Opfer müssen gebracht werden (Teil 2)

Otto Li­li­ent­hal war von 1873 bis 1876 Mit­glied der bri­ti­schen Ae­ro­nau­ti­cal So­cie­ty, die seit ih­rer Grün­dung 1866 An­nu­al Re­ports her­aus­gab. Wäh­rend sei­nes Auf­ent­hal­tes 1873/74 in Lon­don be­rich­te­te Gu­stav sei­nem Bru­der Otto auch über zu­rück­lie­gen­de Bän­de. Bis 1890 er­hielt Otto Li­li­ent­hal zu­min­dest ei­ni­ge Jahr­gän­ge der An­nu­al Re­ports.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 22 Min.
Von
  • Burkhard Fleischer
Inhaltsverzeichnis

Li­li­ent­hal schätz­te an den Ar­bei­ten der Eng­län­der de­ren „Be­ob­ach­tun­gen und Mes­sun­gen (...) an flie­gen­den Vö­geln und an künst­lich her­ge­stell­ten Ap­pa­ra­ten“, wer­te­te de­ren Schluss­fol­ge­run­gen je­doch ins­ge­samt als zu aben­teu­er­lich ab. Seit mehr als 100 Jah­ren wur­den für die­se Mes­sun­gen Ro­ta­ti­ons­ap­pa­ra­te be­nutzt. Ro­bins (1746) und Hut­ton (1788) ma­ßen so für bal­li­sti­sche Zwec­ke den Luft­wi­der­stand ver­schie­den ge­form­ter Kör­per. Ge­org Cay­ley da­ge­gen be­schäf­tig­te sich be­reits sy­ste­ma­tisch mit dem Flug­pro­blem. Er führ­te An­fang des 19. Jahr­hun­derts be­reits zahl­rei­che Wi­der­stands­mes­sun­gen mit Hil­fe ei­nes Rund­lauf­ge­rä­tes durch.

Auch aus un­mit­tel­ba­rer Nähe muss­te Otto Li­li­ent­hal von der Funk­ti­ons­wei­se des Ro­ta­ti­ons­ap­pa­ra­tes Kennt­nis er­hal­ten ha­ben. Otto Li­li­ent­hal stu­dier­te von 1867 bis 1870 an der kö­nig­li­chen Ge­wer­be-Aka­de­mie in Ber­lin. Am glei­chen In­sti­tut lehr­te auch Karl Hein­rich Schell­bach, der 1871 ei­nen Auf­satz über ei­nen Ro­ta­ti­ons­ap­pa­rat ver­öf­fent­lich­te.

Skizzen von Leonardo da Vinci zum Vogelflug, in Deutschland veröffentlicht 1874 von Hermann Grothe, Dozent an Lilienthals Gewerbeakademie.

(Bild: Leonardo da Vinci - Berlin 1874)

Wäh­rend Li­li­ent­hals Stu­di­en­zeit lehr­te Her­mann Gro­the me­cha­ni­sche Tech­no­lo­gie an der Ge­wer­be­a­ka­de­mie. 1874 ver­öf­fent­lich­te er ei­nen Band über Leonar­do da Vin­ci. Dar­in wer­den in ei­nem län­ge­ren Ab­schnitt in Bild und Wort auch Leonar­dos ana­to­mi­sche Un­ter­su­chun­gen am Vo­gel­flü­gel und die Kon­struk­ti­on ei­ner künst­li­chen Schwin­ge dar­ge­stellt. In ei­nem Vor­wort dank­te der Ver­fas­ser Prof. F. Reu­leaux für des­sen „Durch­sicht und Kri­tik beim Druck“. Prof. Reu­leaux war der Rek­tor der Ge­wer­be­a­ka­de­mie. Wie die­se bei­den Bei­spie­le zei­gen, schie­nen Reu­leaux und des­sen Aka­de­mie dem Flug­pro­blem durch­aus auf­ge­schlos­sen zu sein. Ver­wun­der­lich klingt es dann aus Li­li­ent­hals Mund, wenn die­ser Rek­tor ihn vor der Be­schäf­ti­gung mit flug­tech­ni­schen Fra­gen warn­te.

War also nicht nur der Vogelflug das unmittelbare Vorbild für Lilienthals Arbeiten?

(Bild: Leonardo da Vinci - Berlin 1874)

Par­al­lel zu Li­li­ent­hals flie­ge­ri­schen For­schun­gen ent­wic­kel­ten Éti­en­ne-Ju­les Ma­rey (1830-1904), Ed­ward Mey­bridge (1830-1904) und Ot­to­mar An­schütz (1846-1907) die Chro­no­gra­phie, mit­un­ter auch als Mo­mentpho­to­gra­phie be­zeich­net. „Durch sie wird es zum er­sten Mal auf pho­to­gra­phi­schem Wege mög­lich, rasch hintereinander folgende Be­we­gungs­pha­sen fest­zu­hal­ten“ (Ron­ny Loe­we, Vor­be­mer­kung zum Re­print der Bro­schü­re aus dem dem Jah­re 1893 Éti­en­ne-Ju­les Ma­rey, Chro­no­gra­phie Ffm 1985). Ma­rey be­schäf­tig­te sich in­ten­siv da­mit, den Vo­gel­flug in Pha­sen zer­schnit­ten photographisch zu do­ku­men­tie­ren.

Der Ruderflug einer Möwe, 1789 von Lilienthal in seinem Werk „Der Vogelflug...“ dargestellt.

Li­li­ent­hal kann­te die­se Tech­no­lo­gie, denn mit An­schütz ar­bei­te­te er bei der Do­ku­men­ta­ti­on sei­ner Flü­ge eng zu­sam­men. Fer­ner er­wähn­te er die­se in sei­nem Haupt­werk, al­ler­dings eher bei­läu­fig und ab­wer­tend. Sei­ne Dar­stel­lung des Pha­sen­ver­laufs des Mö­wen­flu­ges er­scheint al­ler­dings un­mit­tel­bar von ei­ner Ma­rey­schen Fo­to­fol­ge in­spi­riert.

Otto Li­li­ent­hal konn­te auf ei­nen Er­fah­rungs­schatz an­de­rer For­scher zu­rück­grei­fen. Er ko­pier­te die Vor­la­gen nicht ein­fach, son­dern pass­te z.B. das be­kann­te Kon­zept des Ro­ta­ti­ons­ap­pa­ra­tes für sei­ne Be­dürf­nis­se an. Aber in Li­li­ent­hals Ar­bei­ten wird nir­gend­wo deut­lich, wel­che Ar­bei­ten sei­ner Vor­gän­ger er auf­griff und wie er sie wei­ter ent­wic­kel­te. Auch spä­te­re Bio­gra­phen ha­ben den My­thos Otto Li­li­ent­hals als Self­made­man nicht kri­tisch hin­ter­fragt, son­dern ihm eher ge­frönt. So wird noch in neue­ren Dar­stel­lun­gen be­haup­tet, Li­li­ent­hal habe den Ro­ta­ti­ons­ap­pa­rat selbst ent­wic­kelt (sie­he Wi­ki­pe­dia, „Otto Li­li­ent­hal“; Anne Die­ter (Hrsg.), Mit Kin­der­schu­hen im Ge­päck, Pots­dam 2015, S. 30).

Konn­te Li­li­ent­hal an­de­re wis­sen­schaft­li­che Au­to­ri­tä­ten ak­zep­tie­ren? Die Ant­wort hier­auf hat Li­li­ent­hal selbst ge­ge­ben – ver­schlüs­selt for­mu­liert in ei­nem Ge­dicht. In sei­nem Haupt­werk stell­te Otto Li­li­ent­hal den Storch als Lehr­mei­ster des Men­schen dar und lässt ihn durch ein Ge­dicht zum Men­schen spre­chen:

„Doch treibt dich die Sehn­sucht, im Flu­ge uns gleich
Da­hin­zu­schwe­ben, im Lüf­te­be­reich
Die Won­nen des Flug´s zu ge­nie­ßen,
So sieh un­sern Flü­gel­bau, miß uns­re Kraft,
Und such aus dem Luft­druck, der He­bung uns schafft,
Auf Wir­kung der Flü­gel zu schlie­ßen.

Dann for­sche, was uns zu tra­gen ver­mag
Bei un­se­rer Fit­ti­ge mä­ßi­gem Schlag,
Bei Aus­dau­er un­se­res Zu­ges!
Was uns eine gü­ti­ge Schöp­fung ver­lieh´n,
Draus mö­gest Du rich­ti­ge Schlüs­se dann zieh´n,
Und lö­sen die Rät­sel des Flu­ges.

Die Macht des Ver­stan­des, o, wend sie nur an,
Es darf dich nicht hin­dern ein ewi­ger Bann,
Sie wird auch im Flu­ge Dich tra­gen!
Es kann dei­nes Schöp­fers Wil­le nicht sein,
Dich, Er­sten der Schöp­fung, dem Stau­be zu weih´n,
Dir ewig den Flug zu ver­sa­gen!“ (S. 149)

Die Na­tur als Lehr­mei­ster für den Men­schen, die­ser Grund­satz der Bio­nik, ist hier am Bei­spiel der Flie­ge­rei dar­ge­stellt und deut­lich be­nannt. Otto Li­li­ent­hal geht noch ei­nen Schritt wei­ter: Er be­trach­tet es als gött­li­chen Auf­trag, der Na­tur das Flie­gen ab­zu­schau­en, es den Vö­geln gleich­zu­tun. Otto Li­li­ent­hal fühlt sich von ei­ner hö­he­ren In­stanz be­ru­fen und be­auf­tragt.

  • Anlässlich seines Todestags am 10. August 1896 beleuchten wir in einer Artikelserie die künstlerisch-visionäre Seite von Otto Lilienthal. Auf den nächsten Seiten schauen wir auf die Forschungsarbeiten Lilienthals. Der erste Teil über die Legendenbildung rund um eine Jugendanekdote ist bereits nachzulesen, der dritte und letzte Artikel erscheint am 16. August.