Opfer müssen gebracht werden (Teil 2)

Seite 2: Der Stand der Theo­rie­bil­dung 1873

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Li­li­ent­hals Vor­trag aus dem Jahr 1873 mar­kier­te ei­nen Wen­de­punkt in sei­nen flug­tech­ni­schen Über­le­gun­gen: „Ich bin der An­sicht, dass die flie­gen­den Tie­re beim Nie­der­schlag der Flü­gel ihr Ge­wicht he­ben, wäh­rend sie beim Auf­schlag sich vor­wärts­be­we­gen.“

Von den frühen Experimenten aus der Kinderzeit bis zum letzten entworfenen Flieger zieht sich die Auseinandersetzung mit dem Schlagflügel durch die gesamte fliegerische Arbeit Otto Lilienthals. Es ist wie eine Obsession, das Antriebsproblem nach dem Vorbild des Vogels zu lösen. Für manntragende Flugzeuge ist diese technische Schwierigkeit bis heute nicht gelöst.

(Bild: Otto Lilienthal „Der Vogelflug...“)

Mit dem er­sten Halb­satz er­klär­te Li­li­ent­hal ganz tra­di­tio­nell den Vo­gel­flug. An­ge­trie­ben von der nai­ven Vor­stel­lung, dass man sich mit­tels künst­li­cher Flü­gel in die Höhe drüc­ken kön­ne, kon­stru­ier­ten Otto und Gu­stav Li­li­ent­hal be­reits 1862, der eine 14, der an­de­re 13 Jah­re alt, ein zwei Me­ter lan­ges Flü­gel­paar.

Otto Lilienthals „Möwe“ (ca 1890)

(Bild: Stephan Nitsch: Vom Sprung zum Flug, Berlin 1991)

1867 und 1868 grif­fen die Brü­der die Ver­su­che mit Flü­gel­schlag­ap­pa­ra­ten wie­der auf. Der sper­ri­ge Ap­pa­rat von 1868 hat­te be­reits eine Flü­gel­flä­che von sech­zehn Qua­drat­me­tern und ließ sich nur für we­ni­ge Se­kun­den kräf­te­zeh­rend be­die­nen.

Otto Lilienthals „kleiner Schlagflügelapparat“ (1893)

(Bild: Stephan Nitsch: Vom Sprung zum Flug, Berlin 1991)

Mit gro­ßen, an­geb­lich „flug­fer­ti­gen“ Ob­jek­ten die Flug­ver­su­che zu be­gin­nen, ist ein Feh­ler, an dem vor Li­li­ent­hal eine lan­ge Rei­he von Flug­pio­nie­ren schei­ter­te. Im Ge­gen­satz zu vie­len Vor­gän­gern ließ sich Li­li­ent­hal von Miss­er­fol­gen nicht ent­mu­ti­gen. Er zog aus den Fehl­ver­su­chen den Schluss, das kom­ple­xe Pro­blem in Ein­zel­pro­ble­me zu zer­le­gen, die ex­pe­ri­men­tell un­ter­sucht wer­den, um aus den Tei­ler­kennt­nis­sen wie­der Schlüs­se für die Pra­xis zu zie­hen. So ent­stand der Flü­gel­schlag­messap­pa­rat von 1873.

Otto Lilienthals „großer Schlagflügelapparat“ (1896)

(Bild: Stephan Nitsch: Vom Sprung zum Flug, Berlin 1991)

Die­se Ex­pe­ri­men­te ba­sier­ten auf New­tons flug­phy­si­ka­li­schen Auf­fas­sung: Steht eine star­re Flä­che recht­wink­lig im Luft­strom, so übt die Luft auf die Flä­che eine Kraft aus. New­ton (1648-1727) hat­te ein theo­re­ti­sches Mo­dell ent­wic­kelt, die Kraft zu be­rech­nen. Er „zer­leg­te die ge­gen ei­nen Kör­per an­strö­men­de Luft in ein­zel­ne, in pa­ral­le­len Bah­nen strö­men­de Mas­sen­teil­chen und be­rech­ne­te den Luft­wi­der­stand aus der Stoß­wir­kung ih­res Auf­pral­les“ (Adolf Lipp­mann, Ein­füh­rung in die Ae­ro­nau­tik, Leip­zig 1911, S. 171).

Mes­sun­gen zeig­ten je­doch an, dass die theo­re­tisch er­mit­tel­ten Wer­te mit der Rea­li­tät nicht über­ein­stimm­ten. Die­sem Man­ko be­geg­ne­te Helm­holtz mit dem Mo­dell der Un­ste­tig­keits­flä­chen. An den Ab­riss­kan­ten ei­nes in ein strö­men­des Me­di­um ge­hal­te­nen Kör­pers bil­den sich Wir­bel, die si­gni­fi­kant den Ge­samt­wi­der­stand des Kör­pers be­ein­flus­sen. Auf Grund die­ser Be­rech­nun­gen kam Helm­holtz 1873 eher in ei­nem Ne­ben­ge­dan­ken zu folgendem Schluss: „Un­ter die­sen Um­stän­den ist es kaum als wahr­schein­lich zu be­trach­ten, dass der Mensch auch durch den aller geschicktesten flü­ge­lähn­li­chen Me­cha­nis­mus, den er durch sei­ne ei­ge­ne Mus­kel­kraft zu be­we­gen hät­te, in den Stand ge­setzt wür­de, sein ei­ge­nes Ge­wicht in die Höhe zu he­ben und dort zu er­hal­ten“.

Flügelschlagmessinstrument

(Bild: Otto Lilienthal, „Der Vogelflug...“)

Dies war grob skiz­ziert der Stand der Wis­sen­schaft, den Li­li­ent­hal 1873 vor­fand. Li­li­ent­hal über­nahm je­doch nicht un­be­se­hen tra­dier­te Mo­del­le, son­dern über­prüf­te sie mit ei­ge­nen Mes­sun­gen. So ent­stand 1873 der Flü­gel­schlag­messap­pa­rat. Die­ses Ge­rät misst den Kraftaufwand beim Ru­der­flug auf der Stel­le, ei­ner Flug­si­tua­ti­on, die auch den Über­le­gun­gen New­tons und Helm­holtz´ zu­grun­de lag. Mit sei­nem Mess­ge­rät be­stä­tig­te Lilienthal die The­se Helm­holtz´, dass der Mensch aus ei­ge­ner Kraft nicht flie­gen kön­ne. Li­li­ent­hal fasst sei­ne Er­geb­nis­se mit dem Schlag­flü­gel­mess­ge­rät spä­ter in sei­nem Haupt­werk zu­sam­men: Die „Gren­ze des denk­bar klein­sten Ar­beits­auf­wan­des beim Flie­gen auf der Stel­le (läge) et­was über 1,5 Pfer­de­kraft (...). An eine Über­win­dung die­ser Ar­beit mit Hil­fe der phy­si­schen Kraft des Men­schen auch für kür­ze­re Zeit ist na­tür­lich nicht zu den­ken“.

Li­li­ent­hal und Helm­holtz ka­men also 1873 bei der Un­ter­su­chung des glei­chen Pro­blems, der Be­we­gung ei­nes fe­sten Kör­pers quer zur Strö­mungs­rich­tung, zum glei­chen Er­geb­nis.