Opfer müssen gebracht werden

Seite 2: Die Mär von der Ju­gend­lek­tü­re

Inhaltsverzeichnis

Nach An­sicht Otto Li­li­en­thals Bru­der Gus­tav lös­te eine frü­he Ju­gend­lek­tü­re bei den Ge­schwis­tern die Be­geis­te­rung für die Flie­ge­rei aus. Rück­bli­ckend aus dem Jahr 1910 fass­te Gus­tav Li­li­en­thal die Ju­gend­lek­tü­re zu­sam­men: „Auch mein Bru­der Otto und ich ge­hör­ten zu de­nen, die als klei­ne Jun­gen schon die Feu­er­tau­fe der Be­geis­te­rung er­hal­ten hat­ten. Eine da­mals viel­ge­le­se­ne Ju­gend­schrift: Die Rei­sen des Gra­fen Zam­bec­ca­ry, ei­nes Luft­schif­fers, der bei sei­nen Bal­lon­fahr­ten schließ­lich sein Le­ben ver­lor, er­reg­te mäch­tig un­ser emp­fäng­li­ches Ge­müt. Na­men­tlich war es da­rin die an­schau­li­che Schil­de­rung und Be­leh­rung, die in der Art ei­ner Tier­fa­bel der Storch dem klei­nen Zaun­kö­nig gibt, die un­ser leb­haf­tes In­te­res­se er­reg­te. Der klei­ne Zaun­kö­nig trifft auf sei­nem Flu­ge den Storch und klagt über Er­mü­dung. Der groß­mü­ti­ge Storch for­dert ihn auf, auf sei­nen Rü­cken Platz zu neh­men. In der Un­ter­hal­tung die­ser bei­den er­klärt nun der Storch dem klei­nen Kö­nig, wie er so mü­he­los ohne Flü­gel­schlag sei­ne Krei­se zieht und dann in grö­ße­rer Höhe an­ge­langt in ge­ra­dem Strich ei­ner weit ent­fern­ten Wie­se zu­strebt. Die­se an­schau­li­che Schil­de­rung des Se­gel­flu­ges sag­te uns, die Mög­lich­keit müs­se vor­han­den sein, so ei­nen Se­gel­flug mit ein­fa­chen Mit­teln zu er­rei­chen.“

In kaum ei­ner Ab­hand­lung zu Otto Li­li­en­thal fehlt der Hin­weis auf dies frü­he Le­se­er­leb­nis. Da­bei wird still­schwei­gend an­ge­nom­men, dass der Text selbster­klä­rend sei: In jun­gen Jah­ren vom Flug­vi­rus in­fi­ziert, trach­te­te Otto Li­li­en­thal sein gan­zes Le­ben da­nach, die wis­sen­schaft­li­chen, hand­werk­li­chen und kör­per­li­chen Fer­tig­kei­ten zu er­ar­bei­ten, um den Traum vom Flie­gen zu ver­wirk­li­chen. All­er­dings: Die Ge­schich­te von der frü­hen Ju­gend­lek­tü­re ist eine Le­gen­de!

Gus­tavs Zu­sam­men­fas­sung der Ju­gend­schrift aus dem Jahr 1910 bes­teht aus zwei Tei­len. Zu­nächst wird der Pro­ta­go­nist vor­ge­stellt. Von Graf Zam­be­car­ri sind ins­ge­samt vier Flug­ver­su­che nach dem Prin­zip „leich­ter als Luft“ his­to­risch ver­brieft. Da­bei ver­un­glück­te er am 21. September 1812 in Bo­log­na töd­lich, als sein Bal­lon ei­nen Baum streif­te, der Bal­lon Feu­er fing und Zam­bec­ca­ri schwers­te Brand­ver­let­zun­gen er­litt.

Zambeccaris Ballon 1803/1804

(Bild: Falkenhorst a.a.O., S. 63)

Trotz in­ten­si­ver Re­cher­chen ließ sich eine Ju­gend­schrift „Die Rei­sen des Gra­fen Zam­bec­ca­ry“ nicht auf­spü­ren. Bei der Su­che stieß ich al­ler­dings auf eine an­de­re Quel­le über die Aben­teu­er des Gra­fen Zam­bec­ca­ri, die im 19. Jahr­hun­dert weit ver­brei­tet war, Au­gust von Kot­ze­bu­es „Er­in­ne­run­gen von ei­ner Rei­se von Lief­land nach Rom und Ne­a­pel". Von Kot­ze­bue (3. Mai 1761 - 23. März 1812) war ein im 19. Jahr­hun­dert viel ge­le­se­ner Au­tor. Er galt als seich­ter Viel­schrei­ber mit gro­ßer Brei­ten­wir­kung. Von der dritten Bal­lon­fahrt Zam­bec­ca­ris hat Kot­ze­bue ei­nen Be­richt un­ter dem Ti­tel „Zam­bec­ca­ri´s Luft­fahrt“ in sei­nen „Er­in­ne­run­gen“ auf der Ba­sis von Zam­bec­ca­ris No­ti­zen ver­öf­fent­licht. Es muss Kot­ze­bu­es Schrift ge­we­sen sein, auf die sich Gus­tav Li­li­en­thal mit dem Hin­weis auf die frü­he Ju­gend­lek­tü­re be­zog.

Der zwei­te Teil der von Gus­tav Li­li­en­thal an­ge­führ­ten Ju­gend­lek­tü­re be­in­hal­tet eine Fa­bel, in der ein Storch ei­nem Zaun­kö­nig er­klärt, wie mü­he­los das Flie­gen nach dem Prin­zip „schwe­rer als Luft“ sei. Der Zaun­kö­nig fliegt kräf­te­zeh­rend durch stän­di­ges Flü­gel­schla­gen. Der Storch da­ge­gen se­gelt mü­he­los da­hin. So­mit wird der Se­gel­flug als höchs­te Stu­fe der Fliege­kunst dar­ge­stellt.

Die Fa­bel vom Storch und dem Zaun­kö­nig fehlt je­doch in Kot­ze­bu­es Text. All­er­dings ist sie eine Va­ri­an­te der al­ten ae­sop­schen Fa­bel vom Ad­ler und dem Zaun­kö­nig, die Gus­tav Li­li­en­thal hier auf­ge­grif­fen und der aben­teu­er­li­chen Bal­lon­fahrt des Gra­fen Zam­bec­ca­ri ge­gen­über­ge­stellt hat. In knapps­ter Form ist die ae­sop­sche Fa­bel in ei­nem schot­ti­schen Mär­chen über­lie­fert:

„Der Ad­ler und der Zaun­kö­nig woll­ten ein­mal aus­pro­bie­ren, wer am höchs­ten flie­gen könn­te, und der Sie­ger soll­te Kö­nig über alle Vö­gel sein. Nun flog der Zaun­kö­nig senk­recht in die Höhe, der Ad­ler je­doch flog in gro­ßen Krei­sen auf­wärts, und als der Zaun­kö­nig müde war, ließ er sich auf dem Rü­cken des Ad­lers nie­der. Als der Ad­ler müde war, stieg er nicht hö­her, und „Wo bist du, Zaun­kö­nig?“ frag­te der Ad­ler. „Ich bin hier über dir“, sag­te der Zaun­kö­nig. Und so blieb der Zaun­kö­nig Sie­ger.“
(Aus: H. Ait­ken, R. Mi­cha­e­lis-Jena (Hrsg.), Schot­ti­sche Volks­mär­chen, Köln 1975, S. 284).

Die bei­den Tier­fa­beln han­deln gleich­lau­tend von ei­nem se­geln­den Groß­vo­gel und dem flat­tern­den Zaun­kö­nig. Otto Li­li­en­thal be­trach­te­te stets den Storch als Vor­bild für sei­ne Ar­beit. Des­halb spricht viel da­für, dass Gus­tavs Fa­bel post­hum und nicht am An­fang der Ar­beit entstan­den ist. So­wohl Ad­ler als auch Storch füh­len sich als Seg­ler flie­ge­risch dem Zaun­kö­nig über­le­gen. In der Ae­sop-Fa­bel über­töl­pelt der Zaun­kö­nig den Seg­ler mit ei­nem Trick, im Text Gus­tav Li­li­en­thals da­ge­gen ist der klei­ne­re Vo­gel der ge­leh­ri­ge Schü­ler des gro­ßen. Nicht nur die Rol­len ha­ben sich ge­än­dert, son­dern auch das The­ma: Es geht nicht da­rum, wer hö­her oder län­ger fliegt, also um ein quantitatives Prob­lem, son­dern wer bes­ser fliegt, also um die Qua­li­tät des Flie­gens! Und ent­schlüs­selt man die Fa­bel auf den be­leh­ren­den Ge­halt für den Le­ser, so ist die Na­tur der über­le­ge­ne Lehr­meis­ter und der Mensch der klei­ne Schü­ler.

Die ver­meint­li­che Ju­gend­lek­tü­re be­in­hal­tet eine dop­pel­te wer­ten­de Ge­gen­überstel­lung der bei­den Flug­prin­zi­pi­en: Flie­gen nach dem Prin­zip leich­ter als Luft ist ge­fähr­lich und künst­lich, Flie­gen nach dem Prin­zip schwe­rer als Luft ist mü­he­los und na­tür­lich.

Die­ser Ge­gen­satz ist in ei­nem Werk ei­nes an­de­ren Flug­pi­o­niers an­ge­legt. Der Bra­si­li­a­ner Alb­er­to San­tos Du­mont (1873 - 1932), der sei­ne Flug­ver­su­che haupt­säch­lich in Frank­reich durch­führ­te, ent­wi­ckel­te von 1898 - 1906 lenk­ba­re Luft­schif­fe, um sich dann der Flie­ge­rei nach dem Prin­zip „schwe­rer als Luft“ zu­zu­wen­den: Nur we­ni­ge Jah­re vor Gus­tav Li­li­en­thals bi­o­gra­phi­schen Aus­füh­run­gen (1910) ver­öf­fent­lich­te San­tos Du­mont 1905 sein au­to­bi­o­gra­phi­sches Werk „Im Reich der Lüf­te“.

Alberto Santos-Dumont (1873-1932), der Konvertit: Von 1898 bis 1906 baute er erfolgreich lenkbare Einmann-Luftschiffe, von 1906-1910 Flugzeuge.

(Bild: Das Neue Universum 23/1902)

Sein erfolgreichstes Flugzeug war die „Demoiselle“, die als erstes Leichtbau-Serienflugzeug der Welt gilt.

(Bild: W. L. Moedebeck, Fliegende Menschen, Berlin 1909)

In ei­ner Kin­der­fa­bel lässt San­tos Du­mont zwei Kna­ben über die Flug­prin­zi­pi­en leich­ter und schwe­rer als Luft fa­bu­lie­ren, wo­bei Pe­dro, der ver­nünf­ti­ge­re der bei­den, die Na­tur als Vor­bild nimmt: „Fliegt der Mensch? Nein. Fliegt der Vo­gel? Ja. Will da­her der Mensch flie­gen, so ahme er den Vo­gel nach. Die Na­tur hat den Vo­gel ge­schaf­fen, und die Na­tur irrt nicht. Wenn der Vo­gel ein gro­ßer Luft­sack wäre, wür­de ich viel­leicht an den Bal­lon ge­dacht ha­ben.“

Dass der Vo­gel­flug dem Bal­lon­flug über­le­gen sei, ver­trat Otto Li­li­en­thal stets in Wort und Schrift. Er schaff­te es, für sei­ne An­sich­ten Öf­fent­lich­keit her­zu­stel­len. Er hat es wie kaum ei­ner in sei­ner Zeit ver­stan­den, die da­mals ge­ra­de neu entstan­de­nen Me­di­en für sich nutz­bar zu ma­chen, die Pho­to­gra­phie und die neu entstan­de­nen Print­me­di­en, wie die Ber­li­ner Illustrirte Zei­tung und den Pro­me­theus. Be­son­ders im letz­te­ren pub­li­zier­te Li­li­en­thal re­gel­mä­ßig. Sei­ne vie­len Vorträge, die er hielt, il­lust­rier­te er mit Pho­tos sei­ner Flü­ge. Er war, wie man heu­te sa­gen wür­de, PR-Ma­na­ger in ei­ge­ner Sa­che. Mit Li­li­en­thal starb auch die öf­fent­li­che Dar­stel­lung sei­ner Art zu flie­gen. Nicht nur er als Per­son, son­dern auch das von ihm ver­tre­te­ne Flie­ge­prin­zip droh­te aus dem öf­fent­li­chen Be­wusst­sein zu ver­schwin­den.

Das Militärluftschiff 1908

(Bild: Das Neue Universum 30, S. 279)

Wilbur Wrights Aeroplan in den Lüften

(Bild: Das Neue Universum 30, S. 284)

In his­to­ri­schen Dar­stel­lun­gen über die An­fän­ge der Flie­ge­rei in Deutsch­land wird nach Otto Li­li­en­thals Ab­sturz von ei­ner „Schock­star­re“ ge­spro­chen, die die Ent­wick­lung für Jah­re un­ter­brach. Die­se Ein­schät­zung ver­tra­ten vie­le Kom­men­ta­to­ren der Zeit um 1910, der Zeit, in der Gus­tav Li­li­en­thal sei­ne Fa­bel ver­öf­fent­lich­te. Im Neu­en Uni­ver­sum, ei­nem Ju­gend­jahr­buch, das als Seismograph tech­ni­scher Ent­wick­lun­gen be­trach­tet wer­den kann, wird in der Aus­ga­be von 1909 in ei­nem län­ge­ren Ar­ti­kel in Bild und Wort auf die „Er­o­be­rung der Lüf­te“ ein­ge­gan­gen. Der Ar­ti­kel be­in­hal­tet in ge­trenn­ten Ab­schnit­ten die „lenk­ba­ren Bal­lons“ und die „Flug­ma­schi­nen“. In vie­len Fo­tos wer­den die im­po­san­ten Zep­pe­li­ne deut­scher Her­kunft den zer­brech­lich er­schei­nen­den Flug­ma­schi­nen, vor­wie­gend aus­län­di­sche Kon­struk­ti­o­nen, ge­gen­über­ge­stellt. Geht es bei den Zep­pe­li­nen um die mi­li­tä­ri­sche Nut­zung der Groß­ge­rä­te durch das Deut­sche Reich, so wer­den bei den Flug­zeu­gen die sport­li­chen Leis­tun­gen der Pi­lo­ten auf ih­ren „toll­küh­nen Kis­ten“ her­vor­ge­ho­ben, vor­wie­gend aus­län­di­sche Pi­lo­ten und Ge­rät­schaf­ten. Ein Be­rich­ter­stat­ter für die Il­lust­rier­ten Ae­ro­nau­ti­schen Mit­tei­lun­gen stell­te 1909 re­sig­niert fest: „Es ist kein Bo­den für den me­cha­ni­schen Flug in Deutsch­land. War­um das ei­gent­lich der Fall ist, ist un­verständ­lich. Viel­leicht ab­sor­biert die Ar­beit an den Luft­schif­fen die ver­füg­ba­re In­tel­li­genz in Deutsch­land, oder aber, und das dürf­te in ers­ter Li­nie in Fra­ge kom­men, das für die­se Zwe­cke ver­füg­ba­re Ka­pi­tal fehlt“.

Gus­tav Li­li­en­thal misch­te sich mit der an­geb­li­chen Ju­gend­lek­tü­re 1910 in die­se De­bat­te ein. Die von ihm zi­tier­te Lek­tü­re ist so­mit kein ver­klär­ter Blick zu­rück in Ju­gend­jah­re, son­dern eine li­te­ra­risch ver­schlüs­sel­te Aus­ei­nan­der­set­zung mit der Flie­ge­rei des Jah­res 1910, um über die Er­in­ne­run­gen an sei­nen Bru­der das von je­nem ver­tre­te­ne Prin­zip, nach dem Vor­bild der Na­tur zu flie­gen, wie­der in den öf­fent­li­chen Fo­kus zu rü­cken.