Myst wird 30: Das Grafik-Adventure, das ein Genre zerstörte​ ​

Seite 3: "Myst" heute spielen

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In den vergangenen 30 Jahren sind vier "Myst"-Remakes erschienen: Die 2000 erschienene "Masterpiece Edition" bietet eine höhere Farbtiefe und grisselt deshalb nicht so wie das 8-Bit-Original. Im selben Jahr erschien "RealMyst", das alle Spielelemente in eine First-Person-Shooter-Engine verpflanzte. 2014 erschien ein Remake des 3D-Remakes, die "Real Myst Masterpiece Edition", die mit der Unity-Engine lief. Seit 2020 gibt es "Myst VR" für die Oculus-Quest-Brille; neun Monate später folgte eine Windows-Version, "Myst (2021)". Die beiden jüngsten Remakes nutzen die Unreal-Engine.

Die "Masterpiece Editions" von "Myst" und Real Myst" sowie die jüngsten Remakes sind u.a. bei Steam und Gog.com verfügbar. "RealMyst" ist auch für die Nintendo Switch erhältlich; die 2021-Version von "Myst" wurde kürzlich auf iOS portiert.

Jetzt aber die wesentliche Frage: Lohnt es sich, heute noch Zeit in "Myst" zu stecken? Angesichts der vielen Geschmackssorten keine einfache Frage. Zur Beantwortung habe ich mir alle erhältlichen Versionen noch einmal angesehen und zwei davon bis zum Ende gespielt. Gern geschehen.

Abgesehen von der Farbtiefe handelt es sich bei "Myst Masterpiece Edition" um die Ur-Version des Spiels, mit vorgerenderten Bildern mit 640 × 480 Pixel Auflösung. Auf Full-HD-Displays lösen sich die Grafiken im Vollbild in hässlichen Pixelbrei auf, im Fenstermodus ist "Myst" eine ziemlich trostlose Briefmarke.

Lädt man die Masterpiece Edition in den Emulator ScummVM und spielt dort im Grafik-Karteireiter herum, wird die Sache etwas ansehnlicher, aber das Lesen der vielen Texte bleibt eine Zumutung. Am schwersten zu ertragen ist aber das Gameplay an sich.

Innerhalb weniger Minuten drängten sich beim Anspielen zahlreiche Fragen auf. Wie soll sich denn hier jemand zurechtfinden? Wenn ich nach rechts klicke, dreht sich die Ansicht mal um 30 Grad, mal um 90, mal um 180. Zur Erinnerung: Das Ur-"Myst" besteht wirklich nur aus einer Aneinanderreihung vorgerenderter Bilder und ist nach heutigem Maßstab eher ein unberechenbarer interaktiver Dia-Abend als ein Spiel. (Jüngere ersetzen hier bitte "Dia-Abend" durch "PowerPoint-Präsentation".)

Auf der Hauptinsel klappt die Orientierung noch halbwegs, zumal im Hauptmenü und auf der Spielebox eine Totale der Insel zu sehen sind. Anders in den zusätzlichen Welten, wo ich Ecken erst im dritten Anlauf fand, obwohl ich mich noch deutlich daran erinnerte, dass es sie irgendwo gibt.

Massiven Frust erzeugt auch die Unzuverlässigkeit der Steuerung. Mal entspricht ein Mausklick ein paar Schritten nach vorn, mal dreht sich ein Rad, mal dreht sich die Ansicht um die eigene Achse, alles ohne Vorwarnung.

Im Rahmen einer Retrospektive hat der Spiele-Journalist John Walker die Frage "Ist "Myst" immer noch eines der schlechtesten Spiele aller Zeiten?" mit einem wütenden "Ja" beantwortet, auf Basis der "Myst Masterpiece Edition". Das klingt nur so lange gemein, wie man sich nicht selbst in einem mit Bäumen überwucherten "Zeitalter" die Zähne an einem Puzzle ausbeißt, das eigentlich simpel ist, aber durch die Präsentation des Spiels zur grünen Hölle wird.

In Sachen Orientierung ist die "Real Myst Masterpiece Edition" ein deutlicher Fortschritt. Hier erforschen Spieler die Umgebung mit WASD-Tasten wie in einem Ego-Shooter, inklusive Sprint-Option. Masochisten können auch einen "Klassik-"Modus aktivieren, um gemächlich mit Klicks durch die 3D-Umgebung zu gleiten – nur halt mit fließenden Übergängen.

Das erste große Remake, "RealMyst", führte atmosphärische Tages- und Nachtzyklen ein.

(Bild: Cyan)

Beide Steuerungsmöglichkeiten haben auch Nachteile: Der WASD-Modus verdünnt die einzigartige Atmosphäre, weil er dazu verführt, im Schweinsgalopp durch die Welten zu rasen. Im Klassikmodus hoppelt die virtuelle Kamera immer wieder etwas über unsichtbare Schwellen, was auch irritiert.

"RealMyst" führt Wetter-Effekte sowie wunderschöne Sonnenuntergänge ein: Während des Streifzugs über die Insel werden die Schatten immer länger; irgendwann geht der Mond auf. Wer mitten im schönsten Gepuzzle plötzlich nur noch Schwarz sieht, knipst die Taschenlampe an (Hotkey "F", für Flashlight) oder beschleunigt in der PC-Version den Sonnenaufgang per Cheatcode ("CHEET" eintippen und dann mit F5 den Tagesablauf beschleunigen bzw. normalisieren).

Die beste Neuerung an "RealMyst" ist das Hint-System, das schrittweise zu Puzzle-Lösungen führt. Grundsätzlich sind alle Aufgabenstellungen identisch mit denen der Urfassung. "RealMyst" bietet jedoch ein Bonus-Zeitalter, das nach Abschluss der eigentlichen Aufgabe freigeschaltet wird und eine Brücke zur Sequel "Riven" schlägt.

Mitunter hakt es aber auch bei "RealMyst" am Spieldesign. So kommt es immer noch vor, dass alle Schritte richtig abgeschlossen wurden, um einen Aufzug in Bewegung zu setzen, der Schalter in der Aufzugskabine aber trotzdem nichts tut ... weil erst zwingend deren Tür per Hand zugeklappt werden muss! Dabei weist nichts darauf hin, dass nur ein winziger Schritt fehlt. Frust.

"Myst" VR" bzw. die PC-Version "Myst (2021)" ähneln "RealMyst" spieltechnisch stark. Die Grafik wurde abermals aufgehübscht; einige Bereiche sehen so opulent aus, wie viele Spielveteranen sie in der nostalgisch verklärten Erinnerung haben werden. Tag, Nacht und Regenstürme entfallen zwar, dafür hüpfen im Zeitalter mit den hochgewachsenen Bäumen kleine Frösche über die Pfade – niedlich anzusehen. Aus Performance-Gründen bietet die VR-Fassung etwas weniger Grafik-Pracht als die Non-VR-Fassung, dort wurden Details wie Grashalme mit einem Update nachgereicht.

Die Handlung von "Myst" beginnt mit einem Loch im Himmel ... ("Myst 2021")

(Bild: Cyan)

Die Steuerung wurde deutlich modernisiert. Dazu gehören unauffällige Verbesserungen wie der Umstand, dass zwei Buchseiten auf einmal transportiert werden können – die Vorgänger verlangen hierfür eine weitere lange Reise. Konnten Spieler in "RealMyst" noch an unsichtbaren Grenzen hängen bleiben, setzt "Myst" (2021) wesentlich sanftere Schranken. Einige Strecken wurden verkürzt, Puzzles geben besseres Audio-Feedback und die meisten Steuerungselemente wurden vereinfacht. Ärgernisse wie die störrischen Aufzügstüren bleiben unverständlicherweise erhalten.

Wer mit den älteren Versionen vertraut ist, kann zu Spielbeginn einen Zufallsmodus auswählen, der einige Puzzle-Lösungen neu auswürfelt. Komplettlösungen haben hier nur noch begrenzten Nutzen – sie verraten weiterhin, welche Schritte die Puzzles lösen, geben aber keine direkten Lösungen mehr. "Myst (2021)" enthält zwar Hinweise zur Steuerung, aber keine Puzzle-Hints. Auch fehlt aktuell das Bonus-"Zeitalter" Rime – dieses wird aber womöglich nachgereicht.

Das jüngste "Myst"-Remake ersetzt die echten Schauspieler der ursprünglichen Video-Sequenzen durch hässliche 3D-Modelle ("Myst 2021").

(Bild: Cyan)

Ein großer Unterschied gegenüber der Vorfahren ist, dass alle Video-Einblendungen durch 3D-Modelle ersetzt wurden. Das betrifft in erster Linie die "Myst"eriösen Männer in den Büchern der Bibliothek. Diese 3D-Figuren wirken jedoch sehr billig: Sie agieren mit unbeholfenen Bewegungen und abschreckender Mimik. Zwar bieten die Einstellungen inzwischen die Option zur Wiederherstellung der ursprünglichen Videos, an einigen Stellen kommen aber in jedem Fall die 3D-Modelle zum Einsatz, etwa bei der Endsequenz.