Studieren auf dem Online-Campus

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Einer der führenden Denker auf dem Gebiet des computerisierten Lernens ist der Philosoph David Kuntz aus New York. Im Jahr 1994 trat er eine Stelle beim Educational Testing Service an, einem gemeinnützigen Anbieter von Tests für die College-Zulassung in den USA. Der ETS wollte die immer leistungsfähiger werdenden Computer nutzen, um genauere Prüfungen zu entwerfen und sie effizienter auszuwerten. Kuntz und andere Philosophen wurden deshalb beauftragt, über große Fragen nachzudenken: Wie lässt sich mithilfe von Software Bedeutung erfassen, Lernen unterstützen und Verständnis evaluieren?

Vor drei Jahren wechselte Kuntz zu einem kleinen New Yorker Start-up namens Knewton, um dort den Forschungsbereich zu leiten. Die Firma entwickelt Tutorensysteme im Netz, die sich an die Bedürfnisse und Lernstile einzelner Studenten anpassen können. Lehrsoftware für Algebra zum Beispiel lässt sich so schreiben, dass darin unterschiedliche Lerntheorien berücksichtigt werden. Wenn dann viele Studenten das Programm durchlaufen haben, werden die Theorien überprüft und die Software gegebenenfalls verbessert. Je weiter die Datensammlungen wachsen, desto besser kann das System jedem Studenten zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Informationen in der richtigen Form präsentieren.

Durch den intensiven Einsatz von Datenanalysen und Techniken maschinellen Lernens, so sagt Kuntz voraus, werden die Lehrprogramme mehrere "Stufen der Anpassung" durchlaufen und sich dabei immer genauer auf die einzelnen Personen einstellen. So hängt zum Beispiel die Reihenfolge, in der ein Student Kursinhalte abarbeitet, von dessen Entscheidungen und Reaktionen ab. Wer dann etwa einen Fragenkatalog nicht überzeugend beantwortet, bekommt zusätzliche Informationen als Hilfe. "Jeder Student folgt einem eigenen Pfad", erklärt Kuntz.

Diese erste Anpassungsstufe ist heute schon weitgehend erreicht. In der nächsten soll dann das Material automatisch in der Form präsentiert werden, die für den jeweiligen Studenten am passendsten ist. Manche Menschen lernen besser, wenn sie Texte lesen, andere, wenn sie einer Vorführung zusehen, und wieder andere, wenn sie ein Spiel spielen. Indem Computer auswerten, wann ein Student schneller oder langsamer wird und wohin er klickt, erkennt das Programm seine Bedürfnisse. Es bietet daraufhin Material in einer Form an, die dem jeweiligen Studenten optimales Verstehen und Erinnern ermöglicht.

Weil bei kostenlosen Online-Kursen die Teilnehmerzahlen hoch liegen, kommen besonders große Datenmengen zusammen. Und genau die werden für effektives Maschinen-Lernen gebraucht. Coursera zum Beispiel hat seine Systeme auf umfassende Datensammlung und -analyse ausgelegt. Wann immer ein Student etwa bei einem Video auf "Pause" klickt, vorspult, eine Rätselfrage beantwortet, eine Hausarbeit korrigiert oder einen Kommentar in ein Forum schreibt, wird das in der Coursera-Datenbank gespeichert.

Das Lernverhalten der Studenten derartig detailliert zu erfassen, "öffnet uns einen ganz neuen Zugang, um Lernen besser zu verstehen", sagt Coursera-Mitgründerin Daphne Koller. So können etwa versteckte Muster, wie Studierende komplexe Zusammenhänge verstehen, aufgedeckt werden. Zugleich bekommen die Lehrkräfte regelmäßige Berichte darüber, was in ihren Kursen funktioniert und was nicht, so Koller weiter. Und indem sie die "wichtigsten Faktoren aufzeigt, die zum Erfolg führen", werde MOOC-Software irgendwann in der Lage sein, Studenten "den richtigen Weg" zu weisen.

Bei allem Enthusiasmus ist aber auch Skepsis angebracht. Die Fans von MOOCs haben eine "recht naive Vorstellung davon, was mit Analyse von großen Datensätzen möglich ist", sagt Timothy Burke, Historiker am Swarthmore College. Die Erwartungen an Fernunterricht seien schon immer enttäuscht worden – und zwar nicht aus technischen Gründen, sondern wegen "tiefer philosophischer Probleme". Online-Bildung eigne sich zwar für effiziente Schulung in Computer-Programmierung und anderen Feldern mit gut etablierten und in Software festschreibbaren Prozeduren. Das Wesen einer College-Ausbildung liege aber eher im subtilen Zusammenspiel zwischen Schülern und Lehrern, das sich nicht von Maschinen simulieren lässt.

Allerdings sagen nicht einmal die Entwickler und Förderer von MOOCs, dass Computer Hörsäle überflüssig machen werden. Sie glauben aber, dass Online-Unterricht die Art der Lehre auf dem Campus so beeinflussen könne, dass auch sie interessanter und effizienter wird. "Wir erfinden die Bildung neu. Das wird die Welt verändern", sagt MIT-Forscher Agarwal unbescheiden. Denn das traditionelle Unterrichtsmodell, bei dem Studenten in ihre Kurse gehen, dort zuhören und anschließend allein mit Hausarbeiten weitermachen, wird durch Online-Kurse auf den Kopf gestellt: Zunächst konsumieren die Studenten allein am Computer Vorlesungen und anderes erklärendes Material, dann erst kommen sie im Klassenzimmer zusammen, um das Thema in größerer Tiefe kennenzulernen – etwa in Gesprächen mit Lehrkräften oder bei Laborexperimenten. Theoretisch sollte sich in diesem Modell Lehrzeit gezielter einsetzen lassen, wovon Lehrkräfte wie Lernende profitieren.

Ein Grund zur Sorge sind jedoch auch die hohen Abbrecher-quoten. Von den 160000 Interessierten, die sich für Norvigs und Thruns KI-Kurs angemeldet hatten, blieben nur 14 Prozent bis zum Ende dabei. Ähnlich am MIT: Hier schrieben sich 155000 Studenten für den Online-Kurs über elektronische Schaltkreise ein, doch nur 23000 schlossen die erste Prüfung ab; ungefähr 5000 absolvierten den ganzen Kurs erfolgreich. Die hohe Abbrecherquote zeigt, wie schwierig es ist, Online-Lernende motiviert zu halten.

Die größte Sorge der Kritiker von MOOCs: Universitäten könnten Online-Elemente in den traditionellen Unterricht übernehmen, ohne sich vorher mit deren Nachteilen zu beschäftigen. Kurz vor der Gründung von Coursera passte Andrew Ng seinen Stanford-Kurs über maschinelles Lernen so an, dass auch Online-Studenten daran teilnehmen konnten; Tausende nutzten diese Möglichkeit. Aber mindestens einer der Vor-Ort-Studenten war nicht zufrieden damit. In seinem Blog beschwerte sich der Informatik-Student Ben Rudolph, dass der "akademische Anspruch" nicht dem Stanford-Standard entspreche. Computerisierte Hausaufgaben mit ihren automatischen und schnellen Hinweisen und Hilfen seien keine gute Methode dafür, "kritisches Denken" zu erlernen. Außerdem, so schrieb Rudolph, habe er sich isoliert gefühlt. Tatsache ist: Niemand kann wirklich wissen, wie die zunehmende Betonung von computerisierten Methoden die Dynamik des Campus-Lebens verändern wird.

Die Anführer der MOOC-Bewegung sind sich der Herausforderungen bewusst. Das Modell zu perfektionieren, sagt Agarwal, wird "raffinierte Erfindungen" auf vielen Gebieten erfordern, von der Bewertung eines Essays bis zum Erstellen von Zeugnissen. Je weiter Online-Kurse in den Bereich der offeneren, forschenden Geisteswissenschaften vordringen, in denen sich Wissen kaum kodifizieren lässt, desto schwieriger wird das ganze Vorhaben.

Ob massiv offene Kurse dem aktuellen Hype um sie herum gerecht werden können oder nicht, ist also noch offen. In jedem Fall aber werden sie College-Verwaltungen und Professoren dazu zwingen, viele ihrer Annahmen über Form und Bedeutung des Lehrens zu überdenken. Denn egal, was letztlich dabei herauskommt: Die umwälzende Kraft des Internets hat die akademische Welt erreicht. (bsc)