Reform des Strommarktes: "Dann wird es für alle Verbraucher wieder günstiger"

Energieexperte Thorsten Lenck erläutert die paradoxen Folgen eines Strompreisdeckels und die mögliche Entwicklung des Strommarkts nach der Ukraine-Krise.

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(Bild: pan demin/Shutterstock.com)

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Ende September hat der EU-Ministerrat den Rahmen für eine Strompreisbremse in den Mitgliedstaaten vorgegeben. Er sieht vor, die Markterlöse für Stromerzeuger und Zwischenhändler auf maximal 180 Euro pro Megawattstunde zu begrenzen. Auch die Bundesregierung erwägt, 90 Prozent der Erlöse von Stromunternehmen einzuziehen, die oberhalb der Erzeugungskosten plus eines Gewinnaufschlags liegen. Energieexperte Thorsten Lenck erläutert im Interview mit MIT Technology Review die paradoxen Folgen eines Strompreisdeckels und die mögliche Entwicklung des Strommarkts nach der Ukraine-Krise. Lenck ist bei Agora Energiewende insbesondere zuständig für die Themen Strommarktdesign und Erneuerbare Energien. Er ist Verfasser zahlreicher energiewirtschaftlicher Studien und Gutachten zum Energiemarkt.

Herr Lenck, schon seit Jahren soll der Strommarkt reformiert werden, um die Erneuerbaren besser zu integrieren. Nimmt der Strompreisdeckel diese Reform vorweg – oder steht er ihr im Weg?

Strompreise sind ein wesentliches Steuerungssignal für die effiziente Nutzung von Erneuerbaren Energien. Sie schaffen Anreize für eine flexible Nachfrage oder das Speichern von grünem Strom. 2015 beschloss die damalige Bundesregierung, keine staatlichen Vorgaben zu machen, wie viele Kraftwerke gebaut werden müssen, sondern auf die freie Preisbildung zu setzen. Dazu gehört, kurzfristig auftretende Preisspitzen zuzulassen, damit sich Investitionen in regelbare Kraftwerke, Speicher oder steuerbare Leistung lohnen, welche die fluktuierende Verfügbarkeit von Wind- und Sonnenstrom ergänzen. Zusätzlich betreiben die Netzbetreiber eine Reihe von Reserven als Sicherheitsnetz.

Was ändert sich durch den Strompreisdeckel?

Der Deckel ist ein kurzfristiges Kriseninterventionsinstrument, was Endkundinnen und -kunden entlasten und Ende Juni 2023 wieder auslaufen soll. Mit dem direkten Eingriff in die Markterlöse durch die Erlös-Obergrenze hat der EU-Rat einen Präzedenzfall geschaffen. Das signalisiert: Auch später könnte der Staat wieder eingreifen, wenn hohe Preise auftreten. Somit können die Finanzierungskosten für anstehende Investitionen in Erneuerbare Energien, Flexibilität oder steuerbare Leistungen steigen, weil es zu höheren Risikoaufschlägen bei der Finanzierung kommt. Das ist ein Stück weit paradox, wir senken heute den Strompreis, aber erhöhen die Finanzierungskosten für ein klimaneutrales Stromsystem.

Funktioniert der Energy-only-Market denn auch noch mit 100 Prozent Erneuerbaren? Die haben ja keine Grenzkosten in Form von Brennstoffkosten mehr. Wind- und Solaranlagen können ihren Strom an der Börse beliebig billig anbieten und sich damit gegenseitig kannibalisieren.

In der Vergangenheit ist man häufig von einem binären System ausgegangen: Bei viel Wind ist der Strompreis null, ansonsten setzen regelbare Kraftwerke den Preis. Dabei wurde nicht ausreichend berücksichtigt, dass sich bei sehr niedrigen und sehr hohen Preisen mehr Flexibilitätsoptionen lohnen. Früher haben vor allem Pumpspeicher Flexibilität geboten, deren Kapazität begrenzt ist. Inzwischen sind viele weitere Technologien wie Lastmanagement und Batteriespeicher günstiger geworden. Dadurch sehen wir perspektivisch mehr Preise zwischen den Extremen, die geeignet sind, um Investitionen in Erneuerbare Energien, regelbare Kraftwerksleistung und Flexibilität zu refinanzieren. Insgesamt sinkt der Durchschnittspreis sogar dadurch.

Und was setzt die Grenzkosten im Strommarkt, wenn keine fossilen Kraftwerke mehr daran teilnehmen? Der Akku-Verschleiß? Wo stecken in der Kalkulation Grenzkosten?

Regelbare Kraftwerke werden für ein klimaneutrales Stromsystem auf erneuerbaren Wasserstoff umgestellt. In den wenigen Stunden, in denen sie benötigt werden, setzen sie den Preis. Es lohnt sich, die Einsatzstunden möglichst gering zu halten, da der Strom aus diesen Kraftwerken abhängig vom Wasserstoffpreis vergleichsweise teuer sein wird. In den vielen Stunden, wo ausreichend Wind- und Sonnenstrom im System ist, liegt der Strompreis nahe null. In den übrigen Stunden werden die Flexibilitäten, wie beispielsweise Speicher preissetzend. Diese Preise bilden sich dann im Wesentlichen aus dem Preis des Stroms beim Einspeichern und den Speicherverlusten.

Reicht das für einen funktionierenden Markt?

Ja, für den Strommarkt im engeren Sinne schon. Für das Gesamtsystem brauchen wir jedoch noch ein zweites Preissignal, um das Netz besser auszulasten und so den Netzausbaubedarf zu reduzieren: zunächst zeitlich gestaffelte und mit fortschreitender Digitalisierung zustandsabhängige Netzentgelte, je nach Auslastung der Netze. Dann lohnt sich Flexibilität auch für Privathaushalte. Oft ist sie schon vorhanden, wir nutzen sie nur noch nicht richtig. Beispielsweise Heimspeicher, die auf hohen Eigenverbrauch statt auf Systemdienlichkeit optimiert sind.

Wie lässt sich das ändern?

Heute liegen die Großhandelspreise zwischen 0 und weit über 500 Euro pro Megawattstunde. Allerdings profitieren die Kundinnen und Kunden momentan von diesen 0 Euro in keiner Weise. Wenn wir es schaffen, auf Preissignale zu reagieren, zahlt sich das nicht nur für die flexiblen Endverbraucherinnen und -verbraucher aus, sondern auch für das Gesamtsystem, weil wir erneuerbaren Strom effizienter nutzen und den Netzausbau reduzieren können. Entsprechende Reformen müssen jetzt auf den Weg gebracht werden. Dann wird es für alle Verbraucherinnen und Verbraucher wieder günstiger.

Und komplizierter.

Durch die Digitalisierung sollte vieles weitgehend automatisiert vonstattengehen. Eine Wärmepumpe kann beispielsweise so eingestellt sein, dass sie das Gebäude um einen Grad mehr aufheizt, wenn der Strompreis niedrig ist, und dadurch eine kurze Phase mit höheren Strompreisen durchsteht, ohne dass es im Haus kalt wird. Auch das Laden eines Elektrofahrzeugs lässt sich entsprechend steuern. Dazu müssen Verbraucherinnen und Verbraucher dem Auto lediglich sagen, wann sie wieder losfahren möchten.

Können wir damit rechnen, dass die Strompreise nach der Ukraine-Krise wieder sinken?

Wenn man sich die Termin-Handelskontrakte anguckt, geht der Markt davon aus, dass der Strompreis wieder sinkt. Allerdings nicht auf das Niveau vor der Krise. Das hängt mit der Erwartung zusammen, dass die Gaspreise nicht wieder auf das ursprüngliche Niveau zurückgehen werden. Aber wenn wir es schaffen, uns mit Erneuerbaren Energien quasi aus der Krise heraus zu investieren, dann werden wir auch unabhängiger von fossilen Energiepreisen. Neue Wind- und Solaranlagen sind die günstigsten Technologien, auch wenn wir für die Zeiten ohne Sonne und Wind regelbare Kraftwerke als Absicherung einrechnen.

(jle)