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SARS-CoV-2: Wer ist die Virus-Forscherin im Zentrum der Laborleck-Kontroverse?

Jane Qiu

Shi Zhengli (rechts) zusammen mit Yang Xinglou bei der Probenentnahme.

(Bild: Jane Qiu)

Shi Zhengli arbeitet am Wuhan Institute of Virology als Expertin für Fledermausviren – und sie steht im Mittelpunkt der Frage, wie SARS-CoV-2 in die Welt kam.

Dieser Ort nimmt in der außergewöhnlichen Geschichte der COVID-19-Pandemie einen entscheidenden Platz ein: Als führendes Zentrum für Coronavirus-Forschung war das Wuhan Institute of Virology, kurz WIV, die erste Einrichtung, die das neuartige Virus isolierte [1] und als erste auch sein Genom sequenzierte. Dahinter steckte die Virologin Shi Zhengli, die mit ihrem WIV-Labor seit Jahren daran arbeitet, virale Genome von Fledermausviren zu sequenzieren. Sie will verstehen, wie die Mikroorganismen die Fähigkeit erlangen, Menschen zu infizieren. Und dafür hat sie in den letzten 18 Jahren zusammen mit ihrem Team mehr als 20.000 Proben von Fledermauskolonien in ganz China gesammelt.

Shis Arbeit, die ihr den Spitznamen "Chinas Fledermausfrau" eingebracht hat, ist aber auch Gegenstand einer großen Kontroverse. Kritische Forscher und Journalisten – aber auch Politiker – haben die Vermutung geäußert, dass ihre Fledermausproben die Quelle von SARS-CoV-2 sein könnten. So wurde behauptet, dass das Virus per Anhalter nach Wuhan gelangt sein könnte, indem es eines ihrer Teammitglieder bei der Probenahme von Fledermäusen infiziert hat. Andere spekulierten, die lebenden Viren, die ihr Team im Labor gezüchtet hat, könnten die Quelle der Pandemie sein – darunter auch solche, die genetisch manipuliert wurden.

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Seit knapp zwei Jahren sind wir mittlerweile mit dem Coronavirus und der Pandemie konfrontiert. Der große Themenkomplex liefert viel Material für die Berichterstattung. Hier gibt es eine Artikel-Auswahl über neue Varianten, Symptome wie Long Covid und Neues zu den Impfstoffen.

Die Welt hoffte, dass die Weltgesundheitsbehörde WHO Aufklärung bringen könnte. Die Aufgabe ihres eigens nach China geschickten Teams bestand darin, zu untersuchen, wann und wo die Pandemie ausgebrochen war und wie das neue Virus auf den Menschen überging. Der WHO-Bericht, der im März letzten Jahres veröffentlicht wurde, [20] kam zu dem Schluss, dass es "extrem unwahrscheinlich" sei, dass COVID-19 durch einen Laborunfall verursacht wurde. Als wahrscheinlichste Situation stufte das Team ein, dass das Virus von Fledermäusen über ein Zwischentier auf den Menschen übergesprungen war. Ihre Ergebnisse, die durch in Fachzeitschriften veröffentlichte Forschungsergebnisse und laufende Studien gestützt werden [21], legen nahe, dass die Pandemie wahrscheinlich auf dem Huanan-Meeresfrüchte-Großmarkt im Zentrum von Wuhan [22] begann, wo lebende Säugetiere verkauft wurden und die meisten der frühen COVID-19-Fälle auftraten.

Doch nicht alle stimmten dem zu – insbesondere gab es Kritik an der Unabhängigkeit des Teams und der Transparenz der chinesischen Gastgeber. Doch die Mehrheit der Virologen und Experten für Infektionskrankheiten, insbesondere diejenigen, die sich direkt mit der Frage des Ursprungs der Pandemie befassen, neigen immer noch zu dieser Theorie – sofern nicht neue Beweise auftauchen sollten , die sie vom Gegenteil überzeugen.

Die Übertragung von Tieren auf den Menschen "war in den vergangenen Jahrzehnten der Auslöser für fast jede größere Epidemie", sagt Shis langjähriger Mitstreiter Linfa Wang, ein Experte für neue Infektionskrankheiten an der Duke-National University of Singapore Medical School und Mitglied des WHO-Teams, das 2003 die Ursprünge der ersten Inkarnation von SARS untersuchte – einer tödlichen Infektionskrankheit, die durch ein Coronavirus verursacht wurde, das heute als SARS-CoV-1 bekannt ist. An dieser Krankheit erkrankten zwischen 2002 und 2004 weltweit 8.000 Menschen und fast 800 starben. "Diese Übertragung ist ein gängiger und gut dokumentierter Weg", sagt er.

Doch ein Jahr nach dem Besuch der WHO in Wuhan haben die Seuchendetektive noch immer kein verantwortliches Tier oder andere unbestreitbare Beweise für einen natürlichen Ursprung des Virus gefunden. Kritiker stellen auch die Schlussfolgerungen des WHO-Teams in Frage – unter anderem weil eines seiner Mitglieder, Peter Daszak, Ökologe und Präsident der EcoHealth Alliance, potenzielle Interessenkonflikte hat. Er ist ein prominenter Verfechter der Theorie des natürlichen Ursprungs von SARS-CoV-2.

Die Spekulationen über die Möglichkeit eines Laborunfalls haben mittlerweile stark zugenommen. Der Verdacht wird geschürt durch Bedenken hinsichtlich der Biosicherheit im Labor in Wuhan. Zudem gibt es politische Spannungen zwischen China und den USA und das allgemeine Gefühl, dass man der chinesischen Regierung nicht trauen könne.

Wissenschaftler wie David Relman, Experte für Mikrobiologie und Biosicherheit an der Stanford University, geben sich sogar "bestürzt über die Art und Weise, wie die Theorie eines Laborlecks abgetan" wurde. Er half dabei, eine Gruppe von 18 Wissenschaftlern zu organisieren, die im Mai letzten Jahres ein in "Science" veröffentlichtes Schreiben unterzeichneten [23], in dem sie weitere Untersuchungen zu einem möglichen Labor-Unfall forderten. (Mindestens zwei der Beteiligten haben sich später von dem Brief distanziert [24], nachdem sie mitbekamen, dass er die Laborleck-Theorie antrieb.) Kurz darauf wies auch US-Präsident Joe Biden seine Geheimdienste an, die Untersuchung der Ursachen der Pandemie zu intensivieren. Aus dem im Oktober freigegebenen Bericht geht hervor, [25] dass die Untersuchung zu "keinem eindeutigen Ergebnis" führte.

Im Dezember 2020, einen Monat vor dem Besuch der WHO, begab auch ich mich auf die Suche nach Antworten. An einem kalten Nachmittag traf ich Shi Zhengli zum ersten Mal persönlich. Wir hatten Anfang des Jahres für einen im "Scientific American" veröffentlichten Artikel [26] miteinander gesprochen. Der Zugang, den sie mir gewährt hat, war erstaunlich. Sie spricht nur selten mit der Presse – und ihre Kontakte zu Journalisten, die für westliche Medien schreiben, beschränken sich normalerweise auf E-Mails und SMS. Sie meinte, dass sie mit mir sprechen würde, weil ich aufgrund meines wissenschaftlichen Hintergrunds – ich war Molekularbiologin – "die Nuancen und die Komplexität ihrer Arbeit" verstehen könne. Außerdem verstünde ich aufgrund meiner Herkunft China und könne mich in meiner Muttersprache verständigen. So habe ich auch die Interviews geführt.

Wir trafen uns also zum Mittagessen und machten anschließend einen Spaziergang in einem nahe gelegenen Park. Ein paar Tage später besuchte ich dann den städtischen Campus des Instituts im Zentrum von Wuhan – etwa 20 Kilometer von dem Vorort entfernt, den das WHO-Team später besichtigte. Shi ist eine zierliche Frau, hat kurzes gewelltes Haar, das ordentlich gekämmt ist. Ihre Stimme ist hoch und angenehm, man merkt, dass sie als Hobby singt. An diesem Tag trug sie einen beigen Pullover und blaue Jeans. Als wir zu anderen Teilen ihres Labors gingen – den Tiefkühltruhen, in denen Fledermausproben aufbewahrt werden, und den Räumen für die Kultivierung von Zellen in Petrischalen – erklärte sie mir, dass ihr Team aus etwa drei Dutzend Forschern bestehe. Das ist viel für ein chinesisches Labor, aber es ist nicht der gigantische Forschungsbetrieb, den sich viele Außenstehende vorstellen. "Ich verfüge nicht über eine Armee an Forschern oder unbegrenzte Ressourcen", sagte sie. Bis zum Ausbruch der Pandemie war die Coronavirus-Forschung kein Trendthema und konnte daher auch nicht leicht Finanzmittel anziehen.

Shi gehört zu der seltenen Sorte von Virologen, die sich in der Natur bei der Probenentnahme genauso wohl fühlen wie im Labor. Sie wuchs in einem kleinen Dorf in der zentralchinesischen Provinz Henan auf und verbrachte die meiste Zeit ihrer Kindheit in den Bergen. Sie betrachtet sich selbst als nicht besonders ehrgeizig. Als sie Ende 1987 ihren Abschluss an der renommierten Wuhan-Universität machte, sagte sie mir: "Ich dachte mir, ich hätte mein berufliches Ziel erreicht, und der nächste Schritt wäre nun, zu heiraten und Kinder zu bekommen." Der Hauptgrund für ihr Studium an diesem Ort war, dass sie in der gleichen Stadt wie ihr damaliger Freund wohnen wollte. Da China jedoch damals in die Entsendung vielversprechender junger Wissenschaftler ins Ausland Geld steckte, ergriff Shi diese Gelegenheit – und ging für ihren Doktortitel nach Frankreich.

Im Jahr 2000 promovierte sie an der Université Montpellier 2. Es war eine ungewöhnliche Entscheidung, da sie kein Französisch sprach – und eine harte, da sie ihren kleinen Sohn in China zurücklassen musste. Das Stipendium reichte nicht aus, um eine junge Familie zu ernähren. Aber die Erfahrung hinterließ bei ihr einen positiven Eindruck; sie schätzte vor allem die westliche Kultur, in der "kritisches und unabhängiges Denken und ein Nicht-der-Masse-Folgen" geschätzt werden. "Ohne diese Dinge kann man keine hervorragende Wissenschaft betreiben. Das ist etwas, was China wirklich besser machen muss."

Anschließend kehrte sie an das Institut in Wuhan zurück, wo sie sich bis 2004 hauptsächlich mit Problemen in der Aquakultur beschäftigte, mit Infektionen und Schädlingen. Zu jener Zeit war die Welt noch von SARS betroffen – und Wang, der Spezialist für Infektionskrankheiten an der Duke-NUS, arbeitete in Australien und suchte in China nach Virologen, die bei der Suche nach den Ursprüngen der neuen Krankheit helfen würden. Shi ergriff die Gelegenheit und schloss sich einem internationalen Team an, das Blut, Urin, Speichel und Kot von Fledermauskolonien in Bergregionen in ganz China sammelte. Innerhalb eines Jahres fanden sie SARS-ähnliche Coronaviren in den Tieren, doch es dauerte fast ein Jahrzehnt, bis sie beweisen konnten, dass Fledermäuse auch die Quelle der Ansteckung waren. Durch ihre Zusammenarbeit wurden Shi und Wang zu Freunden, die auch schon mal zu Karaoke-Duetten ansetzten. Er erhielt den Spitznamen "Feldermausmann", sie den der "Fledermausfrau".

Während Shi mir ihr Labor zeigt, weist sie auf die Tiefkühltruhen hin, in denen das Team Zehntausende von Fledermausproben in einem chemischen Cocktail aufbewahrt. Sie erzählt mir, wie virushaltige Proben vor Ort entweder auf Trockeneis gelagert oder in flüssigem Stickstoff gefroren werden, bevor sie in spezielle, doppelt verschlossene Truhen im Labor in Wuhan gebracht werden. Nur bestimmte Mitarbeiter hätten Zugang zu diesen Proben; sie benötigen die Genehmigung von zwei leitenden Mitarbeitern, von denen jeder über einen eigenen Schlüssel für die beiden Schlösser verfügt. Jeder Zugang zu den Proben werde protokolliert.

Der Schwerpunkt ihrer Forschung in den letzten 18 Jahren, so erklärte sie, lag in der Suche nach Fledermausviren, die eng mit SARS-CoV-1 verwandt sind – und auf der Frage, wie diese neue Eigenschaften entwickeln könnten, die es erlauben, Menschen zu infizieren. Sie erläuterte diesen Prozess, der damit beginnt, dass jede Fledermausprobe getestet wird, um festzustellen, ob sie Coronaviren enthält – unter Verwendung der gleichen PCR-basierten Technik wie bei den heute so bekannten COVID-19-Tests. Alle Coronaviren enthalten ein Gen, das ein Enzym namens RdRp kodiert, das den Viren bei der Vermehrung hilft, indem es weitere Kopien des Genoms erstellt. Wenn das charakteristische RdRp in einer Fledermausprobe auftaucht, ist das ein verräterisches Zeichen dafür, dass man es mit einem Coronavirus zu tun hat.

Schon der schiere Umfang von Shis Sammlung erregte mein Unbehagen. Es sind mehr als 20.000 Fledermausproben. Allerdings enthielten im Durchschnitt nur 10 Prozent Coronaviren. Und nur 10 Prozent davon seien wiederum eng mit SARS-CoV-1 verwandt. In all den Jahren habe ihr Team etwa 220 solcher Viren identifiziert. Die Ergebnisse, meinen Virologen wie etwa Edward Holmes von der Universität Sydney, hätten wertvolle Einblicke in die Evolutionsgeschichte der Coronaviren [27] geliefert – und die Art und Weise, wie sie genetische Varianten erzeugen. [28]

Und jedes Mal, wenn das Team einen Fledermausverwandten von SARS-CoV-1 findet, so Shi, stelle man sich die gleichen Fragen: Wie bedrohlich ist das Virus für andere Tierarten, einschließlich Mensch? Was müsste geschehen, damit es zu einem Virus wird, das wie SARS-CoV-1 große Epidemien auslösen kann?

Eine wichtige Methode, um zu testen, ob sich ein Coronavirus zu etwas Bedrohlicherem entwickeln kann, besteht darin, zu prüfen, ob sich sein Spike-Protein – der Bereich des Virus, das ihm ein kronenartiges Aussehen verleiht – an ein Molekül namens Angiotensin-konvertierendes Enzym 2 (kurz ACE2) anheften können, das auf der Oberfläche der Zellen der meisten Wirbeltiere vorhanden ist. Um herauszufinden, ob ein Virus das Potenzial hat, Menschen zu infizieren, sequenziert das Team von Shi also zunächst das Spike-Gen, vergleicht es mit dem von SARS-CoV-1 und untersucht am Computer seine Struktur und die Fähigkeit, an ACE2 zu binden.

Die Forscher verwenden laut Shi auch Pseudoviren – Viren, deren Fähigkeit, ihr Genom zu kopieren, ausgeschaltet ist – um zu testen, ob der Spike des neuen Fundes ihnen helfen könnte, in Zellen verschiedener Tiere einzudringen. Wissenschaftler in aller Welt nutzen diesen Ansatz, um neue Krankheitserreger zu untersuchen, ohne auf lebende Viren zurückgreifen zu müssen. Die Methode kann mit relativ kostengünstigen Biosicherheitsmaßnahmen der der Stufe 2 (BSL-2) durchgeführt werden. Die Forscher tragen Handschuhe und Laborkittel und arbeiten an den Proben in speziellen Schränken mit Luftfilterung und Unterdruck, um Krankheitserreger im Inneren zu halten.

Der erste Schritt bei dieser Art von Arbeit besteht darin, genetisches Material für die genomische Sequenzierung zu extrahieren, was alle Mikroorganismen in der Probe inaktivieren würde. Dies und die anschließenden Studien zum Zelleintritt mit Pseudoviren sind bewährte und als sicher geltende Verfahren.

Pseudoviren sind zwar ein nützliches Instrument. Doch das Spike-Protein ist nicht der einzige Faktor, der die Fähigkeit eines Virus, Zellen zu infizieren, bestimmt. Der Ansatz kann zum Beispiel auch nicht zeigen, wie genau ein Virus Zellen angreift und erkranken lässt, wie es sich von einer Zelle zur anderen ausbreitet oder wie ein Erreger der Immunantwort des Körpers entgehen kann. Diese Fragen, die für die Entwicklung von Arzneimitteln und Impfstoffen von entscheidender Bedeutung sind, könnten nur mit einem echten, voll funktionsfähigen Virus beantwortet werden, sagen Experten. Und genau diese gefährlichere Arbeit steht im Mittelpunkt der Kontroverse um Shi.

Die Isolierung replizierungsfähiger Coronaviren aus Fledermausproben ist schwierig – vor allem, weil nur ein kleiner Teil der Proben überhaupt einen Hauch der Viren enthält (wohingegen es in Proben von Menschen mit SARS oder COVID-19 oft von Coronaviren wimmelt). Um Viren zu züchten, müssen sie Zellen erhalten, die sie infizieren können. Mehrere Labore in der ganzen Welt haben versucht, Fledermaus-Coronaviren herzustellen oder sie am Leben zu erhalten – und sind dabei gescheitert. Bis Januar 2021 war das Labor in Wuhan das einzige [29], dem dieses Kunststück gelang, sagt Stephen Goldstein, Coronavirus-Experte an der Universität von Utah in Salt Lake City. Yang Xinglou war die Person dahinter, eine Forschungsführungskraft in Shis Team.

Ich traf Yang an einem schwülen Nachmittag im Mai 2021 auf dem Hochsicherheits-Campus des W IVam Rande von Wuhan. Er holte mich am Haupttor ab und trug ein türkisfarbenes T-Shirt und Jeans. Yang ist Mitte 30, schlank und von mittlerer Größe. Sein Haar war ordentlich gestutzt, aber im Wind tanzte plötzlich sein Pony über eine Stirn, die von dicken Augenbrauen dominiert ist. Ich füllte ein Anmeldeformular aus und zeigte dem Sicherheitspersonal meinen Pass und wir gingen über den gepflegten Campus zu Yangs Büro.

Anstatt die gewundene, von Überwachungskameras gesäumte Auffahrt für Autos zu nehmen, gingen wir auf einen schmalen Weg, der an einem kleinen See vorbeiführt. Auf der anderen Seite konnte ich ein strenges quadratisches Gebäude sehen, etwa vier Stockwerke hoch und robust, mit silberner Fassade und wenigen Fenstern. Darin befindet sich Chinas Vorzeigelabor für BSL-4 – das Kronjuwel der mikrobiologischen Arbeit des Landes mit höchster Biosicherheitsstufe.

Ich habe die BSL-4-Einrichtung nicht betreten: Es gibt strenge Protokolle, die es jedem Besucher schwer machen, dort hineinzukommen, geschweige denn der Presse. Ich besuchte jedoch das nahe gelegene BSL-3-Labor, in dem mit weniger tödlichen Krankheitserregern gearbeitet wird. Nachdem wir weitere Sicherheitskontrollen durchlaufen hatten, betraten wir den Kontrollraum, in dem große Bildschirme zeigten, was es dort gibt: einen Vorbereitungsraum, drei Räume für die Zellkultivierung, ein Raum für die Arbeit mit kleineren Tieren wie Mäusen und Ratten, ein spezieller Raum für die Desinfektion sowie die Eingänge zum Labor und zum Kontrollraum selbst. Während ich zuschaute, legte ein Forscher Arbeitsmaterialien in eine Dekontaminationskammer und zwei Wissenschaftler in weißen Ganzkörperschutzanzügen saßen vor ihrer Biosicherheitswerkbank und arbeiteten mit Reihen von kleinen Fläschchen hinter einer Glasscheibe. Ein schwarzer Schlauch an der Rückseite ihrer Anzüge leitete gefilterte Luft hinein, sie trugen abgeschlossene Masken.

Hier habe Yang am 5. Januar 2020 erstmals erfolgreich SARS-CoV-2 aus einer Patientenprobe isoliert, sagt er, das erste Isolat des neuen Coronavirus. "Welchen Raum haben Sie benutzt?" fragte ich. "Zellkulturraum 3", erklärte er mir und zeigte auf einen der Bildschirme. "Es war in diesem Biosicherheitsschrank."

Es war ein ganz gewöhnliche Arbeitsgerät in einem ganz gewöhnlichen Raum, mit zwei großen Flaschen Desinfektionsmittel und zwei Abfallbehältern für biologische Gefahrstoffe hinter der Glasscheibe – und dennoch war es der Ort, an dem dieser Meilenstein im Kampf gegen die größte Pandemie seit einem Jahrhundert erfolgte.

Seit 2008 arbeitet Yang am Institut mit Krankheitserregern in Fledermäusen und Nagetieren. Er entwickelt und verfeinert dabei Verfahren zum Isolieren von Viren. Auf dem Weg dorthin gab es viele Misserfolge, aber 2012 gelang ihm der große Wurf: Eine Probe, die sein Team aus einer Fledermaushöhle in der Nähe von Kunming entnommen hatte, infizierte erfolgreich eine Art von Affennierenzellen namens Vero E6, die auf ihrer Oberfläche große Mengen an ACE2 aufweisen. Sobald ein lebendes Virus zur Verfügung stehen, können die Wissenschaftler seither direkt testen, ob es eine potenzielle Bedrohung darstellt.

Das war ein großer Durchbruch: Zum ersten Mal konnten die Forscher nachweisen, dass Fledermaus-Coronaviren in einer Petrischale auch Zellen anderer Spezies, einschließlich Schweinen und Menschen, infizieren können, indem sie an deren ACE2-Rezeptoren binden. Das Virus war zu 95 Prozent identisch mit SARS-CoV-1. Das Team nannte es "WIV1", um darauf hinzuweisen, dass es am Wuhan Institute of Virology isoliert wurde. Ihre Studie, die 2013 in "Nature" veröffentlicht wurde, [30] lieferte eindeutige Beweise dafür, dass SARS-CoV-1 seinen Ursprung in Fledermäusen hat.

In all den Jahren seiner Arbeit ist es Yang nur gelungen, drei Fledermaus-Coronaviren zu isolieren [31]allesamt enge Verwandte von SARS-CoV-1. [32] Vor kurzem gelang es seinem Team dafür, drei Fledermaus-Coronaviren aus ihren genomischen Sequenzen zu synthetisieren. Alle sechs Viren sind nahe Verwandte von SARS-CoV-1. Keines von ihnen, so meinen Virologen, mit denen MIT Technology Review sprach, könnte die Quelle von SARS-CoV-2 sein: Sie sind einfach zu unterschiedlich.

In einer Fledermausprobe wurde jedoch ein anderes Virus gefunden, das SARS-CoV-2 sehr viel ähnlicher ist - 96 Prozent identisch. Es hat seine eigene kuriose Entstehungsgeschichte und ist in einigen Teilen der wissenschaftlichen Gemeinschaft und darüber hinaus zum Hauptverdächtigen bei der Suche nach den Ursprüngen der Pandemie geworden. Es wird RaTG13 genannt.

Ende April 2012 tauchte in einer stillgelegten Kupfermine in der Nähe der Stadt Tongguan im Kreis Mojiang in der südwestchinesischen Provinz Yunnan eine seltsame Krankheit auf. Sechs Arbeiter, die in der Mine Fledermausguano entfernt hatten, erkrankten an lungenentzündungsähnlichen Symptomen – Husten, Kopfschmerzen, Fieber und Gliederschmerzen – und wurden in ein Krankenhaus in der Provinzhauptstadt Kunming eingeliefert. Einer der Männer starb innerhalb von 12 Tagen, zwei erholten sich innerhalb eines Monats, gefolgt von einem weiteren Todesfall am 12. Juni.

Eine Woche später nahm der führende Atemwegsmediziner Chinas, Zhong Nanshan, an einer Konsultation mit Kollegen im Krankenhaus von Kunming teil, um zu entscheiden, wie die beiden verbleibenden Mojiang-Patienten behandelt werden sollten. Zhong, der früher Direktor des Instituts für Atemwegserkrankungen in Guangzhou war, hatte bereits eine entscheidende Rolle im Kampf gegen SARS gespielt. Er stellte fest, dass die Labortests und CT-Scans der Bergleute denen von Patienten mit SARS, das seit 2004 nicht mehr aufgetreten war, verblüffend ähnlich waren. Die Ärzte in Kunming, so erzählte er mir, vermuteten, dass ein Pilz die Krankheit verursacht hatte – denn Pilzinfektionen in Verbindung mit Höhlen kommen in Yunnan hin und wieder vor. Aber Zhong selbst dachte, dass ein Virus beteiligt sein könnte. Er bat Shis Team, die Patientenproben auf Virusinfektionen zu untersuchen, aber sie konnten keine Hinweise auf eine Infektion mit Coronaviren [33] oder anderen bekannten Viren finden.

Im Jahr 2020, als die COVID-19-Pandemie bereits wütete, fragten sich einige Wissenschaftler – darunter auch Biosicherheitsexperte Relman aus Stanford –, ob Shi sich geirrt hatte. Vielleicht, so sagen sie, war ein SARS-ähnliches Coronavirus an dem Ausbruch schuld. Vielleicht gab es sogar eine Verbindung zwischen der Krankheit, die die Bergleute in Mojiang befallen hatte – und COVID-19.

Dieser Verdacht wurde im Mai 2020 erhärtet, als ein anonymer Twitter-Nutzer namens @TheSeeker268, der behauptet, er sei ein 30-jähriger Architekt und Filmemacher aus der indischen Stadt Bhubaneswar, eine Doktorarbeit von Huang Canping aus dem Jahr 2016 [34] im chinesischen Internet entdeckte. Huang war Student von George Gao, dem Generaldirektor des chinesischen Zentrums für Seuchenschutz (China CDC) in Peking – und in seiner Dissertation wird das Wuhan Institute of Virology zitiert, das behauptet habe, dass vier der Bergleute aus Mojiang Antikörper gegen SARS-CoV-1 hatten. Wissenschaftler wie Monali Rahalkar, Ökologe mit Spezialgebiet Mikroorganismen am MACS Agharkar Research Institute in Pune, Indien, der selbst starker Befürworter der Laborleck-Theorie ist, sagten, dies deute darauf hin, dass die Bergleute mit einem SARS-ähnlichen Coronavirus infiziert waren. In den sozialen Medien und in der Presse kam es zu Vorwürfen, "Fledermausfrau" Shi habe versucht, diese Tatsache zu vertuschen.

Die direkt an der Arbeit beteiligten Wissenschaftler bestreiten dies als Spekulation. Shi sagte, dass ihr Team keine solchen Antikörper gefunden hat, obwohl sie einräumte, dass einige frühe Tests falsch positive Ergebnisse geliefert hätten, die korrigiert wurden, als die Tests vollständig validiert waren. MIT Technology Review war nicht in der Lage, Huang ausfindig zu machen, aber Gao meinte, dass sein Labor den SARS-Antikörperstatus der Bergleute nie analysiert habe und dass Huangs Aussage – die möglicherweise auf den falsch-positiven Ergebnissen beruht, die Shi bei einem internen Treffen im Jahr 2012 diskutiert hatte – falsch war. Nach dem Ausbruch von COVID-19 untersuchte Shis Team die Mojiang-Proben erneut, um nach Spuren von SARS-CoV-2-Proteinen zu fahnden. [35] Es fand keine.

"Es gibt viele Erreger, die ähnliche Lungenentzündungssymptome wie SARS und COVID-19 hervorrufen können", sagt Lungenspezialist Zhong. Einige Kliniker vor Ort vermuten immer noch, dass die Bergleute an einem Pilz erkrankt sind. "Es bleibt bis heute ein Rätsel." Es ist nicht ungewöhnlich, dass Atemwegserkrankungen eine unbekannte Ursache haben, aber auch wenn Shi nicht herausfinden konnte, woran die Bergleute in Mojiang erkrankt waren, sagte ihr Instinkt ihr, dass hier etwas Interessantes im Gange sein könnte. "Welche Viren lauerten in dieser Höhle?", fragt sie sich. Zwischen 2012 und 2015 unternahm ihr Team dann mehr als ein halbes Dutzend Ausflüge zu dem Schacht, der etwa 1.800 Kilometer von Wuhan entfernt liegt. Sie sammelte 1.322 Fledermausproben.

Das Team suchte nach dem Coronavirus-spezifischen RdRp-Gen. Nachdem sie es fanden, suchten sie es weiter. Schließlich stellte sich heraus, dass die Fledermausproben fast 300 Coronaviren enthielten. [36] Neun davon gehörten zur gleichen Virusgruppe wie SARS-CoV-1 – den so genannten Beta-Coronaviren –, obwohl ihre RdRp-Gene recht unterschiedlich waren. Sie seien "entfernte Cousins", wie Shi erklärt.

Acht der neun Viren waren eng miteinander verwandt [37], aber eines – aus einer einzigen Kotprobe mit der Bezeichnung "4991" – wies eine ganz andere genetische Signatur auf. "Warum seid ihr so unterschiedlich?" fragte sich Shi mit Blick auf die Viren. Doch schließlich legte sie die Probe zurück in den Gefrierschrank. Denn ihre Arbeit bestand darin, nach Fledermausviren zu suchen, die möglicherweise SARS-ähnliche Epidemien auslösen könnten, – und keine der Mojiang-Sequenzen schien "direkt relevant für unsere Untersuchung zu sein", erklärte sie mir. "Sie standen also nicht im Mittelpunkt unserer Forschung."

Im Jahr 2018 wurde Probe 4991 jedoch wieder hervorgeholt. Das Wuhan Institute of Virology hatte ein neues Sequenziergerät für den Schreibtisch angeschafft, mit dem sich die genetischen Geheimnisse eines Virus viel schneller und kostengünstiger entschlüssen lassen. 4991 gehörte zur ersten Gruppe von Proben, die mit dem neuen Gerät sequenziert wurden. Die Analyse bestätigte, dass sich das in der Probe enthaltene Virus stark von SARS-CoV-1 unterscheidet; die beiden Viren sind im gesamten Genom zu 80 % identisch. (Die Genome der anderen acht Mojiang-Viren, die nach der Pandemie sequenziert wurden, zeigen, dass sie im gesamten Genom nur zu etwa drei Vierteln mit den SARS- und COVID-19-Erregern identisch sind.) Es war für die Forscher wie immer interessant, neue Viren zu finden, aber es schien nichts derart Besonderes zu sein, über das sich ein neues Paper lohnte, sagte Shi: "Es schien kein bemerkenswertes Virus zu sein."

Es war ihrer Einschätzung nach in der Tat so unauffällig, dass man es für entbehrlich hielt: Bei den Versuchen, das Genom zusammenzusetzen, verbrauchten die Wissenschaftler die gesamte Probe. Im Jahr 2018 existierte das Virus nur noch als Sequenz in der Datenbank des WIV. In den meisten Fällen wäre das das Ende der Geschichte gewesen: Das obskure, irrelevante Virus wäre in Vergessenheit geraten. Aber das tat es nicht.

Am 31. Dezember 2019 gab das Gesundheitsamt der Stadt Wuhan seine erste öffentliche Erklärung zu einem merkwürdigen Ausbruch ab. Man erklärte, die Mediziner untersuchten gerade die Ursache von 27 Lungenentzündungsfällen. Das Labor von Shi gehörte zu den ersten, die die Krankheit offiziell erofrschen durften – und Si Haorui, Student und Labormitarbeiter von Shi, war Teil des Teams. Die Gruppe arbeitete rund um die Uhr und hatte in fünf der sieben Patientenproben Coronavirus-RdRp-Gene gefunden. Ihr nächster Schritt war die Sequenzierung des viralen Genoms. "Das ist meine Spezialität", sagte Si, ein schlanker Mann Mitte 20, an dem Tag, als wir uns in der Sequenziereinrichtung des Instituts trafen. "Ich wusste, es stand viel auf dem Spiel. Ich wollte es nicht vermasseln."

Um 8:30 Uhr stand das Genom fest. Die Sequenz, die nun als WIV04 bekannt war, war fast vollständig und von hoher Qualität: Es handelte sich um ein Coronavirus. Shi gab die Sequenz in die internen und internationalen Datenbanken ein, um zu sehen, ob sie neu war. Die nächste Übereinstimmung war die Sequenz aus der Probe 4991, die das Team 2013 in Mojiang entnommen hatte. Das Virus, das nun plötzlich nicht mehr obskur oder irrelevant war, verdiente nun einen offiziellen Namen. Das Team nannte es RaTG13 - Ra für die Fledermausart, in der es gefunden wurde, Rhinolophus affinis; TG für Tongguan, die Stadt, in der es gefunden wurde, und 13 für das Jahr seiner Entdeckung. Wie sie einen Monat später in Nature berichteten [38], war es zu 96 Prozent identisch mit dem Wuhan-Coronavirus, das bei den neuen Patienten gefunden wurde.

Die Tatsache, dass RaTG13 dem SARS-CoV-2 so ähnlich ist, hat Misstrauen geweckt. Kritiker wie Alina Chan – eine auf Gentherapie spezialisierte Molekularbiologin am Broad Institute des MIT und der Harvard University in Cambridge, Massachusetts – fragen sich, warum in Shis im Februar 2020 veröffentlichtem "Nature"-Artikel [39] nicht erwähnt wird, dass RaTG13 aus der Mojiang-Mine stammt, in der Menschen an eienr mysteriösen Lungenentzündung erkrankt waren. Chan, die der Theorie eines Laborlecks sehr zugeneigt ist, hat auch dazu beigetragen, dass sie weit verbreitet wurde. Sie hat auf Twitter ein großes Publikum. Sie hat auch den "Science"-Brief [40]unterzeichnet, in dem sie und ihre Kollegen zu weiteren Untersuchungen eines möglichen Lab Leak aufruft. In "Viral", einem Buch, das sie gemeinsam mit dem britischen Wissenschaftsautor Matt Ridley verfasst hat, schreibt sie, dass das WIV in dieser Sache "sparsam mit der Wahrheit" umgegangen sei.

Shi versuchte selbst, diesen Verdacht zu zerstreuen, indem sie im November 2020 in "Nature" [41] einen Nachtrag zu ihren Mojiang-Studien veröffentlichte, um zu zeigen, dass das Team in den Proben der Bergleute keine Anzeichen einer Coronavirus-Infektion gefunden hatte. Aber das hat nicht dazu beigetragen, die Spekulationen zu zerstreuen.

Die allgemeine Ähnlichkeit zwischen den beiden Viren ist allerdings kein Beweis dafür, dass RaTG13 die Quelle von COVID-19 ist, so ein im September letzten Jahres in "Cell" veröffentlichter Artikel [42], der von etwa zwei Dutzend führenden Virologen und Experten für Infektionskrankheiten verfasst wurde. Die beiden Viren mögen zwar verwandt sein, gehören aber zu verschiedenen evolutionären Zweigen [43], die sich vor einem halben Jahrhundert auseinanderentwickelt haben, sagt David Robertson, Virologe an der Universität Glasgow im Vereinigten Königreich. "RaTG13 kann sich nicht auf natürliche Weise in SARS-CoV-2 verwandelt haben", sagt er. Auch hätte niemand RaTG13 als Grundgerüst für die Entwicklung von SARS-CoV-2 verwenden können, wie einige Befürworter der Lab-Leak-Theorie behaupten: Die beiden Viren unterscheiden sich in etwa 1.100 Nukleotiden, die über ihr gesamtes Genom verteilt sind – eine Lücke, die für jeden realistischen Versuch zu groß ist. Die Herstellung von SARS-CoV-2 aus RaTG13, so die Virologin Angela Rasmussen von der University of Saskatchewan in Kanada, "hätte eine noch nie dagewesene gentechnische Leistung erfordert".

Unterdessen häufen sich die Beweise für die Theorie des natürlichen Ursprungs. Im vergangenen Jahr haben mehrere vom WIV unabhängige Teams mehr als ein Dutzend enge Verwandte von SARS-CoV-2 in China [44], Japan [45], Laos, Thailand [46]und Kambodscha [47] entdeckt. In einer im September 2021 veröffentlichten Vorabveröffentlichung [48] berichtete ein Team laotischer und französischer Wissenschaftler über die Entdeckung von Viren in Laos, die laut Robertson noch vor einem Jahrzehnt einen gemeinsamen Vorfahren mit SARS-CoV-2 hatten. Diese neuen Entdeckungen seien ein Beweis dafür, dass sich SARS-CoV-2 höchstwahrscheinlich in freier Wildbahn entwickelt hat, sagt Robertson, der nicht an der Studie beteiligt war. "Wir kommen dem Vorläufer von SARS-CoV-2 immer näher", glaubt er.

Aber selbst wenn keine der Fledermaus-Coronavirus-Proben von Shis Team für die Pandemie verantwortlich sind, sind sie nicht die einzigen Viren, mit denen die Wissenschaftler arbeiten. Ein Teil ihrer Forschung besteht darin, zu untersuchen, wie die Maschinerie der Viren funktioniert – und dazu gehört auch das genetische "Mix and Match" verschiedener Krankheitserreger, um die Funktion der Virusgene zu untersuchen. Könnte eines dieser Chimären die Quelle der Pandemie gewesen sein? Auch hierzu wollte ich mit Shi sprechen.

"Fledermäuse sind in der traditionellen chinesischen Kultur ein Symbol des Segens", sagt sie. Man nennt sie "bian fu", was so viel wie "flach" und "Segen" bedeutet. "Wir sehen oft Fledermausmotive in Schmuck, Keramik und Gebäuden selbst in abgelegenen Dörfern", sagte sie. Als die Sammlung von Fledermaus-Coronavirus-Sequenzen der Forscher wuchs – vor allem nach 2012, als es ihnen erstmals gelang, lebende Viren zu züchten – wollten sie die genetischen Bestandteile ermitteln, die es diesen Viren ermöglichen, Menschen zu infizieren, damit Wissenschaftler womöglich Medikamente und Impfstoffe gegen sie entwickeln können.

Shi interessierte sich besonders dafür, ob das Spike-Protein der einzige Faktor ist, der die Fähigkeit eines Coronavirus, Zellen zu infizieren, beeinflusst – oder ob auch andere Teile des Genoms des Erregers eine Rolle spielen. Eine ihrer Fledermaus-Coronavirus-Sequenzen, SHC014, schien ideal für eine solche Untersuchung. Es war im gesamten Genom zu 95 Prozent identisch mit SARS-CoV-1, aber sein Spike war sehr unterschiedlich. Pseudovirus-Studien zeigten, dass es nicht in der Lage war, in Zellen verschiedener Spezies, einschließlich des Menschen, einzudringen. Bedeutete dies, dass das Virus nicht in der Lage war, uns zu infizieren?

Die Wissenschaftler konnten diese Frage nicht direkt prüfen, da es ihnen nicht gelungen war, ein lebendes Virus aus der Fledermausprobe zu isolieren. Aber zwei genetische Ansätze könnten helfen, Licht ins Dunkel zu bringen, glaubten sie. Der eine bestand darin, das Virus aus seiner Genomsequenz zu synthetisieren; der andere darin, herauszufinden, ob SARS-CoV-1 immer noch Krankheiten auslösen könnte, wenn sein Spike durch den von SHC014 ersetzt würde. Shi verfügte jedoch nicht über die notwendigen Instrumente für diese Art von genetischer Arbeit, also wandte sie sich im Juli 2013 per E-Mail an Ralph Baric, einen renommierten Virusgenetiker an der University of North Carolina in Chapel Hill. Sie wollte eine Zusammenarbeit in diesem Bereich vereinbaren.

Die Zusammenarbeit mit Baric sei nicht sehr eng gewesen, sagt Shi. Es gab laut ihr keinen Austausch von Labormitarbeitern. Shis Hauptbeitrag bestand darin, die Genomsequenz von SHC014 zur Verfügung zu stellen, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht war. Die Ergebnisse der Kooperation, die 2015 in "Nature Medicine" veröffentlicht wurden [49], waren überraschend. Es stellte sich heraus, dass sowohl das synthetisierte SHC014 als auch die SARS-CoV-1-SHC014-Chimäre in der Lage waren, menschliche Zellen zu infizieren und Mäuse krank zu machen. Beide waren weniger tödlich als SARS-CoV-1, aber – und das wr besorgniserregend – bestehende Medikamente und Impfstoffe, die gegen SARS wirkten, waren nicht in der Lage, sie zu bekämpfen.

In der Zwischenzeit unternahm Shis Team ähnliche Versuche in ihrem eigenen Labor im Rahmen eines von den US National Institutes of Health finanzierten Projekts, das darauf abzielte, die genetischen Bestandteile zu untersuchen, die es Fledermausviren ermöglichen könnten, SARS-ähnliche Krankheiten beim Menschen auszulösen. Doch während sich Baric in der gemeinsamen Arbeit aus "Nature Medicine" auf den menschlichen Erreger SARS-CoV-1 konzentrierte, verwendete Shi nur dessen Fledermausverwandte – vor allem WIV1 [50], das erste Fledermaus-Coronavirus, das ihr Team isoliert hatte. Das tatsächliche Risiko für den Menschen war unbekannt. Als die Pandemie ausbrach, hatte ihr Team insgesamt etwa ein Dutzend chimärer Viren geschaffen, indem es das Spike-Protein von WIV1 mit dem aus neu identifizierten Sequenzen von Fledermaus-Coronaviren austauschte, von denen nur eine Handvoll menschliche Zellen in einer Petrischale infizieren konnte. [51]

Dabei gab es noch mehr Überraschungen. In einem zuvor unveröffentlichten Experiment, [52] das von den NIH als Reaktion auf eine vom US-Magazin "The Intercept" eingereichte Klage nach dem Informationsfreiheitsgesetz freigegeben wurde, testeten die Forscher die Fähigkeit dreier solcher Chimären, Mäuse zu infizieren, die genetisch so verändert sind, dass sie menschliches ACE2 enthalten. Im Vergleich zum Elternstamm WIV1 wuchsen die drei chimären Viren in der Frühphase der Infektion viel schneller in den Mäuselungen. WIV1 holte bis zum Ende des Experiments dann aber auf.

Die Unterschiede überraschten Shi, aber was sie am meisten verwunderte, war, dass die Chimäre, die bei den infizierten Mäusen den größten Gewichtsverlust verursachte – ein Indikator für die Pathogenität eines Erregers – ausgerechnet WIV1-SHC014 war, dessen Spike dem von SARS-CoV-1 am wenigsten ähnelte. Die Chimäre, deren Spike dem von SARS-CoV-1 am ähnlichsten war, hatte keine Auswirkungen auf das Gewicht der Tiere.

Die Ergebnisse der genetischen Studien in den Laboren von Baric und Shi – die beide mit der in New York ansässigen EcoHealth Alliance von Peter Daszak zusammenarbeiten – haben überzeugende Beweise dafür geliefert, dass das Spike-Protein nicht der einzige Faktor dafür ist, ob ein Virus ein Tier krank machen kann, so die Forscher. "Wir können das Potenzial von Viren, den Menschen zu befallen, nicht nur anhand von Pseudovirus-Assays oder Vorhersagen auf der Grundlage von Genomsequenzen und einer molekularen Modellierung beurteilen", sagt Shi.

Aber: Keine der in Shis Labors erzeugten Chimären war eng mit SARS-CoV-2 verwandt und hätte die Pandemie auslösen können. Es scheint jedoch, dass das Team mindestens ein chimäres Virus, WIV1-SHC014, mit einem sogenannten Funktionsgewinn ("Gain of Function") – also einer höheren Pathogenität – gegenüber dem Elternstamm ausgestattet hätte. Kritiker wie Richard Ebright, Molekularbiologe an der Rutgers University, betrachten dies als jene Art von Gain-of-Function-Forschung, die einer strengen behördlichen Aufsicht unterliegen sollte. Shi entgegnet dem, dass ihr Team in keiner dieser Studien – auch nicht in der Zusammenarbeit mit Baric und EcoHealth – die Absicht gehabt habe, gefährlichere Viren zu schaffen. Die Forscher waren zum Zeitpunkt der Vorbereitung der Studien schlicht nicht davon ausgegangen, dass die Chimären eine erhöhte Übertragbarkeit oder Pathogenität bei Säugetieren aufweisen würden.

Einem NIH-Sprecher zufolge wurde der von Shi gemeinsam mit der EcoHealth Alliance beantragte Zuschuss – der einzige, in dem das WIV explizit ebenfalls indirekt Geld erhalten sollte – von der Behörde geprüft. Die Experten seien zum Schluss gekommen, dass sie nicht in den Bereich der Regulierung der Gain-of-Function-Forschung falle.

Virologen wie Stephen Goldstein von der University of Utah argumentieren, dass solche genetischen Studien dazu beitragen könnten, uns vor künftigen Pandemien zu schützen. Im vergangenen Jahr haben Forschungsteams, darunter auch das von Baric, die Möglichkeit aufgezeigt, so genannte Pan-Coronavirus-Impfstoffe zu entwickeln [53], die gleichzeitig eine Gruppe von Coronaviren blockieren könnten – darunter SARS-CoV-1, SARS-CoV-2, ihre von Shi entdeckten Fledermausverwandten und möglicherweise weitere ähnliche Viren, die noch nicht identifiziert wurden. Im vergangenen September gab das NIH bekannt, dass es 36,3 Millionen US-Dollar für die Fortsetzung dieser Arbeiten zur Verfügung stellen wird [54]. Die Entdeckung neuartiger Viren in der freien Natur und der Einsatz genetischer Techniken zur Untersuchung ihrer Funktion im Labor könnte nach Ansicht der Forscher Wege zur Eindämmung und Behandlung künftiger Krankheitsausbrüche ähnlich wie bei SARS und COVID-19 aufzeigen. Allerdings halfen diese Methoden zumindest bei der aktuellen Pandemie nicht genug, um sie aufzuhalten.

Auch wenn keines der chimären Viren aus Shis Labor die Quelle von COVID-19 war, gibt es weitere Bedenken, dass die Biosicherheitsstandards im Labor in Wuhan nicht streng genug waren, um zu verhindern, dass dortige Forschungsaktivitäten eine Pandemie auslösen. Studien mit lebenden Viren und genetische Experimente an diesen sind von Natur aus riskant. Selbst bei strengsten Biosicherheitsvorkehrungen können Unfälle passieren – und das tun sie auch, wie die Vergangenheit zeigt. Wissenschaftler könnten sich im Labor versehentlich infizieren, durch genetisches Anpassungen könnte unerwartet ein "Supervirus" entstehen, dessen Fähigkeit, aus dem Labor zu entkommen, die Biosicherheitsstufe seiner Elternstämme übersteigt.

Ich fragte Shi, wie China die Coronavirusforschung regelt, um die Risiken zu minimieren. "In China gibt es keine pauschale Regelung der Biosicherheit für die gesamte Coronavirus-Forschung", räumte sie ein. "Alles wird von Fall zu Fall beurteilt." Studien zu SARS-CoV-1 und SARS-CoV-2 müssen beispielsweise in BSL-3-Laboren durchgeführt werden, während die humanen Coronaviren, die Erkältungen verursachen, unter BSL-2-Bedingungen behandelt werden. Doch was ist mit Fledermausviren?

Der Biosicherheitsausschuss des WIV hat vor einem Jahrzehnt entschieden, dass Arbeiten mit Tieren mit BSL-3 durchgeführt werden müssen, während molekulare Arbeiten an Zellkulturen mit Fledermaus-Coronaviren in BSL-2 durchgeführt werden dürfen, allerdings in Biosicherheitskabinen mit Luftfilterung und Unterdruck, um die Viren im Inneren zu halten.

Einige Wissenschaftler wie Ebright halten dies für unsicher. Fledermaus-Coronaviren sind, wie er es ausdrückt, "unklare Erreger" mit unbekannter Virulenz und Übertragbarkeit. "Der einzig akzeptable Ansatz besteht darin, mit einer hohen Biosicherheitsstufe zu beginnen (...} und die Biosicherheitsstufe nur dann herabzusetzen, wenn es sich als sinnvoll erweist", erklärte er mir in einer E-Mail.

Andere sind jedoch nicht der Meinung, dass Shis Arbeit auf laxe Biosicherheitsstandards in China hinweist. Die vorherrschende Meinung unter den Wissenschaftlern weltweit war – und ist es in gewissem Maße immer noch –, dass sich Fledermaus-Coronaviren höchstwahrscheinlich erst in einem Zwischenwirt weiterentwickeln müssen, bevor sie Menschen infizieren könnten. "Der Biosicherheitsausschuss jeder einzelnen Einrichtung muss die realen Risiken mit den potenziellen Risiken abwägen", sagt Rasmussen von der University of Saskatchewan und fügt hinzu, dass die Einstufung des WIV zum damaligen Zeitpunkt angemessen war.

Und dennoch: In einem Artikel, der im April 2020 veröffentlicht wurde, [55] schreibt Josh Rogin, Kolumnist der "Washington Post", dass US-Beamte nach ihrem Besuch des WIV im Jahr 2018 zwei offizielle Warnungen wegen unzureichender Biosicherheit im Labor nach Washington zurückgeschickt hätten. Rogins anonyme Quellen teilten ihm mit, die geheimen Botschaftsberichte hätten Alarm auslösen sollen, was die Biosicherheit in China anbetrifft. Ein Beamter der Trump-Regierung sah in den Dokumenten gar "ein weiteres Beweisstück für die Möglichkeit, dass die Pandemie das Ergebnis eines Laborunfalls in Wuhan war".

Der Beitrag markierte einen Wendepunkt in der Debatte über die Ursprünge von COVID-19 und katapultierte die Labor-Theorie in den Mainstream. Seither argumentieren auch seriöse Medien, dass das WIV eine "schlampige" Biosicherheitspraxis an den Tag gelegt haben könnte.

In den Botschaftsberichten selbst [56], die erst einige Monate später – allerdings teilweise geschwärzt – veröffentlicht wurden, wird zwar vor einer unzureichenden Personalausstattung gewarnt, aber es werden keine konkreten gefährlichen Praktiken im Bereich der biologischen Sicherheit genannt. In einem Schreiben vom 19. Januar 2018 wurde der Mangel an geschultem Personal, das "für den sicheren Betrieb dieses Hochsicherheitslabors erforderlich ist", in einem Abschnitt erwähnt, in dem erörtert wurde, wie ein Mangel an geschultem Personal "die Forschung behindern" könnte. Im zweiten Bericht, der drei Monate später übermittelt wurde, heißt es, dass dies "noch mehr Möglichkeiten für den Austausch von Experten eröffnet." In einem Bericht vom Januar wurde auch die Fähigkeit des Wuhan-Instituts hervorgehoben, "trotz Einschränkungen produktive Forschung zu betreiben" – und es hieß, dass die Arbeit "die fortgesetzte Überwachung SARS-ähnlicher Coronaviren aus Fledermäusen" und die "Untersuchung der Schnittstelle zwischen Tier und Mensch" entscheidend für die Vorhersage und Vorbeugung künftiger Ausbrüche von Coronaviren sei. Rogin teilte der MIT Technology Review in einer E-Mail mit, dass er weiter zu seiner Berichterstattung in dem Artikel steht.

Shi erklärt all das anders. Sie meint, der Mangel an geschultem Personal bedeute, dass China seine Einrichtungen in Wuhan nicht optimal nutzen könne. Aber das bedeute nicht, dass ungeschultes Personal in BSL-3- oder BSL-4-Laboren eingesetzt werde. Das WIV halte sich an die internationalen Normen für Biosicherheit und ihre Forschung vor der Pandemie habe sich auf Fledermausviren konzentriert, die mit dem ursprünglichen SARS-Virus eng verwandt seien. "RaTG13 war der engste Verwandte von SARS-CoV-2, den wir je hatten", sagt sie. "Was wir nicht hatten, kann auch nicht nach außen gelangt sein."

Shi wies auch Vorwürfe zurück, dass die erste menschliche Infektion mit SARS-CoV-2 von jemandem aus ihrem Team verursacht worden sein könnte, der sich das Virus entweder direkt im Labor oder draußen eingefangen hatte. Zwischen dem Beginn des Ausbruchs in Wuhan und den ersten Impfungen sei jedes Mitglied ihres Teams mehrfach auf virale Nukleinsäuren getestet worden, um eine laufende Infektionen oder Antikörper, die auf eine frühere Exposition hindeuten würden, festzustellen. "Niemand wurde positiv getestet", sagte sie. "Keiner von uns hat sich unter irgendwelchen Umständen mit Coronaviren infiziert, auch nicht bei der Probenahme von Fledermäusen im Feld." Daran erstaunt allerdings, dass SARS-CoV-2 in Wuhan zwischen Ausbruch und Start der Impfkampagne stark grassierte.

Neben Shis Kritikern gibt es auch viele Wissenschaftler, die sich bestürzt darüber zeigen, wie Shi und das Wuhan Institute of Virology in den Medien des Westens dargestellt wurden. Selbst diejenigen, die keine Verbindung zu Shi oder WIV haben – wie Robertson von der University of Glasgow und Rasmussen von der University of Saskatchewan – sahen die Berichterstattung zum Teil als geradezu "schockierend voreingenommen" an und spekulieren, dass sie zum Teil von geopolitischen Motiven oder zumindest tief verwurzelten Vorurteilen geleitet war.

Für China-Experten wie Joy Zhang, Soziologin an der University of Kent in Canterbury, Großbritannien, die sich auf chinesische Wissenschaftspolitik spezialisiert hat, ist es schwer, die spezifischen Anschuldigungen gegen Shi von "allgemeinen Verdächtigungen" gegenüber China zu trennen. Shi sei "ein Opfer des westlichen Misstrauens gegenüber China und gegenüber der chinesischen Wissenschaften", sagt sie.

Dieses Misstrauen kommt nicht selten vor. Filippa Lentzos, Biosicherheitsexpertin am King's College London, sagte mir im Februar letzten Jahres, es sei "einfach zu spät", um herauszufinden, was passiert sei, denn "alles, was sich zum Beispiel in den Gefrierschränken des Wuhan Institute of Virology befand", sei ausgeräumt worden, die Datensätze gesäubert oder bereinigt. Sie sagt, das sei auch jetzt noch ihre Ansicht. Shi selbst hält Behauptungen, ihr Labor würde problematische Datensätze vernichten (oder hätte das getan), hingegen für "unbegründet" und nennt solche Vowürfe "entsetzlich". Ihre Worte klingen hart: "Wenn es das ist, was die denken, dann können wir nichts tun, um sie vom Gegenteil zu überzeugen." Unrecht hat sie damit nicht: "Selbst wenn wir [den Kritikern] dann alle Aufzeichnungen geben, würden sie immer noch behaupten, wir hätten etwas versteckt oder die Beweise vernichtet." Doch an einer als generell empfundenen Intransparenz der chinesischen Seite ändert das nicht.

Doch einige im Westen stimmen Shi zu. "Ich bin ziemlich beunruhigt über Leute, die mit dieser Art von äußerst schwerwiegenden Anschuldigungen um sich werfen", sagte mir Nancy Connell, eine Mikrobiologin und Mitglied des "National Science Advisory Board for Biosecurity" der NIH, im Februar letzten Jahres, als sie noch für das Johns Hopkins Center for Health Security tätig war. "Das ist höchst unverantwortlich."

Aber selbst wenn die Labor-Theorie teilweise durch ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber China genährt wird, es gibt ein Glaubwürdigkeitsproblem des Landes – und zudem eine Reihe merkwürdiger Fehltritte, die dazu beitrugen.

An einem heißen Julinachmittag des Jahr 2021 begleitete ich Shi und ihr Team bei der Feldforschung. Wir befanden uns neben einer Fledermaushöhle in der Provinz Hubei. (Wo genau wird hier nicht genannt, da das Team kein unwillkommendes Medieninteresse möchte.) Die Dämmerung brach schnell herein und die Luft roch beißend und muffig, als wir uns hineinbegaben. Tausende von Hufeisenfledermäusen hingen an der Höhlendecke – ruhig, bewegungslos und in gleichmäßigen Abständen, wie Kampfjets auf einem Flugplatz, die auf ihren Startbefehl warten.

Um die Fledermäuse zu fangen, verwendeten die Forscher ein gigantisches Netz aus feinem Nylongewebe, das zwischen zwei Stangen aufgehängt war. Shi und Yang drückten die Stangen gegen den Höhleneingang und passten ihre Position so an, dass sie die Lücken zwischen dem Netz und dem Felsgestein abdeckten. Wir schalteten unsere Stirnlampen aus und warteten in der Dunkelheit. Augenblicke später ertönte ein Geräusch über uns, es war ein Flattern. Ein Schatten wirbelte durch die Luft und schoss in das Netz, wie ein Insekt, das in ein Spinnennetz fliegt. Die erste Fledermaus blieb darin hängen. "Jetzt geht's los", rief Shi. "Unser erster Fang!"

Die Höhle, die am Fuße eines üppig bewaldeten Hügels in einem kleinen Dorf liegt, ist Shis "Homebase". Sie nutzt sie für die Entnahme von Virusproben, die Ausbildung studentischer Mitarbeiter und die Entwicklung von Technologien, die die Bewegungen von Fledermäusen und die von ihnen übertragenen Krankheitserreger aufspüren sollen. Bisher wurden nur entfernte Verwandte bekannter Coronaviren gefunden; ihre Bedeutung ist unklar. (Bei Fledermäusen in einer anderen Höhle in Hubei wurden jedoch SARS-ähnliche Viren gefunden [57].) "Wir sammeln gerade die ersten Teile des Puzzles auf", sagte mir Shi. "Wir wissen nie, was die nächste Pandemie auslösen wird."

Und das Team arbeitet weiter an dieser Aufgabe. Die Pandemie hat einem Aspekt ihrer Forschung zusätzliche Dringlichkeit verliehen: die Ermittlung der Expositionsrisiken, denen die Landbevölkerung ausgesetzt ist. In früheren Studien fanden Shi und ihre Kollegen heraus, dass bis zu 4 Prozent der Menschen, die in Südchina in der Nähe von Fledermäusen leben [58] und eng mit Wildtieren arbeiten [59], mit gefährlichen, von Tieren übertragenen Viren, einschließlich Coronaviren, infiziert sind; bei Metzgern lag die Infektionsrate bei 9 Prozent. Das laotische und französische Team, das die nahen Verwandten von SARS-CoV-2 entdeckte, stellte fest, dass eine von fünf Personen, die direkten Kontakt zu Fledermäusen und anderen Wildtieren hatten, [60] Coronavirus-Antikörper aufwiesen.

Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich Viren, die eng mit SARS-CoV-2 verwandt sind, über ein riesiges geografisches Gebiet ausbreiten könnten, das sich über mindestens 4.800 Kilometer von Japan bis Kambodscha erstreckt. [61] Das Bevölkerungswachstum, der Handel mit Wildtieren, die fortschreitende Abholzung der Wälder und die Verbesserung der Transportmöglichkeiten in diesen Regionen haben dazu geführt, dass tierische Krankheitserreger immer leichter auf den Menschen übergehen können. Robertson, Virologe an der Universität Glasgow, hält dies für eine sichtbare und unmittelbare Bedrohung: "Es ist wirklich erschreckend, wenn man sich vorstellt, wie wir es unser Leben beeinträchtigen könnten, wenn wir nicht herausfinden, wo sich [diese Viren] befinden." Wir riskierten so neue Ausbrüche.

Viele Wissenschaftler sind der Meinung, dass China auf den Erkenntnissen der WHO-Mission aufbauen und eine langfristige Überwachung einrichten sollte, um zu verhindern, dass Viren von einer Art zur anderen überspringen. Vielleicht sollte man sich auf Farmen in Südchina konzentrieren, die Tiere für den Huanan-Markt in Wuhan lieferten – oder auf Tierarten, die bekanntermaßen anfällig für SARS-CoV-2 sind, wie Zibetkatzen, Nerze, Dachse, Marderhunde. Und natürlich auf die Menschen, die in der Nähe von Wildtieren leben oder im Tierhandel arbeiten. Dies würde nicht nur dazu beitragen, den Ursprung von COVID-19 zu ermitteln, sagt Fabian Leendertz, Experte für zoonotische Krankheiten und Gründungsdirektor des "One Health"-Helmholtz-Instituts in Greifswald, der an der WHO-Mission teilgenommen hat. "Es geht auch darum, das Risiko der nächsten Pandemie zu verringern", sagt er. "Es kann helfen, den Aufbau von Kapazitäten in ländlichen Gebieten zu stärken, die bislang vernachlässigt werden. Es sollte eine konzertierte globale Bemühung sein."

Eine solche internationale Zusammenarbeit mit China wird jedoch aufgrund der gegen das WIV erhobenen Vorwürfe immer unwahrscheinlicher. Einem WHO-Sprecher zufolge sind noch alle Hypothesen zur Virusherkunft offen. Die Theorie eines Laborlecks müsse weiter untersucht werden, möglicherweise mit zusätzlichen Missionen unter Beteiligung von Experten für Biosicherheit. Im November letzten Jahres hat die WHO eine Beratergruppe eingesetzt, die die Ursprünge von COVID-19 und künftigen Epidemien untersuchen und Studien über neu auftretende Krankheitserreger durchführen und leiten soll. Nach Angaben des Sprechers wird die Gruppe in den kommenden Wochen eine erste Reihe von Empfehlungen veröffentlichen.

Shi ist sich der kontroversen Natur ihrer Arbeit bewusst und stimmt zu, dass es dringend notwendig ist, die Aufsicht über riskante Forschung zu stärken. Sie begrüßt eine breitere gesellschaftliche Debatte über die Suche nach neuen Viren in freier Wildbahn und die Manipulation von Viren im Labor. Letztere wird von einigen Biosicherheitsexperten vehement abgelehnt. "Aber dafür muss man mich nicht ans Kreuz nageln", sagte sie mir.

Nachdem ich im vergangenen Jahr mit Dutzenden von Wissenschaftlern gesprochen habe, ist mir klar geworden, dass die Meinung der Menschen über die Lab-Leak-Theorie zum großen Teil davon abhängt, ob sie Shi glauben oder nicht. Einige Forscher unterstützen sie, zum Teil weil sie sie als Person kennen oder ihre Arbeit verstehen – oder weil sie bereit sind, sich mit der chaotischen Realität der Wissenschaften und Chinas mangelnder Transparenz abzufinden. Andere, möglicherweise getrieben von einem tieferen Misstrauen gegenüber China, äußern schwerwiegenden Bedenken hinsichtlich der Biosicherheit. Sie haben den starken Wunsch nach mehr Transparenz. Das führt dazu, dass sie fast jeden Beweis ablehnen, der Shi entlasten könnte – und sie betrachten alle Ungereimtheiten rund um das WIV als bewusste Versuche, ein Verbrechen zu vertuschen.

Es überrascht nicht, dass die Anschuldigungen auch persönliche Schmerzen bei der "Fledermausfrau" verursacht haben. "Ich bin auch nur ein Mensch", sagte Shi. "Haben sie mal darüber nachgedacht, wie es sich anfühlt, wenn man zu Unrecht beschuldigt wird, eine Pandemie ausgelöst zu haben, die Millionen von Menschen getötet hat?" Seit dem Beginn der Pandemie hat Shi zahlreiche beleidigende E-Mails und Telefonanrufe und natürlich auch Morddrohungen erhalten. Sie wurde als Lügnerin, Massenmörderin und Komplizin der Kommunistischen Partei Chinas bezeichnet (deren Mitglied sie aktuell nicht ist). Im Mai 2020 wurde fälschlicherweise gar behauptet, sie sei mit fast 1000 Geheimdokumenten nach Frankreich übergelaufen.

In Shis Büro, das ganz im Zeichen der Fledermaus steht, fragte ich sie, was die letzten zwei Jahre für sie bedeutet haben. Ihr mädchenhaftes Gesicht verfinsterte sich. "Ich kann es kaum ertragen, zurückzublicken", sagte sie und wandte ihren Kopf ab. Es folgte ein langes Schweigen. "Früher habe ich den Westen bewundert. Ich dachte immer, es sei eine gerechte und leistungsorientierte Gesellschaft. Ich dachte auch, es muss wunderbar sein, in einem Land zu leben, in dem jeder die Regierung kritisieren darf."

"Und was denken Sie jetzt?", hakte ich nach. "Jetzt denke ich nur, wenn man Chinese ist, spielt es keine Rolle, wie gut man in seinem Job ist – denn man wird nach seiner Nationalität beurteilt." Sie habe jetzt erkannt, dass westliche Demokratien "heuchlerisch" seien und "ein Großteil der Medien von Lügen, Vorurteilen und der Politik gesteuert" werde. Shi atmete scharf ein, ihr Körper spannte sich an und das Blut schoss ihr in die Wangen. "Sie haben für mich ihre moralische Überlegenheit verloren." Und wenn die Politik Wissenschaft verdränge, dann gebe es "keine Grundlage für eine Zusammenarbeit mehr".

Die englische Version dieses Beitrags wurde vom Pulitzer-Zentrum unterstützt. [62] Jane Qiu ist unabhängige Wissenschaftsjournalistin mit Sitz in Peking und eine ehemalige Knight Science Journalism Fellow am MIT.

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(bsc [64])


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[10] https://www.heise.de/hintergrund/Mit-Anti-Aging-Medikamenten-gegen-COVID-19-7099440.html
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[18] https://www.heise.de/hintergrund/Warum-die-US-Impfdaten-fuer-eine-COVID-Immunisierung-von-Kinder-sprechen-6236804.html
[19] https://www.heise.de/hintergrund/SARS-CoV-2-Wer-ist-die-Virus-Forscherin-im-Zentrum-der-Laborleck-Kontroverse-6371846.html
[20] https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/origins-of-the-virus
[21] https://www.cell.com/cell/fulltext/S0092-8674(21)00991-0?_returnURL=https%3A%2F%2Flinkinghub.elsevier.com%2Fretrieve%2Fpii%2FS0092867421009910%3Fshowall=true
[22] https://www.heise.de/hintergrund/Neue-Erkenntnisse-zum-Beginn-von-Corona-Experte-geht-nicht-von-Laborunfall-aus-6273684.html
[23] https://www.science.org/doi/10.1126/science.abj0016
[24] https://www.microbe.tv/twiv/twiv-766-letters/
[25] https://www.dni.gov/index.php/newsroom/reports-publications/reports-publications-2021/item/2263-declassified-assessment-on-covid-19-origins
[26] https://www.scientificamerican.com/article/how-chinas-bat-woman-hunted-down-viruses-from-sars-to-the-new-coronavirus1/
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[28] https://journals.plos.org/plospathogens/article?id=10.1371%2Fjournal.ppat.1006698
[29] https://www.nature.com/articles/s41467-020-20458-9
[30] https://www.nature.com/articles/nature12711
[31] https://journals.asm.org/doi/10.1128/JVI.02582-15
[32] https://journals.plos.org/plospathogens/article?id=10.1371%2Fjournal.ppat.1006698
[33] https://www.nature.com/articles/s41586-020-2951-z
[34] https://www.documentcloud.org/documents/20694207-canping-huang-phd-novel-virus-discovery-in-bat-isn-translation
[35] https://www.nature.com/articles/s41586-020-2951-z
[36] https://www.nature.com/articles/s41586-020-2951-z
[37] https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/22221751.2021.1956373
[38] https://www.nature.com/articles/s41586-020-2012-7
[39] https://www.nature.com/articles/s41586-020-2012-7
[40] https://www.science.org/doi/10.1126/science.abj0016
[41] https://www.nature.com/articles/s41586-020-2951-z
[42] https://www.cell.com/cell/fulltext/S0092-8674(21)00991-0?_returnURL=https%3A%2F%2Flinkinghub.elsevier.com%2Fretrieve%2Fpii%2FS0092867421009910%3Fshowall=true
[43] https://www.nature.com/articles/s41564-020-0771-4
[44] https://www.cell.com/cell/pdf/S0092-8674(21)00709-1.pdf
[45] https://wwwnc.cdc.gov/eid/article/26/12/20-3386_article
[46] https://www.nature.com/articles/s41467-021-21240-1
[47] https://www.nature.com/articles/s41467-021-26809-4
[48] https://assets.researchsquare.com/files/rs-871965/v1/986c09ca-d494-4a7c-a65b-9eec9c0a06b8.pdf
[49] https://www.nature.com/articles/nm.3985
[50] https://www.nature.com/articles/nature12711
[51] https://journals.plos.org/plospathogens/article?id=10.1371%2Fjournal.ppat.1006698
[52] https://theintercept.com/document/2021/09/08/understanding-risk-of-zoonotic-virus-emergence-in-emerging-infectious-disease-hotspots-of-southeast-asia/
[53] https://www.nature.com/articles/s41586-021-03594-0
[54] https://www.nih.gov/news-events/news-releases/niaid-issues-new-awards-fund-pan-coronavirus-vaccines
[55] https://www.washingtonpost.com/opinions/2020/04/14/state-department-cables-warned-safety-issues-wuhan-lab-studying-bat-coronaviruses/
[56] https://foia.state.gov/Search/Results.aspx?searchText=&beginDate=&endDate=&publishedBeginDate=20200716&publishedEndDate=20200716&caseNumber=
[57] https://www.science.org/doi/10.1126/science.1118391
[58] https://link.springer.com/article/10.1007/s12250-018-0012-7
[59] https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371%2Fjournal.pone.0194647
[60] https://www.thelancet.com/journals/lanwpc/article/PIIS2666-6065(21)00106-1/fulltext
[61] https://www.nature.com/articles/s41467-021-21240-1
[62] https://www.technologyreview.com/2022/02/09/1044985/shi-zhengli-covid-lab-leak-wuhan/
[63] https://www.heise.de/tr/
[64] mailto:bsc@heise.de