Quantenradieren wider den Zeitstrom (Teil 2): Wie man Photonen austrickst​

Der "Delayed Choice Quantum Eraser" erlaubt es, den Ausgang eines vergangenen Ereignisses scheinbar nachträglich zu beeinflussen – verletzt er die Kausalität?

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Laser in einem Physiklabor

(Bild: luchschenF/Shutterstock.com / Bearbeitung heise online)

Lesezeit: 24 Min.
Inhaltsverzeichnis

Jeder, der einmal eine schwierige Wahl zwischen zwei Alternativen zu treffen hatte und sich unglücklicherweise für diejenige entschieden hat, die sich im Nachhinein als die unvorteilhaftere erwiesen hat, dürfte sich gewünscht haben, die Zeit einfach zurückdrehen zu können, um die Entscheidung zu revidieren. Im Alltagsleben ist das leider nicht möglich. Aber in der Welt des Allerkleinsten, der Quanten, gibt es einen Effekt, von dem manche behaupten, er würde es nachträglich erlauben, eine Entscheidung über den Ausgang eines Ereignisses zu treffen, das bereits in der Vergangenheit liegt.

Im ersten Teil des Artikels haben wir das Konzept des Quantenradierens von Licht vorgestellt: Solange man Photonen erlaubt, mehrere Wege zu einer Projektionsfläche oder einem Detektor zu nehmen, etwa durch einen Doppelspalt, offenbaren auch einzeln ausgesendete Photonen ihre Wellennatur und erzeugen ein Interferenzmuster aus hellen und dunklen Streifen. Dieses Phänomen lässt sich nur damit erklären, dass die möglichen Wege einander beeinflussen, selbst wenn nur je ein einzelnes Teilchen sie durchläuft. Sobald man indes versucht, den genauen Weg einzelner Photonen zu bestimmen, verschwindet das Interferenzmuster und macht einem schnöden Beugungsbild Platz, so als ob jedes Photon tatsächlich stets nur einen bestimmten Weg genommen hätte. Das Licht ist dann nicht mehr zur Interferenz fähig.

Quantenradieren von Licht bedeutet, den zur Messung des Lichtweges eingerichteten Versuchsaufbau dergestalt zu modifizieren, dass die Information über den Weg vor ihrer Auswertung wieder "ausradiert" wird. Dadurch wird die Interferenzfähigkeit des Lichts wiederhergestellt. Dies erreicht man, indem man die separierten Lichtwege wieder so überlagert, dass die Photonen mehrere Möglichkeiten haben, den Detektor oder Projektionsschirm zu erreichen. Wie im ersten Teil gezeigt kann man das sogar im Heimexperiment mit Polfilterfolien nachvollziehen, oder – mit deutlich mehr Aufwand, aber auch Überzeugungskraft – mit einem Mach-Zehnder-Interferometer.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

So weit, so erstaunlich. Noch interessanter wird das Ganze, wenn man das Quantenradieren erst durchführt, nachdem die Photonen von den Detektoren bereits registriert wurden. Lässt sich das Interferenzmuster auch im Nachhinein noch beeinflussen? Das erscheint völlig absurd – entweder interferieren die Photonen auf dem Schirm oder nicht. Aber die Quantenphysik sagt, solange die Photonen unbeobachtet mehrere Wege zum Ziel nehmen können, werden sie interferieren. Sobald man jedoch den Weg misst, werden sie das nicht tun. Lassen sich Photonen austricksen, indem man die Messung des Wegs verzögert? Und wie soll man eine solche Messung überhaupt bewerkstelligen, ohne die Photonen zu beeinflussen, wenn die Messung des Weges doch das Ergebnis verändert?

Die Physiker Marlan O. Scully und Kai Drühl hatten bereits 1982 ein Gedankenexperiment vorgeschlagen, mit dem die "Welcher-Weg"-Information noch nachträglich erschlossen werden könnte: den "Quantenradierer mit verzögerter Auswahl".

Das Quantenradierer-Gedankenexperiment nach Scully und Drühl:
In Bild A regt ein Laserpuls der Wellenlänge λ eines von zwei Atomen A1 und A2 in einem Spalt an, ein Photon γ auszusenden. Das Photon entsteht durch die Anregung eines Elektrons in der Außenschale des Atoms vom Energieniveau b auf das höhere Niveau a, gefolgt von spontanem Rückfall auf das Niveau b, wobei ein Photon der entsprechenden Energiedifferenz ausgesendet wird. Da der Zustand der Atome nach Aussendung eines Photons oder Nicht-Aussendung desselben ununterscheidbar ist, liegt keine Information über den Ursprung der Photonen vor und so bilden zahlreiche Photonen mit der Zeit ein Interferenzmuster auf einem Projektionsschirm.
In Bild B werden stattdessen Atome mit drei Energieniveaus verwendet, wobei die Anregung vom Zustand c auf den Zustand a erfolgt, die spontane Aussendung des Photons jedoch auf den stabilen Zustand b oberhalb von c erfolgt. Somit kann anhand des Zustands der Elektronen in den Atomen im Nachhinein bestimmt werden, welches Atom ein Photon ausgesendet hat und welches nicht. Daher sollte kein Interferenzmuster, sondern das Beugungsbild des Spalts entstehen.
In Bild C wird diese Information wieder wegradiert: Ein zweiter Laserpuls mit einer anderen Frequenz λ2 folgt auf den ersten mit λ1. Der zweite Puls hebt das Elektron von b auf ein instabiles Niveau b', von dem aus es wieder spontan auf c fällt, wobei ein weiteres Photon Φ einer anderen Frequenz ausgelöst wird. Dadurch sollte das Interferenzmuster wiederhergestellt werden.

(Bild: Alderamin, angelehnt an Science, DOI: 10.1126/science.1107787)

In ihrer Arbeit schlugen Scully und Drühl anstelle eines Doppelspalts zwei benachbarte Atome vor, deren Elektronen von einem Laserimpuls λ auf ein höheres Energieniveau a gepumpt werden. Angeregte Elektronen fallen spontan wieder auf den Grundzustand b zurück und senden Photonen γ aus, die auf einem Schirm oder Detektor interferieren. Im Allgemeinen werden nicht beide Atome gleichzeitig angeregt, sondern mal sendet das eine, mal das andere ein Photon aus. Da sich im Nachhinein nicht erschließen lässt, welches Atom das jeweilige Photon ausgesendet hat, summieren sich die Abdrücke (sehr) vieler Photonen zu einem Interferenzmuster.

Anders sieht die Situation aus, wenn man Atome mit drei möglichen Energieniveaus a, b und c verwendet, von denen b und c stabil sind, während a instabil ist, was man durch geeignete Wahl der Atomart sicherstellen kann. Wird ein Elektron vom Grundzustand c durch den Laserpuls auf den instabilen Zustand a gepumpt, dann fällt das Elektron spontan entweder auf den Grundzustand c zurück oder auf den dazwischen liegenden Zustand b. Sprünge auf den Grundzustand c kann man ignorieren, da sie Licht einer anderen (kürzeren, da die Energiedifferenz zwischen a und c größer ist als zwischen a und b) Wellenlänge als der Übergang a🠒b aussenden. Schaut man sich die beiden Atome hinterher genau dann an, wenn ein Photon γ von einem solchen Übergang zeugt. Dann wird man in den allermeisten Fällen genau eines der Atome im Zustand b vorfinden und kennt damit im Nachhinein die Quelle des Photons. Der Fall, dass beide Atome im Zustand b vorgefunden werden, womit wiederum die Herkunft des Photons verschleiert wäre, ist unverhältnismäßig seltener und verfälscht das Ergebnis kaum.

Betrachtet man also nur Licht vom Übergang a🠒b und filtert Licht des Übergangs a🠒c aus (was leicht mit einem Farbfilter gelingt), sollte kein Interferenzmuster zu sehen sein, obwohl der Aufbau des Experiments doch praktisch identisch zum eingangs erwähnten ist. Aber die Atome im Zustand b verraten nun den Weg, den das Photon genommen hat, und zerstören somit das Interferenzmuster.

Diese Information kann aber auch wieder gelöscht werden. Schickt man einen zweiten Laserpuls λ2, der das Elektron vom Energieniveau b auf ein viertes instabiles Niveau b' hebt, von dem es sogleich wieder auf c zurückfällt, wird es wieder ununterscheidbar von einem Atom, dessen Elektron c nie verlassen und kein Photon γ ausgesendet hat. Es sendet jedoch beim Übergang b'🠒c ein weiteres Photon Φ einer anderen Wellenlänge aus. Und genau dieses Photon kann man verwenden, um wahlweise im Nachhinein die Information über den Ursprung des Photons γ auszuradieren oder nicht, denn es verrät, ob sich ein Atom im Zustand b befunden hat oder nicht.

Scully und Drühl schlugen zur Auswertung des Photons Φ den folgenden Aufbau vor: Die beiden Atome werden parallel kurz hintereinander von je zwei Laserpulsen λ1 und λ2 mit exakt abgestimmten Energien getroffen: Der erste verursacht den Übergang c🠒a, unter Aussendung eines Photons γ beim spontan erfolgenden Übergang a🠒b; der zweite den Übergang von b🠒b' unter Aussendung eines Photons Φ beim Rückfall b'🠒c. Die Photonen γ werden von einem verschiebbaren Detektor D0 erfasst, der das Überlagerungsmuster der Photonen abscannen kann, während die meisten der beim Löschen des b-Zustands entstehenden Photonen Φ auf einen zweiten Detektor D1 fokussiert werden. Solange D1 Φ-Photonen beider Atome registrieren kann, bleibt weiterhin unklar, welches Atom die Quelle eines Photons γ war.

Umsetzung der verzögerten Auswahl nach Scully und Drühl:
Wie im vorangegangenen Bild C werden die beiden Atome A1 und A2 zunächst von einem Laserpuls der Wellenlänge λ1 angeregt, ein Photon γ auszusenden, gefolgt von einem zweiten Puls der Wellenlänge λ2, der die Atome unter Aussendung eines Photons Φ wieder in den Grundzustand zurückversetzt. Ein verschiebbarer Detektor D0 verifiziert, ob bei wiederholter Erzeugung von Photonen γ ein Interferenzmuster oder ein Beugungsbild entsteht.
Die vom Rücksetzpuls generierten Photonen Φ werden von Spiegeln auf einen zweiten Detektor D1 fokussiert, wobei der Weg zu D1 für eines der Photonen durch einen per Schalter aktivierbaren elektrooptischen Verschluss in der Bildmitte versperrt werden kann. Bei versperrtem Verschluss müssen alle registrierten Photonen Φ vom Atom A2 stammen, und somit liegt die Information über den Ursprung der simultan durch D0 registrierten Photonen γ vor. Auf diese Weise sollte sich das Interferenzmuster für D0 aus- und anschalten lassen.

(Bild: Alderamin, angelehnt an Fig. 2 in Scully und Drühl)

Ein elektrooptischer Verschluss zwischen den Atomen mit dem Detektor auf der einen Seite kann gezielt die Φ-Photonen des Atoms auf der anderen Seite des Verschlusses daran hindern, D1 zu erreichen. Jedes von D1 registrierte Photon Φ muss also von dem anderen Atom stammen, das sich auf derselben Seite des Detektors befindet. In diesem Fall sollte man für γ-Photonen, die zeitlich korreliert mit den bei D1 registrierten Φ-Photonen eintreffen, keine Interferenz mehr beobachten können. Mit einem elektronischen Schalter, der den elektrooptischen Verschluss öffnen und schließen kann, könnte man blitzschnell zwischen beiden Modi umschalten und somit auswählen, ob man den Ursprung des γ-Photons kennt oder nicht. Entsprechend sollte das Interferenzmuster bei D0 abschaltbar werden, je nachdem, ob man Φ-Photonen von beiden Atomen zu D1 durchlässt oder nur von einem der beiden.

Richtig spannend wird das Experiment allerdings erst, wenn man die Auswertung der Φ-Photonen signifikant verzögert. Im Prinzip könnte man sie zuerst 4,3 Jahre nach Alpha Centauri schicken und dann wieder zurück, bevor man sie auswertet, solange man die rund 8,6-jährige Laufzeit genau genug kennt, um auf die γ-Photonen zurückzuschließen, die bei der Entstehung des zugehörigen Φ-Photons auf Schirm eingeschlagen sind. Somit sollte man nach 8,6 Jahren im Nachhinein beeinflussen können, ob eine Folge von Photonen ein Interferenzmuster erzeugt hat, oder nicht!