Opfer müssen gebracht werden (Teil 2)
Seite 2: Der Stand der Theoriebildung 1873
Lilienthals Vortrag aus dem Jahr 1873 markierte einen Wendepunkt in seinen flugtechnischen Überlegungen: „Ich bin der Ansicht, dass die fliegenden Tiere beim Niederschlag der Flügel ihr Gewicht heben, während sie beim Aufschlag sich vorwärtsbewegen.“
Mit dem ersten Halbsatz erklärte Lilienthal ganz traditionell den Vogelflug. Angetrieben von der naiven Vorstellung, dass man sich mittels künstlicher Flügel in die Höhe drücken könne, konstruierten Otto und Gustav Lilienthal bereits 1862, der eine 14, der andere 13 Jahre alt, ein zwei Meter langes Flügelpaar.
1867 und 1868 griffen die Brüder die Versuche mit Flügelschlagapparaten wieder auf. Der sperrige Apparat von 1868 hatte bereits eine Flügelfläche von sechzehn Quadratmetern und ließ sich nur für wenige Sekunden kräftezehrend bedienen.
Mit großen, angeblich „flugfertigen“ Objekten die Flugversuche zu beginnen, ist ein Fehler, an dem vor Lilienthal eine lange Reihe von Flugpionieren scheiterte. Im Gegensatz zu vielen Vorgängern ließ sich Lilienthal von Misserfolgen nicht entmutigen. Er zog aus den Fehlversuchen den Schluss, das komplexe Problem in Einzelprobleme zu zerlegen, die experimentell untersucht werden, um aus den Teilerkenntnissen wieder Schlüsse für die Praxis zu ziehen. So entstand der Flügelschlagmessapparat von 1873.
Diese Experimente basierten auf Newtons flugphysikalischen Auffassung: Steht eine starre Fläche rechtwinklig im Luftstrom, so übt die Luft auf die Fläche eine Kraft aus. Newton (1648-1727) hatte ein theoretisches Modell entwickelt, die Kraft zu berechnen. Er „zerlegte die gegen einen Körper anströmende Luft in einzelne, in parallelen Bahnen strömende Massenteilchen und berechnete den Luftwiderstand aus der Stoßwirkung ihres Aufpralles“ (Adolf Lippmann, Einführung in die Aeronautik, Leipzig 1911, S. 171).
Messungen zeigten jedoch an, dass die theoretisch ermittelten Werte mit der Realität nicht übereinstimmten. Diesem Manko begegnete Helmholtz mit dem Modell der Unstetigkeitsflächen. An den Abrisskanten eines in ein strömendes Medium gehaltenen Körpers bilden sich Wirbel, die signifikant den Gesamtwiderstand des Körpers beeinflussen. Auf Grund dieser Berechnungen kam Helmholtz 1873 eher in einem Nebengedanken zu folgendem Schluss: „Unter diesen Umständen ist es kaum als wahrscheinlich zu betrachten, dass der Mensch auch durch den aller geschicktesten flügelähnlichen Mechanismus, den er durch seine eigene Muskelkraft zu bewegen hätte, in den Stand gesetzt würde, sein eigenes Gewicht in die Höhe zu heben und dort zu erhalten“.
Dies war grob skizziert der Stand der Wissenschaft, den Lilienthal 1873 vorfand. Lilienthal übernahm jedoch nicht unbesehen tradierte Modelle, sondern überprüfte sie mit eigenen Messungen. So entstand 1873 der Flügelschlagmessapparat. Dieses Gerät misst den Kraftaufwand beim Ruderflug auf der Stelle, einer Flugsituation, die auch den Überlegungen Newtons und Helmholtz´ zugrunde lag. Mit seinem Messgerät bestätigte Lilienthal die These Helmholtz´, dass der Mensch aus eigener Kraft nicht fliegen könne. Lilienthal fasst seine Ergebnisse mit dem Schlagflügelmessgerät später in seinem Hauptwerk zusammen: Die „Grenze des denkbar kleinsten Arbeitsaufwandes beim Fliegen auf der Stelle (läge) etwas über 1,5 Pferdekraft (...). An eine Überwindung dieser Arbeit mit Hilfe der physischen Kraft des Menschen auch für kürzere Zeit ist natürlich nicht zu denken“.
Lilienthal und Helmholtz kamen also 1873 bei der Untersuchung des gleichen Problems, der Bewegung eines festen Körpers quer zur Strömungsrichtung, zum gleichen Ergebnis.