "Pyst" (aber ja doch) ... alles Titel, die sich besser als silberne Untersetzer eigneten als zur Unterhaltung.

Nicht einmal den "Myst"-Entwicklern gelang es, an ihren Mega-Erfolg anzuknüpfen: "Riven – The Sequel to Myst" punktet zwar in Sachen Story und Atmosphäre, die Puzzles sind jedoch entweder trivial oder knüppelhart. Zudem erschien Riven auf fünf CD-ROMs, zwischen denen Spieler immer mal wieder wechseln mussten.