Opfer müssen gebracht werden

Die gro­ben Le­bens­da­ten Otto Li­li­en­thals sind all­ge­mein ge­läu­fig: Er wur­de am 23. Mai 1848 in An­klam ge­bo­ren, er­prob­te an ver­schie­de­nen Or­ten rund um Ber­lin meh­re­re selbst ent­wi­ckel­te Flugap­pa­ra­te, mit de­nen er als ers­ter Mensch bis zu 250 Me­ter weit flog, stürz­te am 9. Au­gust 1896 bei ei­nem der Flü­ge ab, ver­letz­te sich da­bei töd­lich und verstarb ei­nen Tag spä­ter in ei­ner Ber­li­ner Kli­nik. Sei­ne letz­ten Wor­te sol­len ge­we­sen sein: „Op­fer müs­sen ge­bracht wer­den.“

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Von
  • Burkhard Fleischer
Inhaltsverzeichnis

We­ni­ger be­kannt ist, dass er vor sei­nen Gleit­flugex­pe­ri­men­ten, die er ab 1891 durch­führ­te, 20 Jah­re mit sei­nem Bru­der Gus­tav den Vo­gel­flug be­obach­te­te, die­sen sys­te­ma­tisch ex­pe­ri­men­tell un­ter­such­te, um wis­sen­schaft­lich fun­diert ei­nen künst­li­chen Ap­pa­rat nach na­tür­li­chem Vor­bild zu schaf­fen, mit dem sich der Mensch wie ein Vo­gel in die Luft he­ben kann. Die­se For­schungs­ar­beit ver­öf­fent­lich­te er 1889 in sei­nem Werk „Der Vo­gel­flug als Grund­la­ge der Fliege­kunst. Ein Bei­trag zur Sys­te­ma­tik der Flug­tech­nik“.

Otto Lilienthal im Jahre 1888

(Bild: Die Lilienthals, Stuttgart/Berlin 1930)

Noch we­ni­ger be­kannt ist, dass Li­li­en­thal ein er­folg­rei­cher Un­ter­neh­mer war, der in sei­nem Be­trieb bis zu 60 Ar­beit­neh­mer be­schäf­tig­te. Sein Be­triebs­ver­mö­gen hat­te er auf­grund ei­ge­ner Ent­wick­lun­gen und Pa­ten­te er­ar­bei­tet. Fer­ner be­tei­lig­te er sei­ne Ar­bei­ter­schaft pro­zen­tu­al am er­wirt­schaf­te­ten Ge­winn, ent­ge­gen der da­mals üb­li­chen bru­ta­len Aus­beu­tung des Pro­le­ta­ri­ats.

Fast un­be­kannt ist, dass er als Mä­zen ein The­a­ter un­ter­stütz­te, für das er selbst zur Fe­der griff und ein So­zi­al­dra­ma schrieb. War Not am Man­ne, schau­spie­ler­te er auch mal selbst. War es die un­ge­brems­te Tat­kraft die­ses um­trie­bi­gen Man­nes, der sei­ne Gren­zen im­mer wie­der aus­lo­ten woll­te, der, als er die­se im Ab­sturz schmerz­lich er­fuhr, sich als not­wen­di­ges Op­fer emp­fand, sei­ne Op­fe­rung als kon­se­quen­te Fol­ge sei­nes Pflicht­ge­fühls sah?

Als Grund­mo­tiv des ei­ge­nen Han­delns sah Li­li­en­thal ne­ben der äs­the­ti­schen Fas­zi­na­ti­on am Flug der Vö­gel und dem da­raus ab­ge­lei­te­ten Wunsch, den Bann der Mensch­heit, bo­denstän­dig blei­ben zu müs­sen, zu bre­chen, die per­sön­li­che Ver­pflich­tung, den Vo­gel­flug wis­sen­schaft­lich zu er­for­schen. In dem Wunsch, den ewi­gen Traum vom Flie­gen zu ver­wirk­li­chen, un­ter­schied sich Li­li­en­thal nicht von sei­nen vie­len Vor­gän­gern. Grund­sätz­lich aber kehr­te er sich von ih­nen da­durch ab, wie er an die Lö­sung des Prob­lems he­ran­ging. Nicht in ei­nem gro­ßen Wurf woll­te er wie ein Vo­gel flie­gen, son­dern er un­ter­such­te zu­nächst sys­te­ma­tisch die Phy­sik des Flie­gens ex­pe­ri­men­tell, um in ei­nem zwei­ten kon­kre­ten Pro­jekt die wis­sen­schaft­lich ge­won­ne­nen Er­kennt­nis­se prak­tisch in dem Bau ei­nes mann­tra­gen­den Flugap­pa­ra­tes zu re­a­li­sie­ren.

  • Anlässlich seines Todestags am 10. August 1896 beleuchten wir in einer Artikelserie die künstlerisch-visionäre Seite von Otto Lilienthal. Auf den nächsten Seiten schauen wir auf die oft zitierte Anekdote, wie er dank eines Buchs die Fliegerei entdeckte – sie entpuppt sich als gezielter, politischer Debattenbeitrag. Der zweite Teil erscheint am 13. August und der dritte und letzte Artikel am 16. August.